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Januar 2016
Volltext, das Wiener Organ für Gegenwartsliteratur, das seit 2002 viermal pro Jahr im Zeitungsformat erscheint, hat mit der jüngsten Ausgabe sein Erscheinungsbild verändert und gleicht nun, im Hochformat, broschiert, den meisten anderen Zeitschriften. Die Qualität hat darunter nicht gelitten. Volltext ist nach wie vor eine dichte und höchst lebendige Zeitschrift mit sehr unterschiedlichen Gegenständen und Formen, hat sich also nicht, wie zuletzt die Akzente, auf ein einziges Heftthema zurückgezogen.
In der jüngsten Ausgabe erinnert Alban Nikolai Herbst an den vergessenen Schriftsteller Heinrich Schirmbeck, der im Jahr 2005 mit 90 Jahren in Darmstadt starb. In seinen Essays und Erzählungen verband er literarische und moralische mit naturwissenschaftlichen Themen. Sein Hauptwerk „Ärgert dich dein rechtes Auge“ erschien 1957 und wurde vor allem in der US-amerikanischen Übersetzung als anspruchsvollster Roman seit Thomas Manns „Doktor Faustus“ gefeiert. Angesichts der Fortschritte in der Atomphysik stellte Schirmbeck die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers. Fast als einziger habe er, so Herbst, die mathematischen Wissenschaften als das begriffen, „was sie für unsere Lebenswelten objektiv sind“, er sei jedoch – von Höllerer und der Gruppe 47 ignoriert – zu einem störrischen Außenseiter geworden.
Raimund Fellinger urteilt (ebenfalls in Volltext) harsch über Manfred Mittermayers neue Thomas Bernhard-Biographie; sie biete „in ihrer Banalität“ und „inhaltlichen Dürftigkeit“ nur „Tertiäres“ und Altbekanntes. Andreas Maier telefoniert lange mit dem Endlos-Erzähler Peter Kurzeck, der sich seit 2013 „im Himmelreich“ aufhält und dort als Engel emsig weiterschreibt. Dazu bringt Volltext neue Geschichten von Alexander Kluge und einen Essay von Brigitte Kronauer über „wirkliches Leben und Literatur“.
Im Zentrum des Heftes berichtet Felix Philipp Ingold über Georges Simenon und seine mit ihm symbiotisch verbundene Tochter Marie-Jo. Der Großschriftsteller Simenon hat, so liest man, „das wohl umfangreichste Œuvre der neuzeitlichen Erzählliteratur geschaffen.“ In rascher Folge sind Abenteuer-, Kriminal-, Liebes- und Groschenromane entstanden, ferner Kurzgeschichten, Kolumnen, Reise- und Erinnerungsberichte, die in deutscher Sprache 218 Bände umfassen. Er war ein belgischer Lebemann und zugleich ein Familienmensch, der nach eigenem Bekunden nicht nur Hunderte von Romanen geschrieben, sondern auch Tausende von Frauen besessen haben will.
Der einzigen, 1953 geborenen Tochter gab Simenon seinen eigenen Vornamen: Georges, offiziell durch einen weiblichen Namen ergänzt, also Marie-Georges, kurz: Marie-Jo genannt. Sie entwickelte schon als kleines Mädchen ein inniges Verhältnis zu ihrem Vater, das sich „mit der Pubertät zu einer Liebesbeziehung besonderer Art“ wandelte. Statt sie in ihrem Liebeswahn abzuweisen, verwöhnte er sie maßlos. Mit 25 Jahren nahm sich Marie-Jo, die zeitweise wegen Depressionen und Suizidgefährdung interniert werden musste, „mit einem Schuss ins Herz“ das Leben.
Laut Ingold hatte sie „zahlreiche Talente“, konzentrierte sich aber fatalerweise auf das Schreiben, wo sie mit ihrem als „Gott“ verehrten Vater konkurrierte. Sie schrieb Tagebuch, verfasste autobiographisch grundierte Kurzgeschichten und Chanson-Texte sowie zahlreiche Briefe „von hoher literarischer Qualität“, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Georges Simenon hat ihre Arbeiten später aufbereitet und 1981 zugänglich gemacht als Teil seiner „Intimen Memoiren“. So blieb die Tochter, wie Ingold zu Recht anmerkt, auch postum „in totaler Abhängigkeit vom präpotenten Vater.“ Marie-Jo sei eine Autorin mit „unverwechselbarer Stimme“ gewesen und – anders als ihr berühmter, vielschreibender Vater – „mit hohem Stilbewusstsein“ begabt.
Aus dem Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und seinem verständnisreichen Freund und Bewunderer, dem Bremer Großkaufmann und Juristen Friedrich Wilhelm Oelze, publiziert Sinn und Form Briefe aus dem Jahr 1945; die gesamte Korrespondenz wird im Frühjahr im Wallstein Verlag herauskommen. Oelze hing, wie Matthias Weichelt in seiner Vorbemerkung betont, „dem Geist, der Kunst, dem Schöpferischen“ an; er wollte „teilhaben an der Sphäre der Dichter und Denker.“ Als er 1977 die an ihn gerichteten Briefe Benns zur Veröffentlichung freigab, ließ er aus übergroßer Bescheidenheit die seinen weg. Anhand der nun bei Wallstein erscheinenden Edition kann man „die 24 Jahre währende Korrespondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprünglich war: als intensives, forderndes, mit kaum nachlassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grundverschiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister.“
Benn hatte das Glück, so Weichelt, „in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben“, der nach dem Krieg auch sein publizistischer Berater wurde. Die Freundschaft entwickelte sich immer enger und schloss auch das Privateste mit ein, obwohl man zeitlebens beim „Sie“ blieb. Im Mittelpunkt stand stets Benns Werk.
Oelzes Briefe sind, wie man nun sieht, subtil formuliert; sehr intellektuell und zugleich dem Freund sensibel zugewandt, auch tröstend angesichts der Selbsttötung von Benns Frau Herta im Juli 1945. Immer wieder erinnert Oelze den melancholischen Dichter an seine „Aufgabe“, sein Werk. Er zitiert aus den noch ungedruckten Manuskripten (zum Beispiel aus dem „Roman des Phänotyp“), die während des Krieges bei ihm ausgelagert waren, und versucht sie zu deuten, lobt sie, muntert Benn auf: „Ich denke, dass die große Periode Ihrer öffentlichen Anerkennung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird“, womit der goldrichtig lag.
Außerdem in Sinn und Form eine Liebeserklärung des Weimarer Lyrikers Wulf Kirsten an die Deutsche Bücherei zu Leipzig. Sie sei in den 50er und 60er Jahren ein „Bildungsort für Selbsthelfer“ wie ihn gewesen, eine „Schatzkammer“, ein „Nährboden meiner geistigen Lebensform“, rundum „ein Glücksfall in meiner Biographie.“ Eine Bibliothek, in der der lesehungrige Benutzer zwar nicht „alle“ Bücher vorfand, aber doch immerhin diejenigen, die ab 1913 in deutscher Sprache erschienen waren.
Der Autodidakt Kirsten, der 1957 vom Land, ja vom Dorf kam, um an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Leipzig zu studieren, begeisterte sich besonders für den damals noch gar nicht wiederentdeckten Expressionismus, für so bedeutsame Zeitschriften wie Franz Pfemferts Aktion und Herwarth Waldens Sturm, die bis 1960 in West wie Ost regelrecht verschüttet waren, und er nahm Kontakt zu wichtigen Expressionismus-Forschern wie Paul Raabe in Marbach auf, die ihm weiterhalfen. Er hörte Vorlesungen von Hans Mayer, las früh die Zeitschrift Sinn und Form, bewunderte deren Chefredakteur, den „Wortarbeiter“ Peter Huchel, der ihm zum Vorbild wurde.
Eisern saß der „Bücherfresser“ bis 22 Uhr in einem der vier Lesesäle der Deutschen Bücherei, entdeckte unter den Zeitschriften sogar den Spiegel, aber auch die Akzente, die er fortan regelmäßig las, auch Gedichtbände und Anthologien, die ihn mit der literarischen Situation in der Bundesrepublik vertraut machten. Und er studierte die kostbare Sammlung der Exilliteratur, die sich im Leipziger „Giftschrank“ befand, die also nur wenige einsehen durften. Wenn es heute eines Plädoyers für die Notwendigkeit großer Büchersammlungen bedarf – hier liegt es vor.
Ein Gegenstand, der Bücherverrückte seit je beschäftigt, ist der „Fall Stieglitz“, der hierzulande zuletzt vor rund drei Jahrzehnten im feministischen Kontext breiter diskutiert wurde. Es geht hierbei um den braven Lyriker Heinrich Stieglitz, dessen genialisch-überspannte Gattin Charlotte sich für ihn und die erhoffte Wiederkehr seiner Produktivität „opferte“, indem sie sich im Dezember 1834 ein Messer in die Brust stieß. Die Tiefe des Schmerzes sollte ihn in seiner Melancholie aufrütteln und zum „weltumfassenden Poeten“ schmieden. Doch der Freitod seiner (natürlich ebenfalls dichtenden) Ehefrau beflügelte seine Schaffenskraft kaum, erregte aber in ganz Deutschland Aufsehen. Für Jungdeutsche Autoren wie Theodor Mundt und Karl Gutzkow war Charlotte Stieglitz eine „Heilige“, die sie in Prosaschriften verklärten, eine Art Seitenstück zu Werther.
Im jüngsten Heft der Marginalien, einer höchst lesenswerten „Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie“, findet sich auch ein Aufsatz über Heinrich Stieglitz: „Der Dichter als Ethnologe“. Bernd-Ingo Friedrich wagt einen Rettungsversuch. Man finde, meint er, „nicht leicht einen Dichter, der ungerechter bewertet worden ist“ als eben Stieglitz, dem Literarhistoriker „geringe poetische Begabung, schwachen Willen und gar keine Tatkraft“ zugeschrieben hätten. Sein Werk sei „regelrecht vernichtet“ worden. In Wahrheit habe Stieglitz deutliche Spuren hinterlassen in Form von Reisebeschreibungen und Gedichten in Anthologien der Zeit, Gedichte, die auch reichlich vertont wurden. Bereits mit seinem vierteiligen Gedichtband „Bilder des Orients“ (1831 bis 1833) habe sich Stieglitz einen Namen gemacht; selbst Goethe habe diese Verse bewundert. Doch „widrige Lebensumstände und eine nicht näher bezeichnete schwere Krankheit“ hätten zu dem fatalen Ende geführt, wobei Charlotte sich das Leben nahm. Möglicherweise war ja Impotenz im Spiel …
Stieglitz verließ danach Berlin und verbrachte die letzten elf Jahre seines Lebens vor allem in Venedig, wo er 1849 an der Cholera starb. Er unternahm noch ausgedehnte Wanderungen und Reisen, interessierte sich für fremde Völker und Kulturen, schrieb als erster Deutscher eine Reportage über Montenegro. Seine Schrift „Ein Besuch auf Montenegro“ erschien im Cotta'schen Verlag in Stuttgart 1841.
Volltext : Nr. 4, 2015
(Goldschlagstraße 78/22, A-1150 Wien), 5,90 €.
Sinn und Form: Heft 1, 2016
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,- €.
Marginalien: Heft 3, 2015
(Eschengraben 24, 13189 Berlin), 12,- €.
Michael Buselmeier 14.01.2016
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Michael Buselmeier
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