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Alexander Kluge
Das fünfte Buch

Abstürze aus der Wirklichkeit

  Kritik
  Alexander Kluge
Das fünfte Buch
Neue Lebensläufe
402 Geschichten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
564 S., 34,95 Euro


Der präzise Beobachter, Sammler und Denker Alexander Kluge schreibt keine Ro­mane. Er trägt kleine Geschich­ten zusammen, die er auf der Rück­seite der gro­ßen Geschichte vorfindet, Bruchstücke, die er ausgräbt und zum Sprechen bringt. Oft sind es nur Moment­auf­nahmen, Zeitungs­meldungen oder ironische Kommentare, lako­nisch, aber nicht kühl, eher heiter und mit einer fun­kelnden Pointe aufs Papier gesetzt. Vor genau fünfzig Jahren hat Kluge mit dem Band Lebens­läufe sein Debüt als Erzäh­ler gegeben. Es folgten die zwei­bändige Chronik der Gefühle (2000), Die Lücke, die der Teufel läßt (2003) und Tür an Tür mit einem anderen Leben (2006). Das vorliegende Fünfte Buch umfasst 402 neue Lebensläufe, die „teils erfunden, teils nicht erfunden sind.“

„Das Rumoren der verschluckten Welt“, „die Unverwüst­lichkeit von mensch­licher Arbeit“, „die unsichtbare Schrift der Vor­fahren“ – so lauten einige der The­men, die diesen neuen Band mit seinen Vor­gän­gern ver­binden. Es ist immer ein intel­lektuel­les Ver­gnügen, Kluges Beobach­tungen, Re­flexio­nen und Ein­fällen zu folgen. Doch der rasche Wechsel der Figuren, Gegen­stände und Zeiten, ein Montage-Verfahren, das Sprung­haftig­keit und Diskon­tinui­tät voraus­setzt, verlangt vom Leser Anstren­gung und eine Beweg­lichkeit des Geis­tes, die heute nicht mehr jeder auf­zubrin­gen bereit ist. Wie haben wir uns in den sieb­ziger Jahren, in der sogenannten Theorie­phase der radi­kalen Linken, um schwie­rige Texte von Marx, Habermas, Herbert Marcuse, Adorno bemüht; Hegel und selbst Fichte, den kaum einer ver­stand, wurden studiert und natür­lich auch Öffent­lich­keit und Erfah­rung von Oskar Negt und Alexan­der Kluge, eine Art Bibel aller Theorie­freaks und Spontis.

Wie eine Botschaft aus jenen Jahren kommt mir das Fünfte Buch Kluges entgegen. Es lässt sich nicht linear konsu­mieren, 564 Seiten lang. Technische und natur­wissen­schaft­liche Vor­kennt­nisse (etwa über die Arbeits­weise des Hirns und das Funktio­nieren der Zellen) könnten hilf­reich sein; histo­risches, lite­rari­sches und mytho­lo­gisches Wissen, vor allem Neu­gierde auf die Gegen­wart werden geradezu ver­langt. Auch skurrile Natur­phänomene (ein bislang unbe­kannter Vorfahre der Wirbel­tiere, bei dem „die Anfänge des Skeletts offenbar im Mund“ liegen) wollen begriffen und eingeordnet werden. Denn wir haben eine Splitter­welt vor uns, in der alle Sammel­stücke auf verbor­gene Weise zu­sammen­zuhängen scheinen.

Auch die eigene Biographie und Familien­geschichte hat Kluge in die neuen Lebens­läufe einge­flochten, die vergessene Schrift der Vorfahren, eine bis in die napoleonische Ära, in den Südharz und das Eulen­gebirge zurück­reichende Men­schen­kette, über deren Gene im eigenen Körper („eine Art Zauberbuch“) der Autor als Ahnen­forscher nachdenkt. In diesen Geschichten stecken Teile einer durch Kinder-, Eltern- und Vor­eltern­bilder beglaubigten Autobiographie.

Freunde und Lehrer gewinnen hier Raum, der Bildungsexperte Hellmut Becker etwa, dem der junge Jurist zu­arbeitete, Heidegger 1962 mürrisch auf Griechen­land­reise, allen voran Theodor W. Adorno, von dem zwei an­rüh­rende Briefe an den „lieben Axel“ abge­druckt sind, in denen es um „Herzens­kälte“ geht. Kluge folgt diesem Motiv mit der Ges­chichte seines Vaters, der im Winter Löcher in den zuge­frorenen Garten­teich schlug und Stroh­halme hinein­steckte, um die Fische mit Sauer­stoff zu versorgen. Zur „menschen­feind­lichen Kälte“ zählen die noch wirk­same Eiszeit, die stalinis­tischen Morde, Goebbels an den „Schalt­hebeln einer Kälte­maschine“, auch Caspar David Friedrichs Gemälde „Das Eismeer“ … Um mit solchen Kältewüsten umzugehen, sei – meint der Dialek­tiker – „eine hitzige Idee“ notwendig.

Oder die Macht der Liebe, der „Antirealismus des Gefühls“? In einer höchst selt­samen Szene wird berichtet, wie Adorno im um­kämpften Frank­furter Winter­semes­ter 1968/69 seinen Lehr­stuhl­ver­treter, den 24 Jahre jüngeren Niklas Luhmann, der ein Seminar über „Liebe als Passion“ gibt, zum Abend­essen einlädt und dabei um einen Rat in Liebes­dingen bittet.

Zwischen gleichsam privaten und familiären Auf­tritten erhebt sich das Gebirge der Zeitgeschichte, der Weltkriege, scheiternden Revolutionen und Katastrophen: Das Atomu­nglück von Fukushima, das Bankhaus Lehman Brothers, der griechische Schulden­staat. Kluge spricht von „Wende­punkten“, von „Abstürzen aus der Wirk­lichkeit“ und zeigt dazu das Foto des von der New Yorker Polizei abgeführten Dominique Strauss-Kahn, während der Körper Osama bin Ladens so zugerichtet wurde, dass man das „grässliche Bild“ nicht ver­öffent­lichen konnte. Chines­ische Ingenieure bauen in Bremen die Vulkanwerft ab. Die Suche nach „Zufluchtsorten einer künftigen Menschheit“ auf den Jupiter­monden nimmt absurde Züge an.

Lauter Lernprozesse mit töd­lichem Ausgang – so könnte man, Kluges erfolg­reichen Buchtitel von 1973 zitierend, resü­mieren. Der gute Wille allein, sich Mühe geben, eige­nsinnig sein, reicht nicht aus. Das Unglück voll­zieht sich hinter dem Rücken der Menschen, die im Alter lernen, sich zu fügen. Das fünfte Buch ist den vielen zugedacht, deren Träume von einer besseren Welt sich nicht erfüllt haben, die trauma­tisiert aus ihrer Bahn geworfen wurden. Der nunmehr achtzig­jährige Ge­schichten­er­zähler blickt ohne Zynismus, eher teilnahms­voll auf ihre Lebens­wege und zugleich auf sich selbst und das wiss­begierige Kind, das noch in ihm steckt.
Michael Buselmeier   14.05.2013   

 

 

 
Michael Buselmeier
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