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November 2010
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Zeitschriftenlese  –  November 2010
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch

Als Christoph Schlingensief am 21. August dieses Jahres im Alter von 49 Jahren an Lungenkrebs starb, war in den Medien fast so etwas wie Staatstrauer angesagt. Politiker und Künstler aller Sparten meldeten sich ergriffen zu Wort; kaum einer wollte zurückstehen. Immerhin hatte der Kulturbetrieb einen seiner Hauptakteure verloren, einen Superstar, vergleichbar nur noch mit Joseph Beuys oder Andy Warhol. Aus dem Experimentalfilmer und Theaterprovokateur, dem umstrittenen Opernregisseur und Kunstaktionisten war schon zu Lebzeiten eine Art Heiliger geworden, dem durch sein öffentliches Sterben die Sympathien zuflogen. Selbst seine im Bundestagswahlkampf 1998 an alle vier Millionen Arbeitslose ergangene Aufforderung, gleichzeitig in den Wolfgangsee zu springen, um dadurch Helmut Kohls Urlaubshaus zu fluten, hatte man ihm verziehen.

Im Herbstheft der Zeitschrift Lettre International äußert sich der Philosoph Boris Groys pointiert zu Schlingensiefs Arbeiten. Er geht davon aus, dass jeder Künstler seine Ausdrucksmittel beherrschen muss, umso mehr ein Regisseur, der nicht nur im Theater inszeniert, sondern auch Filme macht, Performances organisiert und Installationen baut. Doch die „Verwandlung der Welt in die eigene Botschaft“ könne nie vollkommen gelingen, und Machtlosigkeit breite sich aus angesichts des „Versagens der Sprache.“ Speziell bei Schlingensief schafften Krankheit und Tod, so Groys, einen Ausnahmezustand, der die Sprache erstarren, versteinern lasse. Der Universalkünstler habe jedoch den Mut gehabt, den durch die Krankheit hervorgerufenen Zustand in seinen letzten Arbeiten zum Thema seiner Kunst zu machen.

Für Boris Groys steht die Kunstpraxis Schlingensiefs in der Tradition von Dada und Fluxus. Beide Richtungen hätten sich zum Ziel gesetzt, Situationen herbeizuführen, in denen die Sprache versagt, indem etwa der Sinn der einzelnen Sätze als pure Klangmasse im Lärm untergeht. Wie einige der radikalsten Dadaisten, etwa Hugo Ball, habe sich auch Schlingensief gegen Ende der Religion zugewandt, was nicht allein mit seiner Krebserkrankung zu erklären sei. Schlingensief selbst führte den Ursprung seiner Krankheit auf seine intensive Beschäftigung mit Richard Wagners Parsifal zurück. Sein Körper sei von der dieser Musik innewohnenden Todessehnsucht infiziert worden. So verliere die Krankheit, meint Groys, ihren weltlichen Grund und werde „zur Folge einer Einwirkung der Kunst“ auf den Körper. Bei Schlingensief werde die Kunst „endgültig zur Religion – und zwar gerade dadurch, dass sie keine Religion außer sich“ mehr brauche.

Ebenfalls in Lettre hält der fast 90jährige Georg Stefan Troller ein hoch emotionales Plädoyer für die Kunst des Dokumentarfilms, der ja nichts anderes sei als „eine Fortsetzung des Spielfilms mit anderen Mitteln.“ Nach dem „Ende der Spaßgesellschaft“, von dem Troller überzeugt ist, werde man auch zum echten Dokumentarfilm zurückkehren, der zwar eine größere Nähe zur Realität habe als andere Kunstformen, doch ebenso „künstlich“, „gemacht“ und „gebosselt“ sei. Dabei ist der Text, der informierende Kommentar, für Troller unverzichtbar, allerdings müsse er mit dem Bild fusionieren, mit ihm eins werden. Auch das Bild sei eine Art Sprache, mit Bildern lasse sich ein Spannungsbogen beschreiben, eine Ablauffolge, jedoch „keine Illustration vorgegebener Thesen.“ Vielmehr sei Überraschung angesagt, Verblüffung des Zuschauers.

Dass Literatur ein Mittel sein kann, Angst zu verarbeiten, dass sie beim Leser aber auch Angst auslösen kann, ist bekannt. Überhaupt ist Angst ein weit gefächertes, vielfach bearbeitetes und leicht ausuferndes Thema, mit dem jeder etwas zu tun hat. Angst ist obendrein zu einem Hauptwort der einst so unerschrockenen Deutschen geworden. Irgendwie meint man alles schon zu kennen, was die Germanisten-Zeitschrift Kritische Ausgabe in ihrer jüngsten Nummer unter der Überschrift „Angst“ versammelt: brave Aufsätze von Studenten und Dozenten, die an die leibhaftigen Ängste, die einem zusetzen können, nicht heranreichen. Etwa die Angst vorm Erblinden in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, wobei die Prosa des Dichters natürlich ungleich effektvoller und grausiger ist als die bemühten Ausführungen von Katharina Rein.

Von ganz anderer Art war Thomas Bernhards „Angst“, von seinem Verleger Siegfried Unseld finanziell übervorteilt zu werden, nachlesbar im Briefwechsel der beiden. Es wird im Heft auch berichtet von Heinrich Heines Angstträumen, von Gottfried Benns Modellierung der Angst in den frühen Rönne-Novellen, aber auch von Zombie-Filmen, Horror- und Science-Fiction-Romanen.

Die seit 1991 von Karl-Markus Gauß geleitete Zeitschrift Literatur und Kritik kümmert sich fünfmal pro Jahr vorrangig um öster­reichische Kulturbelange, während die einleitenden „Kulturbriefe“ die internationale Welt in den Blick rücken. Im gelungenen Septemberheft findet man einen Aufsatz über Franz Werfels berühmtesten, doch wenig gelesenen Roman Die 40 Tage des Musa Dagh, der vom Massenmord der Türken an den Armeniern handelt, sowie einen Beitrag über den Volksdramatiker und Erzähler Ludwig Anzengruber, dessen einst viel gespielte Komödien Der Pfarrer von Kirchfeld und Die Kreuzelschreiber wohl außerhalb Österreichs keiner mehr kennt. Auch sein trostreicher Ausspruch „Es kann dir nix g'schehn!“ dürfte vergessen sein.

Das von Andrea Grill verantwortete Dossier lautet diesmal „Tier­mensch, Menschen­tier“ – auch so ein ufer­loses Thema. Die einge­ladenen Autoren berichten auf die unter­schied­lichste Weise vor allem von Begeg­nungen mit Hunden, Katzen und Vögeln, wobei die Österreicher, so Wolfgang Hermann, am liebsten in Gesellschaft von erge­benen Hunden leben. Über sprechende Papageien bei Alexander von Humboldt und Casanova referiert anregend Thomas Schmuck. In seinen Ansichten der Natur von 1808 erwähnt Humboldt den unter­gegangenen Indianerstamm der Aturer. Es lebe dort, schreibt er, ein alter Papagei, von dem „die Einheimischen behaupten, dass man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der Aturer rede.“ Langlebigkeit und Sprachtalent der Papageien lassen diese Legende nicht ganz unglaub­würdig erscheinen.

Anders als für Casanova, der eine junge Lebedame, die sich ihm ver­weigerte, durch den Schnabel eines Papageis als „eine noch größere Hure als ihre Mutter“ öffentlich ausrufen ließ, spielten Frauen im Leben Humboldts kaum eine Rolle. Er lebte allein mit Büchern, Karten und Instru­menten, teilte die Wohnung jedoch mit einem Raben­papagei namens Jakob, mit dem er sich auch unterhielt. Er hatte ihn nicht aus den Tropen mitgebracht, sondern von Herzog Carl August von Weimar geschenkt bekommen. In einem Brief vom Mai 1859 beklagte der 89jährige den Tod dieses Papageis, der ihn über 30 Jahre begleitet hatte. Er ließ Jakob präparieren und schenkte ihn dem Berliner Museum für Naturkunde, wo er noch immer zu besichtigen sein soll.

Derart gelungene Tier-Mensch-Geschichten sind eher selten. Vielleicht sollte ich noch auf den Beitrag von Peter Iwaniewicz hinweisen, der vom Mistkäfer, dem Skarabäus der alten Ägypter berichtet, dem „heiligen Pillen­dreher“, dem auch das Interesse des großen Insekten­for­schers Jean-Henri Fabre galt. Iwaniewicz behauptet: „Ohne koprophage, also kot­fressende Kerbtiere würde die Erde bald in den Abfallprodukten ihrer Bewohner versinken.“ Manche dieser spezialisierten Insekten könnten nämlich die Kotmenge von eineinhalb Kilo innerhalb eines Tages in den Boden einarbeiten.

Die Zeitschrift Gegenstrophe, eigent­lich ein Jahrbuch, ist zum zweiten Mal erschie­nen. Sie versteht sich als Forum für Lyrik und Lyrik­rezeption. Die zweite Ausgabe kommt mir etwas schwächer als die erste vor, vielleicht liegt es an der geringeren Aktualität der Essays, vielleicht auch daran, dass der Mittel­punkt des ersten Bandes, die Dokumentation der Verleihung des Hölty-Preises für Lyrik, diesmal fehlt, da die Auszeichnung nur alle zwei Jahre vergeben wird.

Unter den jüngeren, noch unbekannten Lyrikern, deren Texte den Band eröffnen, fällt Ulrich Koch auf mit tiefen Kind­heits­bildern, die von den Schrecken der Einsam­keit künden. Ich zitiere das Gedicht Die feinere Zeit:

„Wenn der Sand durch den
Mund gelaufen ist, beginnt
die feinere Zeit.
Manchmal bleibt dann das
Kind stehen und lauscht seinen
eigenen Schritten.
Und das leere Hemd
wird vom Kleiderbügel auf
Schultern getragen.“


Unter der Rubrik „Porträt“ werden Autoren vor­gestellt, die auf dem Lyrik­fest in Han­nover gelesen haben. Auch hier handelt es sich um jüngere Schriftsteller, denen ein „nie da gewesener Bruch mit der literarischen Tradition“ zugeschrieben wird, wovon bei nüch­terner Betrach­tung nicht viel übrig bleibt. Denn die Gedichte von Gerhard Falkner oder Ulrike Almut Sandig weichen von denen ihrer Vorgänger stilistisch kaum ab.

Die zu Sprachexperimenten neigende Anja Utler macht sich Gedanken über Akustik und Schrift. Es gebe den „Text als Hörbares“ und den „Text als Sichtbares“. Doch „die beiden Gestalten des Textes“ seien untereinander verschränkt: „In der einen bleibt die andere als Abwesenheit spürbar.“

Der zentrale Essay stammt diesmal von dem Lyriker, Übersetzer und Anthologisten Hans Thill, auch er ein Mitstreiter der Avantgarden, der (Spät-)Surrealisten und kühnen Sprachbastler. Seine Textur ist offen und assoziativ, allerlei herbei zitierend, ein tastender Versuch, im höheren Interesse der Poesie sämtliche Spielarten zu Wort kommen zu lassen, mithin ein Plädoyer für die Unterschiedlichkeit der lyrischen Ansätze. Nicht nur das Sprachexperiment, auch der magische Text oder das Naturgedicht erhalten ihren Platz im Kosmos der Gegenwart. Das Gedicht, schreibt Thill, ist ein „Produkt des Eigensinns.“ Es komme auf das an, „was ich nicht weiß. Ich bevorzuge Formen, in denen die Sprache weiterarbeitet.“

Lettre International: Nr. 90, Herbst 2010   externer Link
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11,- €

Kritische Ausgabe: Nr. 19, 2010   externer Link  
Institut für Germanistik, Rheinische Friedrich Wilhelms-Universität, Am Hof 1d, 53113 Bonn), 5,- €

Literatur und Kritik: Nr. 447/448, September 2010  externer Link  
Ernest Thun-Straße 11, A-5020 Salzburg, 9,- €

Gegenstrophe: Nr. 2, 2010  externer Link
Literaturhaus Hannover, Sophienstr. 2, 30159 Hannover, 12,80 €

Michael Buselmeier   24.11.2010     Druckansicht    Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht   

 

 
Michael Buselmeier
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