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Januar 2016
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Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Volltext, das Wiener Organ für Gegen­warts­literatur, das seit 2002 viermal pro Jahr im Zeitungs­format erscheint, hat mit der jüngsten Ausgabe sein Er­scheinungs­bild ver­ändert und gleicht nun, im Hoch­format, bro­schiert, den meisten anderen Zeit­schriften. Die Qualität hat darunter nicht gelitten. Volltext ist nach wie vor eine dichte und höchst leben­dige Zeitschrift mit sehr unter­schied­lichen Gegen­ständen und Formen, hat sich also nicht, wie zuletzt die Akzente, auf ein ein­ziges Heft­thema zurück­gezogen.
  In der jüngsten Ausgabe erinnert Alban Nikolai Herbst an den vergessenen Schrift­steller Heinrich Schirmbeck, der im Jahr 2005 mit 90 Jahren in Darm­stadt starb. In seinen Essays und Erzäh­lungen verband er lite­rarische und moralische mit natur­wissen­schaft­li­chen Themen. Sein Hauptwerk „Ärgert dich dein rechtes Auge“ erschien 1957 und wurde vor allem in der US-ameri­kanischen Über­setzung als an­spruchs­vollster Roman seit Thomas Manns „Doktor Faustus“ gefeiert. Ange­sichts der Fortschritte in der Atomphysik stellte Schirmbeck die Frage nach der Ver­ant­wor­tung des Wissen­schaftlers. Fast als einziger habe er, so Herbst, die ma­the­mati­schen Wissen­schaften als das begriffen, „was sie für unsere Lebens­welten objektiv sind“, er sei jedoch – von Höllerer und der Gruppe 47 ignoriert – zu einem stör­rischen Außen­seiter geworden.
  Raimund Fellinger urteilt (ebenfalls in Volltext) harsch über Manfred Mitter­mayers neue Thomas Bernhard-Biographie; sie biete „in ihrer Bana­lität“ und „in­halt­lichen Dürftig­keit“ nur „Tertiäres“ und Alt­bekanntes. Andreas Maier telefoniert lange mit dem Endlos-Erzähler Peter Kurzeck, der sich seit 2013 „im Himmel­reich“ aufhält und dort als Engel emsig weiter­schreibt. Dazu bringt Volltext neue Ge­schich­ten von Alexander Kluge und einen Essay von Brigitte Kro­nauer über „wirk­liches Leben und Lite­ratur“.
  Im Zentrum des Heftes berichtet Felix Philipp Ingold über Georges Simenon und seine mit ihm symbio­tisch verbun­dene Tochter Marie-Jo. Der Groß­schrift­steller Simenon hat, so liest man, „das wohl umfang­reichste Œuvre der neu­zeit­lichen Erzähl­lite­ratur geschaf­fen.“ In rascher Folge sind Abenteuer-, Krimi­nal-, Liebes- und Groschen­romane entstanden, ferner Kurz­ge­schichten, Kolumnen, Reise- und Erin­nerungs­berichte, die in deut­scher Sprache 218 Bände umfassen. Er war ein bel­gischer Lebe­mann und zugleich ein Familien­mensch, der nach eigenem Bekun­den nicht nur Hunderte von Romanen geschrie­ben, sondern auch Tausende von Frauen besessen haben will.
  Der einzigen, 1953 geborenen Tochter gab Simenon seinen eigenen Vor­na­men: Georges, offiziell durch einen weib­lichen Namen er­gänzt, also Marie-Georges, kurz: Marie-Jo genannt. Sie entwickelte schon als kleines Mädchen ein inniges Ver­hältnis zu ihrem Vater, das sich „mit der Pubertät zu einer Liebes­beziehung beson­derer Art“ wandelte. Statt sie in ihrem Liebes­wahn abzu­weisen, ver­wöhnte er sie maßlos. Mit 25 Jahren nahm sich Marie-Jo, die zeitweise wegen Depres­sionen und Suizid­gefäh­rdung interniert werden musste, „mit einem Schuss ins Herz“ das Leben.
  Laut Ingold hatte sie „zahlreiche Talente“, konzentrierte sich aber fatalerweise auf das Schreiben, wo sie mit ihrem als „Gott“ verehrten Vater konkur­rierte. Sie schrieb Tagebuch, verfasste autobiographisch grundierte Kurz­geschich­ten und Chanson-Texte sowie zahlreiche Briefe „von hoher literarischer Qualität“, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Georges Simenon hat ihre Arbeiten später auf­bereitet und 1981 zugäng­lich ge­macht als Teil seiner „Intimen Memoiren“. So blieb die Toch­ter, wie Ingold zu Recht anmerkt, auch postum „in totaler Abhängig­keit vom präpo­tenten Vater.“ Marie-Jo sei eine Autorin mit „unver­wechsel­barer Stimme“ ge­wesen und – anders als ihr berühmter, viel­schrei­bender Vater – „mit hohem Stil­bewusst­sein“ begabt.
  Aus dem Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und seinem ver­ständnis­reichen Freund und Bewunderer, dem Bremer Groß­kaufmann und Juristen Friedrich Wilhelm Oelze, publiziert Sinn und Form Briefe aus dem Jahr 1945; die gesamte Kor­respon­denz wird im Frühjahr im Wall­stein Verlag heraus­kommen. Oelze hing, wie Matthias Weichelt in seiner Vorbemerkung betont, „dem Geist, der Kunst, dem Schöpfe­rischen“ an; er wollte „teil­haben an der Sphäre der Dichter und Denker.“ Als er 1977 die an ihn gerich­teten Briefe Benns zur Ver­öffent­lichung freigab, ließ er aus übergroßer Be­scheiden­heit die seinen weg. Anhand der nun bei Wallstein er­schei­nen­den Edition kann man „die 24 Jahre währende Kor­respondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprüng­lich war: als intensives, forderndes, mit kaum nach­lassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grund­ver­schiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister.“
  Benn hatte das Glück, so Weichelt, „in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben“, der nach dem Krieg auch sein publizistischer Berater wurde. Die Freund­schaft ent­wickelte sich immer enger und schloss auch das Privateste mit ein, obwohl man zeit­lebens beim „Sie“ blieb. Im Mittel­punkt stand stets Benns Werk.
  Oelzes Briefe sind, wie man nun sieht, subtil formuliert; sehr intellektuell und zugleich dem Freund sensibel zuge­wandt, auch trös­tend angesichts der Selbst­tötung von Benns Frau Herta im Juli 1945. Immer wieder erin­nert Oelze den mela­ncho­lischen Dichter an seine „Aufgabe“, sein Werk. Er zitiert aus den noch unge­druckten Manu­skripten (zum Beispiel aus dem „Roman des Phänotyp“), die während des Krieges bei ihm aus­gela­gert waren, und versucht sie zu deuten, lobt sie, muntert Benn auf: „Ich denke, dass die große Periode Ihrer öffent­lichen An­erken­nung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird“, womit der gold­richtig lag.
  Außerdem in Sinn und Form eine Liebeserklärung des Weimarer Lyrikers Wulf Kirsten an die Deutsche Bücherei zu Leipzig. Sie sei in den 50er und 60er Jahren ein „Bildungsort für Selbsthelfer“ wie ihn gewesen, eine „Schatzkammer“, ein „Nähr­boden meiner geistigen Lebens­form“, rundum „ein Glücksfall in meiner Bio­graphie.“ Eine Biblio­thek, in der der lesehungrige Benutzer zwar nicht „alle“ Bücher vorfand, aber doch immerhin diejenigen, die ab 1913 in deutscher Sprache er­schienen waren.
  Der Autodidakt Kirsten, der 1957 vom Land, ja vom Dorf kam, um an der Ar­bei­ter-und-Bauern-Fakultät in Leipzig zu stu­dieren, begeisterte sich besonders für den damals noch gar nicht wieder­ent­deckten Expres­sionismus, für so bedeutsame Zeit­schrif­ten wie Franz Pfemferts Aktion und Herwarth Waldens Sturm, die bis 1960 in West wie Ost regel­recht ver­schüttet waren, und er nahm Kontakt zu wichtigen Expres­sionismus-For­schern wie Paul Raabe in Marbach auf, die ihm weiter­halfen. Er hörte Vor­lesungen von Hans Mayer, las früh die Zeit­schrift Sinn und Form, bewunderte deren Chef­redakteur, den „Wortarbeiter“ Peter Huchel, der ihm zum Vorbild wurde.
  Eisern saß der „Bücher­fresser“ bis 22 Uhr in einem der vier Lesesäle der Deutschen Bücherei, entdeckte unter den Zeit­schriften sogar den Spiegel, aber auch die Akzente, die er fortan regelmäßig las, auch Gedicht­bände und Antho­lo­gien, die ihn mit der lite­rarischen Situation in der Bundes­republik vertraut machten. Und er stu­dierte die kostbare Sammlung der Exil­literatur, die sich im Leipziger „Giftschrank“ befand, die also nur wenige einsehen durften. Wenn es heute eines Plädoyers für die Not­wendig­keit großer Bücher­samm­lungen bedarf – hier liegt es vor.
  Ein Gegenstand, der Bücherverrückte seit je beschäftigt, ist der „Fall Stieglitz“, der hierzu­lande zuletzt vor rund drei Jahr­zehnten im feminis­tischen Kontext breiter diskutiert wurde. Es geht hierbei um den braven Lyriker Heinrich Stieglitz, dessen genia­lisch-über­spannte Gattin Charlotte sich für ihn und die erhoffte Wieder­kehr seiner Produk­tivität „opferte“, indem sie sich im Dezember 1834 ein Messer in die Brust stieß. Die Tiefe des Schmerzes sollte ihn in seiner Melan­cholie auf­rütteln und zum „weltumfas­senden Poeten“ schmieden. Doch der Freitod seiner (natürlich ebenfalls dichtenden) Ehe­frau beflügelte seine Schaf­fens­kraft kaum, erregte aber in ganz Deutsch­land Aufsehen. Für Jung­deutsche Autoren wie Theodor Mundt und Karl Gutzkow war Charlotte Stieglitz eine „Heilige“, die sie in Prosa­schriften ver­klärten, eine Art Seiten­stück zu Werther.
  Im jüngsten Heft der Marginalien, einer höchst lesenswerten „Zeitschrift für Buchkunst und Biblio­philie“, findet sich auch ein Aufsatz über Heinrich Stieglitz: „Der Dichter als Ethnologe“. Bernd-Ingo Friedrich wagt einen Ret­tungs­ver­such. Man fin­de, meint er, „nicht leicht einen Dichter, der unge­rechter bewertet worden ist“ als eben Stieglitz, dem Literar­historiker „geringe poeti­sche Bega­bung, schwachen Wil­len und gar keine Tat­kraft“ zuge­schrieben hätten. Sein Werk sei „regel­recht ver­nich­tet“ worden. In Wahr­heit habe Stieglitz deutliche Spuren hinter­lassen in Form von Reise­beschrei­bungen und Gedichten in Antho­logien der Zeit, Gedichte, die auch reich­lich vertont wurden. Bereits mit seinem vier­teiligen Gedichtband „Bilder des Orients“ (1831 bis 1833) habe sich Stieglitz einen Namen gemacht; selbst Goethe habe diese Verse bewundert. Doch „widrige Lebens­umstände und eine nicht näher bezeich­nete schwere Krank­heit“ hätten zu dem fatalen Ende geführt, wobei Char­lot­te sich das Leben nahm. Möglicher­weise war ja Impotenz im Spiel …
  Stieglitz verließ danach Berlin und ver­brachte die letzten elf Jahre seines Lebens vor allem in Venedig, wo er 1849 an der Cholera starb. Er unter­nahm noch ausgedehnte Wande­rungen und Reisen, interes­sierte sich für fremde Völker und Kulturen, schrieb als erster Deutscher eine Reportage über Monte­negro. Seine Schrift „Ein Besuch auf Montenegro“ erschien im Cotta'schen Verlag in Stuttgart 1841.

Volltext : Nr. 4, 2015   externer Link
(Goldschlagstraße 78/22, A-1150 Wien), 5,90 €.

Sinn und Form: Heft 1, 2016   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,- €.

Marginalien: Heft 3, 2015   externer Link
(Eschengraben 24, 13189 Berlin), 12,- €.

Michael Buselmeier   14.01.2016    

 

 
Michael Buselmeier
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