Juli 2009
Knapp 200 Seiten über Afrika, genauer: über Literatur aus Afrika – Erzählungen, Essays, Gedichte, Gespräche - versammelt das jüngste, von Markus Kessel zusammengestellte Heft der 1890 begründeten Neuen Rundschau. Es liefert zwar kein repräsentatives, aber doch ein einprägsames, gelegentlich sogar überraschendes Bild dieses in den Augen vieler Beobachter „verlorenen Kontinents“.
Zu Anfang kommen Geschichte und Tradition zu Wort, am Beispiel der nigerianischen Literatur, die vielleicht die bedeutendste in Schwarzafrika ist. Chinua Achebes Kurzgeschichte Mädchen im Krieg setzt sich psychologisch sensibel mit dem Biafra-Krieg auseinander, jenem blutigen Konflikt der Jahre 1967 bis 1970, der ausbrach, als die Igbo-Bevölkerung im Süden Nigerias sich vom islamischen Norden lossagte und ihre Unabhängigkeit erklärte. Damals gingen zum ersten Mal Bilder von hungernden und ermordeten Afrikanern um die Welt, Bürger desselben Landes, die einander aus unerfindlichen Gründen abschlachteten.
Auch die 1977 geborene Chimamanda Ngozi Adichie, eine Generation jünger als das große Vorbild Achebe, thematisiert in ihrem seit 2007 in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman Die Hälfte der Sonne den Biafra-Krieg. Es sind die traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern, sagt die Autorin in einem Interview, die in gewisser Weise zu eigenen wurden: „Wenn ich höre, was mein Vater durchgemacht hat, denke ich: Mein Gott, hätte ich das alles erleben müssen, wäre ich eine furchtbar verbitterte Frau. Ich hätte einen Zorn auf die ganze Welt, und schreiben könnte ich überhaupt nicht.“
Ein neuer, lockerer, cooler Ton ist in dieser jungen afrikanischen Literatur vernehmbar, der frische Wind nordamerikanischer Stories, etwa bei Helon Habila aus Nigeria oder Brian Chikwava aus Simbabwe, selbst wenn sie von grausigen Dingen berichten. Die Autoren entziehen sich dem Druck der älteren Generation, die sich verpflichtet sah, ständig gegen den Kolonialismus anzuschreiben, und den Weißen alle Schuld an den maroden Zuständen anlastete. Sie kommen zwar nicht umhin, Afrika gelegentlich als „Müllhalde“ und „Abfalleimer“ zu charakterisieren und sind doch stets bemüht, das allgegenwärtige Chaos zu ironisieren, die stereotypen Elendsbilder und Gewaltszenen zu umgehen. Das explizit Politische spielt – so jedenfalls mein Eindruck – keine so große Rolle mehr, auch die Kritik an den korrupten Herrschaftscliquen ist erkennbar rückläufig.
Die jungen afrikanischen Autoren, die in der Neuen Rundschau vorgestellt werden, stammen meist aus privilegierten Familien, sie verbringen zumindest die Hälfte des Jahres im Ausland, vor allem in den USA, wo sie studieren, wo sie ihre Bücher, natürlich auf Englisch, publizieren, und schauen von dort mit fremdem Blick auf ihr fernes armes Herkunftsland.
Im Gegenschnitt lässt sich jedoch eine Neigung zur Lokalität ausmachen, zur konkreten Örtlichkeit etwa der Megacity Lagos, oder wir folgen einer Kleinbusfahrt durch das literarische Kapstadt. Susan Kiguli aus Uganda strebt, zumindest in ihren Gedichten, nach Hause: „Ich tauche ein in Daheim / Sause über die launischen Wasser unserer Bucht.“ Die Liebe zum Geburtsland ist unüberhörbar. Auch Binyavanga Wainaina erzählt in Tagebuchform von seiner Rückkehr in die Heimat Kenia und einem Besuch zum 60. Hochzeitstag der Großeltern an Weihnachten 1995 in Uganda, wo sich - ein Jahr nach dem Völkermord im benachbarten Ruanda - die in alle Welt zerstreuten Familienmitglieder wieder treffen. „Und bald sind alle am Heulen.“
Diesem Genozid, bei dem etwa eine Million Menschen, Tutsi vor allem, von der Hutu-Mehrheit umgebracht wurden, widmen sich zwei Beiträge. Uwem Akpans Erzählung Das Schlafzimmer meiner Eltern wirft uns mitten hinein in die Ereignisse von 1994, indem der Autor die Tragödie aus der Perspektive eines Kindes, eines Mädchens zumal, schildert, und zwar als grausiges Familiendrama, innerhalb einer „Mischehe“. Fünfzehn Jahre nach dem Massaker zählt Abdourahman A. Waberi die Erfolge auf, die seit 1994 zu verzeichnen sind. Paul Kagame, der als autoritär geltende Präsident, ein Tutsi, habe ein Ruanda geschaffen, „das wieder allen seinen Kindern zugänglich ist.“ Die Hauptstadt Kigali blühe und gedeihe und sei dabei, „zum Treffpunkt der Macher und Philanthropen zu werden.“ Man habe sogar eine Gedenkstätte errichtet, in deren Untergeschoß die Leichen von 250 000 Menschen liegen, die in der Region getötet wurden.
Man würde solchen Schilderungen kaum Glauben schenken, käme nicht ein langer Aufsatz im jüngsten Heft von Lettre International fast zum gleichen Ergebnis. Der amerikanische Journalist Philip Gourevitch, der seit 1995 das Land wiederholt bereist hat, konstatiert: „Am 15. Jahrestag des Völkermords ist Ruanda eines der sichersten und geordnetsten Länder Afrikas.“ Das Brutto-Inlandsprodukt habe sich verdreifacht, das Gesundheits- und das Bildungssystem ständig verbessert. Ruanda sei die einzige Nation, in der Hunderttausende Menschen, die am Massenmord beteilig waren, „sich in jeder Gesellschaftsschicht unter die Familien ihrer Opfer gemischt haben.“
Zu verdanken ist dieser Versöhnungsprozess in erster Linie dem heute 51jährigen Präsidenten Kagame, der im Exil in Uganda aufwuchs. Nach seiner Machtübernahme schuf er ein System aus öffentlich tagenden Gerichten, die für Völkermordfälle zusammengerufen wurden. Wer seine Taten gestand und seine Opfer und deren Verwandte um Vergebung bat, durfte auf Wiedereingliederung hoffen, was bei den Überlebenden nicht immer auf Zustimmung stieß: „Im Radio reden sie dauernd von Aussöhnung, aber das bringt mir meine Familie nicht zurück.“ Ohne Kagame, heißt es manchmal, könnte der Völkermord jederzeit wieder aufflammen. Vielleicht würden diesmal die Tutsi an den Hutu Rache nehmen.
Im jüngsten Heft der Akzente wird an Olaf H. Hauge erinnert, der als einer der bedeutendsten norwegischen Dichter in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt, bei uns jedoch kaum bekannt ist. Er starb mit 86 Jahren in Ulvik, einem Dorf, dessen Bewohner hauptsächlich vom Obstbau leben. Dort hat Hauge, Sohn eines Bauern, sein Dasein verbracht und seinen Unterhalt aus dem Erlös einer kleinen Obstplantage bestritten. Nebenher schrieb er Gedichte und brachte sich selbst Englisch, Französisch und Deutsch bei - Sprachen, aus denen er auch übersetzte.
Mit Sechzehn begann er, ein Tagebuch zu führen. Unterbrochen wurden die Aufzeichnungen nur in den Jahren seines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik (wegen Schizophrenie). Hauges Tagebücher räumen – so Klaus Anders in einem begleitenden Essay – mit dem Bild vom weisen Arbeitsmann auf, der brav seinen Garten bestellte und darüber hinaus Gedichte schrieb, die so einfach wie Äpfel waren. Zu Tage tritt ein komplexer, unsystematischer, oft konfuser Geist, mal naiv, dann wieder mit tiefen Einsichten in das verborgene Reich der Träume, des Wahns und des Schreibens; ein sehr belesener Mann, der mit widrigen Umständen fertig werden musste. Den „Romantikern“ Nerval und Hölderlin und besonders dem Dichter und Gärtner Michael Hamburger fühlte er sich verwandt. „In den Jahren, in denen ich wirklich ein Geistesleben führte, nannten sie mich krank und sperrten mich ein. Ich erinnere mich, dass ich da manchmal fand, ich sollte die ganze Nacht wach bleiben, um bei dem, was vor sich ging, dabei zu sein. Die Nacht war voll Stimmen und Signalen. Ein großes Gespräch ging im Reich des Geistes vor sich.“
Auf die 1955 begründete Literaturzeitschrift die horen könnten wir nur schwer verzichten. Ihr wohl größter Vorzug besteht darin, dass sich ihre Redakteure von Buchmessen-Aktualitäten und Feuilleton-Neuigkeiten kaum beeindrucken lassen. Man ist vielmehr bemüht, in Vergessen Geratenes wieder aufzuspüren, in Literaturgeschichten Eingesargtes neu zu sichten, etwa den Dichter und Kalendermann Johann Peter Hebel, der aus den Lesebüchern verschwunden ist. Man würdigt auch weniger prominente Gegenwartsautoren mit Umsicht. Und im Rezensionsteil werden noch zwei, drei Jahre alte Bücher besprochen, um die sich kein Feuilleton mehr schert.
Im jüngsten, rund 250 Seiten starken Band werden von Geoffrey Chaucer bis Victor Otto Stomps Autoren vorgestellt, die aus unserem Bewusstsein zu fallen drohen. Leider neigen die horen-Schreiber in ihrer Entdeckerfreude manchmal dazu, etwas zuviel des Guten zu tun. So heißt es etwa von dem Sturm und Drang-Rebellen, Dichter, Journalisten und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart, er wirke nach mehr als zwei Jahrhunderten noch immer so, als sei er „unser Zeitgenosse“. Das stimmt so nicht, selbst wenn Sentenzen wie die folgende es nahe legen: „Unter allen kriechenden Kreaturen des Erdbodens ist der Zeitungsschreiber die kriechendste. Wie er da mit kindischer Bewunderung den Pomp der Großen anstaunt!“
So verdienstvoll es von Jens Prüss auch ist, ausführlich an Schubarts Leben und Werk zu erinnern, so fragwürdig erscheinen mir seine Aktualisierungsversuche: Schubart habe das Zeug zum „Rockstar“ gehabt, er sei ein „Popliterat“ gewesen, ein „Entertainer“, ein „Anarchist“… Und flugs wird die Festung Hohenasperg, auf der Schubart zehn Jahre eingekerkert war, zum „Guantanamo des 18. Jahrhunderts“ befördert. Ganz abwegig schließlich der Vergleich des gegen die Feudalwillkür auflöckenden und von ihr gebrochenen, bieder patriotischen Schwaben mit jenem Khaled el-Masri, der als Randfigur der Neu-Ulmer Islamisten-Szene in die Fänge der Geheimdienste geriet. Abwegig auch deshalb, weil so die historische Figur des hedonistischen Rokokomenschen, „Fürstenschrecks“ und „Originalgenies“, die mit ganz anderen (und erheblich härteren) Bedingungen zu kämpfen hatte, fast aus dem Blick gerät. Was derzeit als „Zivilcourage“ gehätschelt wird, das „offene Wort“, konnte einen um 1780 leicht Freiheit und Leben kosten.
Neue Rundschau: Heft 2, 2009
Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main, 12,- €.
Lettre International: Nr. 85, Herbst 2009
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 11,- €
Akzente: Heft 3, Juni 2009
Postfach 86 04 20, 81631 München, 7,90 €
die horen: Nr. 234, 2009
Postfach 10 11 10, 27511 Bremerhaven), 12,50 €.
Michael Buselmeier 14.07.2009
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Juli 2009
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Michael Buselmeier
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