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Januar 2018
Man muss in einer Stadt wie Wien, in der auch die einst sehr linke Zeitschrift Wespennest seit 1969 zu Hause ist, nicht eben weit umhergehen, um mit dem Thema „Kultur erben“ konfrontiert zu werden. Die jüngste Ausgabe des Wespennests widmet ihren Schwerpunkt dem Sammeln von Kunstwerken und Büchern sowie der dabei unweigerlich auftauchenden Frage, was mit den angehäuften Schätzen geschehen soll, wenn die Generation der Sammler nicht mehr am Leben ist, die Nachfahren den Kunstbesitz aber als eher lästig empfinden und loswerden wollen.
Nach dem Wunsch der Sammler sollten ihre Kunstwerke und Bücher stets beisammen und möglichst auch, unter ihrem Namen, in Europa bleiben. Dabei ist es immer schwieriger geworden, selbst wertvolle Bücher günstig zu verkaufen oder gar als Schenkung, etwa an eine öffentliche Bibliothek, einen würdigen Platz für sie zu finden.
Über einige große Kunstsammlungen des 20. Jahrhunderts und ihre Schicksale weiß der Kunsthistoriker Ulrich Schneider, auch aufgrund zahlreicher Begegnungen mit den Sammlern, lebhaft zu erzählen – oft sind es Industrie-Sprosse, umfassende Persönlichkeiten wie Gunter Sachs, die ihre Schätze nicht privat vererben wollen. Daran dachte auch der einstige Kriegsbericht-Erstatter Henri Nannen nicht, der 1948 die Illustrierte Stern gründete, sie groß machte und ihr bis 1980 als Chefredakteur und Diktator vorstand. Daneben hat er sein Leben lang leidenschaftlich Kunst gesammelt, vor allem Werke des deutschen Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. In den 80er Jahren kehrte Nannen in seine ostfriesische Heimatstadt Emden zurück und verwirklichte dort energisch den Bau einer Kunsthalle für seine Bilder und Skulpturen, woraus sich ein Kulturzentrum mit Wechselausstellungen entwickelte.
Schneider berichtet auch über einen der bedeutendsten europäischen Kunstsammler alter Art, den Baron Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza, der bereits von seinem Vater eine wertvolle Sammlung alter Meister geerbt hatte, der er eine Kollektion der klassischen Moderne hinzufügte. Die Sammlung Thyssen-Bornemisza wurde 1993 an den spanischen Staat verkauft und ist heute in Madrid gleich neben dem Prado zu besichtigen.
Auch einem Machtmenschen wie dem „Trumpf“-Schokolade-Fabrikanten und promovierten Kunsthistoriker Peter Ludwig gelang es, ein Imperium der Kunst zu errichten, das Werke von der klassischen Antike bis zur Pop Art umfasste. Dafür setzte er an mindestens zwölf Orten (darunter Basel, Peking, Budapest, Sankt Petersburg) den Bau von Ludwig Museen durch, meist an den besten Plätzen, so in Köln direkt neben dem Dom.
In der oft höchst anregenden, ebenfalls in Wien erscheinenden Zeitschrift Volltext existiert seit kurzem eine Serie mit dem Titel „Zu Recht vergessen – die besten schlechten Dichter aller Zeiten“. Man konzentriert sich dabei auf „das Phänomen der Berühmtheit“, die „durch keine ästhetische oder poetologische Qualität gerechtfertigt ist.“ Der anmaßende Ton mag vielleicht gegenüber der Triviallyrikerin Friederike Kempner noch hinnehmbar sein, im Fall des 1892 geborenen Werner Bergengruen ist er inakzeptabel. Und ich sage das, ohne je ein Bewunderer dieses deutsch-baltischen Schriftstellers gewesen zu sein.
Während meiner Gymnasialzeit in den 50er Jahren erreichte Bergengruen ein bürgerliches Massenpublikum, seine Bücher zählten wie die von Reinhold Schneider und Stefan Andres zur christlich geprägten Schullektüre. Im Dritten Reich gehörte der zum Katholizismus konvertierte Dichter der „Inneren Emigration“ an. Ich vermute, man kann ihm von daher nichts anlasten, sonst hätte man es längst getan.
Was aber wirft ihm der Publizist Thomas Stangl im Winterheft von Volltext eigentlich vor? Alle seine Texte seien auf dieselbe Art „missglückt“. Aus ihrer Zeit gefallen, richteten sie sich „in den Gewissheiten anderer Zeiten ein“ und spielten „in einer rein abstrakten Welt.“ Moniert wird „der künstlich oder gekünstelt hohe Ton“, der eine „heile Welt“ zeichne, die „antimoderne Wendung“. Dichten, urteilt der Wiener Kritiker, bleibe für Bergengruen „ein Offenbarmachen ewiger Ordnungen“, was seine Geschichten „glatt und altertümelnd“ geraten lasse und „alles Einzelne zum leeren Beispielsfall“ reduziere. In seinem bekanntesten Roman „Der Großtyrann und das Gericht“, erschienen 1935, sei dies auf besondere Weise erkennbar.
Man hat diesen Erfolgsroman, der immerhin 2009 in der 7. Auflage bei dtv vorliegt, als Parabel auf die totale Herrschaft gelesen und sogar als Kriminalgeschichte. Ich habe ihn, dick mit Staub bedeckt, in einer hinteren Reihe meines Bücherregals wiedergefunden und ein wenig darin gelesen, mit wachsendem Interesse, denn die Handlung – in einer italienischen Stadt des späten Mittelalters wird ein Mönch ermordet – ist durchaus spannend, auch die Hauptfiguren sind nicht ohne Reiz. Das ist gewiss keine „große“ Literatur, aber so ganz ohne jede Qualität, wie behauptet wird, sind Bergengruens zahlreiche Bücher auch nicht. Manches wirkt altertümlich, anderes etwas ungeschickt formuliert. Und natürlich spürt man, dass inzwischen der Zeitgeist umgekippt ist: Bergengruens bildungsbürgerliche Haltung wird bekämpft, sein Gottvertrauen verhöhnt.
In meiner Jugend, um 1960, war Federico Garcia Lorca ein allgegenwärtiges Vorbild – durch Theaterstücke wie „Bernarda Albas Haus“, „Bluthochzeit“ oder „Yerma“ mit ihrer archaischen Bildlichkeit (schwarz gekleidete Frauen vor weiß gekalkten Wänden, dem grellen Licht ausgesetzt), doch gleichermaßen durch seine sinnlich-karge, direkte, an Metaphern reiche Lyrik, die an die spanische Volkstradition anknüpfte. Erwin Walter Palm, der Ehemann Hilde Domins, der mit Lorcas Gedichten in der Emigration Spanisch gelernt hatte, seine Übersetzungen jedoch, vom exklusiven Copyright Enrique Becks gehindert, nicht publizieren durfte, hielt damals an der Universität Heidelberg Vorlesungen über Lorca (und konnte immerhin seine Rafael Alberti- Übertragungen veröffentlichen). Lorcas Stücke sind heute von den Spielplänen eines literaturfernen Theaters fast ganz verschwunden. Zu hoffen bleibt, dass wenigstens seine Gedichte in neuen Übersetzungen noch oder wieder gelesen werden.
Die jüngste Ausgabe der Zeitschrift die horen, herausgegeben von dem Schweizer Autor Martin Zingg, lädt zu einer neuen Lektüre des Werks ein. Gebeten wurde um Gedichte, Essays, Szenen, um Übersetzungen, Gedicht-Kommentare, auch um Fortschreibungen, die auf spielerische Weise an Lorcas Texte anknüpfen und sie weiterspinnen. Der viel gescholtene Enrique Beck, übrigens ein deutscher Jude, ist längst tot, seine Exklusivrechte sind erloschen. Auffallend ist, wie viele Autoren schon früh als Lesende mit dem Werk Lorcas in Berührung gekommen sind, Generationsgefährten wie Ursula Krechel, Jürgen Theobaldy und Zsuzsanna Gahse, auch Jüngere wie die aus der DDR stammende Kerstin Hensel.
So schildert Ursula Krechel in einem luziden Essay den jungen Lorca, der Europa 1929 den Rücken kehrt und mit dem Überseedampfer nach New York reist, zur Zeit des Börsenkrachs, und die Fratze des Kapitalismus sieht, seine zerstörerische Gewalt. Doch er flieht nach vorne, er dichtet und zeichnet sogar: die Millionenstadt als riesigen Schlachthof: „Geschlachtet werden in New York an jedem Tag / vier Millionen Enten / fünf Millionen Schweine / (…) die alle Himmel hinter sich im Splittern lassen.“ Dem Autor des Bandes „Dichter in New York“ stellt Ursula Krechel einen anderen, noch jüngeren Mann gegenüber, der ebenfalls in der großen Stadt ankommt und von seinem mächtigen Onkel empfangen wird. Es ist der 17jährige Karl Roßmann aus Franz Kafkas Fragment gebliebenem „Amerika“-Roman.
Auch Jürgen Theobaldy steuert Jugenderinnerungen bei. Er erzählt in den horen, wie er 1967, mit 23 Jahren, in Freiburg von einem jungen Buchhändler mit Lorcas Poesie bekannt gemacht wurde, konkret mit jenen acht „glutvollen Gedichten“, die der Romanist Hugo Friedrich seiner berühmten Abhandlung „Die Struktur der modernen Lyrik“ aus dem Jahr 1956 zweisprachig angehängt hat: „Die Ellipse eines Schreis / geht von Berg / zu Berg. // Von den Oliven her / wird er zum schwarzen Regenbogen / über der blauen Nacht. // Wie unter einem Geigenbogen / bebten unter dem Schrei / die langen Saiten des Winds. // (Die Leute in den Höhlen / halten ihre Ampeln hinaus)“
Henry David Thoreau, der große Naturforscher, Dichter und Rebell, verreiste ungern. Lebenslang blieb er seiner neuenglischen Heimat verbunden, dem Städtchen Concord in Massachusetts, eine halbe Eisenbahnstunde von Boston entfernt. In der 40. Ausgabe der pfälzischen Literaturzeitschrift Chaussee widmet ihm Heiner Feldhoff zum 200. Geburtstag ein Porträt; bereits 1989 hat Feldhoff unter dem Titel „Vom Glück des Ungehorsams“ eine frühe Thoreau-Biographie veröffentlicht. Darin ist auch von seinem Förderer Ralph Waldo Emerson die Rede, der kreative Köpfe um sich geschart hatte, so dass Concord damals bei manchen gar als „Weimar der Neuen Welt“ galt. Für kurze Zeit arbeitete Thoreau auch als Lehrer, doch da er die Prügelstrafe ablehnte, quittierte er den Dienst. Als Landvermesser und geschickter Handwerker baute er sich 1845 auf Emersons Grund und Boden am Waldensee eine Blockhütte und führte dort sein Experiment eines einfachen Lebens durch, das ihn berühmt gemacht hat.
Zwei Jahre, zwei Monate und zwei Tage verbringt er hier in der Einsamkeit, spartanisch, doch glücklich lebend. „Mit jeder Verringerung seiner Bedürfnisse“ sieht er, so Feldhoff, „das Maß seiner Freiheit wachsen.“ Seine Erfahrungen mit der wilden Natur schreibt er auf. „Walden oder das Leben in den Wäldern“, sein literarisches Hauptwerk, ist noch heute für zahllose Leser eine Quelle der geistigen Erneuerung. Er hatte zu Tieren ein Verhältnis wie der heilige Franz von Assisi, wehrte sich gegen die Abholzung der Wälder, stritt für die Würde der Natur. Er weigerte sich, Steuern zu bezahlen an einen Staat, der gegen Mexiko Krieg führte, die von ihm bewunderten Indianer misshandelte und die Sklavenhaltung nicht unterband. Mit seiner Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ hat Thoreau noch Jahrzehnte später auf Mahatma Gandhi, Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung des „Zivilen Ungehorsams“, sogar auf Beatniks und Hippies eingewirkt.
Wespennest Nr. 173, November 2017
(A.1020 Wien, Rembrandtstraße 31/4), 12,– €.
Volltext: Nr. 4, 2017
(A-1150 Wien, Goldschlagstraße 78/22), 5,90 €.
die horen: Nr. 268
(Jürgen Krätzer, Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,– €.
Chaussee: Nr. 40, 2017
(Postfach 2860, 67616 Kaiserslautern), 5,– €.
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Michael Buselmeier
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