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März 2012
Der im 66. Jahrgang erscheinende Merkur war immer ein Forum des intellektuellen Diskurses, des offenen Denkens und weitgehend immun gegen die Einflüsterungen des Zeitgeists. Und seine Autoren, bedeutende Publizisten und Hochschullehrer, konnten und können sich eine elitäre Haltung auch leisten. Zumal unter der 27 Jahre währenden Herausgeberschaft von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, die mit dem Dezemberheft 2011 endete, war Nonkonformismus erwünscht. Der Affront gegenüber der moralisierenden Grundströmung in der Bundesrepublik machte die sich auf Friedrich Schlegels Athenäum berufende Zeitschrift gerade für abweichende Intellektuelle interessant.
Die nun abgetretenen Herausgeber des Merkur favorisierten eine radikal ästhetische Perspektive, oftmals gegen den Konsens der linksliberalen Öffentlichkeit. Besonders der streitbare Konservative Bohrer, vom „Bösen“ und der „Gewalt“ fasziniert, suchte den Konflikt, indem er etwa gegen die Spießigkeit des Staates und seiner führenden Repräsentanten, die „Hässlichkeit“ des grünen Milieus oder die Mittelmäßigkeit der sozial beflissenen deutschen Gegenwartsautoren polemisierte.
Naturgemäß stellt sich die Frage ein, wie es ohne die polarisierende Figur Bohrers unter dem neuen Herausgeber Christian Demand mit dem Merkur weitergehen mag. Betrachtet man die beiden Hefte des laufenden Jahrgangs, so hat sich eigentlich kaum etwas geändert. Ästhetisch-philosophische Beiträge wechseln weiter mit politisch-historischen. Die ehrwürdige Zeitschrift für europäisches Denken, so der anspruchsvolle Untertitel, wirkt geistig lebendig und anregend wie eh und je.
Christian Demand, 1960 in München geborener Kunstwissenschaftler, verliert in seinem Beitrag („Ein Blick zurück nach vorn“) im ersten Heft des Jahres zu seinen unmittelbaren Vorgängern kein Wort; ebenso wenig zu den von Bohrer bewunderten Surrealisten und Existentialisten oder zur ästhetisch so produktiven Kategorie der „Plötzlichkeit“. Sein detailgenauer Blick führt weit zurück zu den Anfängen des Merkur im Jahr 1947, zu den ersten Herausgebern Hans Paeschke und Joachim Moras und der enormen Startauflage von 40.000 Exemplaren (gegenüber etwa 4.000 heute). Man baute damals auf Lessings Seriosität und Wielands Teutschen Merkur, setzte so kurz nach dem Krieg auf „vornehme Strenge“ und nahm die eigene Person diskret zurück. Bloß kein Alltagsjournalismus! Man biederte sich beim Leser nicht an, trat weder lehrhaft noch missionarisch auf. Vielmehr vertrauten Paeschke und Moras, so Demand dialektisch, „auf die aktualitätserschließende Kraft des Nichtaktuellen.“
Der Merkur müsse also „nicht neu erfunden“ werden, allerdings müsse man die Mischung unterschiedlicher Themen und Standpunkte „kontinuierlich neu justieren“, meint Demand am Ende seines, was die Zukunft angeht, etwas vagen Beitrags. Und verweist zugleich auf die das erste Heft eröffnenden Aufsätze zu Europa, mit denen Fragen wiederaufgenommen würden, die bereits die Autoren der Gründungsjahre beschäftigt hätten.
Da ist einmal Christoph Schönberger, ein Rechtsprofessor aus Konstanz, der im heutigen Deutschland „die Hegemonialmacht Europas“ erkennt, die – koste es, was es wolle – die übrigen Länder „führen“ und die Ordnung stabil halten müsse. Wir müssten „diese Bürde tragen“, so Schönberger im pragmatischen Ton eines Regierungsberaters. Eine nationale Alternative gebe es nicht.
Anders der Wirtschaftsjournalist Rainer Hank, der gerade die „Vielgestaltigkeit“ Europas als seine große Stärke ansieht. „Dezentral begrenzte und verteilte Macht“ habe die Kreativität ermöglicht, den „Ehrgeiz des Wettbewerbs angestachelt und den Wohlstand genährt.“ Die „Kleinstaaterei bei offenen Grenzen“ sei ein liberales und daher sinnvolles Modell. „Klein ist besser als groß“ resümiert Rainer Hank und preist die Vorzüge einer nationalen Geldpolitik. Die Einführung des Euro sei ein – noch revidierbarer – Fehler gewesen.
In seiner Ästhetikkolumne berichtet Wolfgang Kemp vom „Verlust der Geschichte“ in der Kunstgeschichte von heute. Zu meiner Studienzeit in den 60er Jahren musste ich mich der Kunst des Mittelalters widmen, es ging nicht anders und war im Nachhinein auch sinnvoll; die Moderne kam nur ganz am Rand vor. Heute indes, klagt Kemp, werden 70 bis 80 Prozent aller Magister- und Doktorarbeiten Themen gewidmet, die „nach Manet und am besten nach 1965 angesiedelt sind.“
Ekkehard Knörer, der neue Merkur-Redakteur, stimmt ein gut recherchiertes Loblied auf Walter Boehlich an, den streitbaren Kritiker, Essayisten und Übersetzer, in den 60er Jahren Cheflektor bei Suhrkamp, ein „einzigartiger Intellektueller“, der über seinen Lehrer Ernst Robert Curtius schon 1948 zum Merkur fand, sich dort jedoch nicht halten konnte, sondern aufgrund seiner Kompromisslosigkeit von den Höhen des Kulturbetriebs an dessen linke Peripherie und damit ins Abseits geriet, wo er sich angeblich „nicht unwohl“ fühlte.
Und obwohl ich schon so viel (und längst nicht genug) über den alten und neuen Merkur erzählt habe, will ich noch auf den luziden Essay von Till Dembeck im 2. Heft des Jahres 2012 hinweisen. Dembeck, ein Kenner romantischer Geschichtsphilosophie, reflektiert die „totalitären“ Gefahren, die jeder „kulturpolitischen Selbstermächtigung“ innewohnen, am Beispiel der im Jahr 1811 auf Betreiben Achim von Arnims gegründeten „Deutschen Tischgesellschaft“, ein Zusammenschluss hochstehender Vertreter der Berliner Gesellschaft aus unterschiedlichen Professionen. Der Militär Carl von Clausewitz war ebenso Mitglied wie Clemens Brentano. Der Verein konstituierte sich auf der Basis der „Wohlanständigkeit“. Es gab vier Ausschlusskriterien: Nicht zugelassen waren Frauen, Franzosen, Philister und Juden.
Zwei recht komplizierte, schwer darstellbare, aber vielfältig an- und aufregende Essays bestimmen das jüngste Heft der Akzente und bezeugen zugleich Qualität und Notwendigkeit dieser Zeitschrift in ihrem 59. Jahrgang. Da ist zunächst ein auch sprachlich höchst origineller Vortrag des Schweizer Schriftstellers Thomas Hürlimann, der vom wandernden Friedrich Nietzsche und seinem roten Regenschirm handelt (Adorno spricht von einem Sonnenschirm). Der Weg beginnt im Sommer 1881 in Sils Maria und endet an der Jahreswende 1888/89 in Turin mit dem dort ausbrechenden Wahnsinn des Philosophen. Auf der Piazza Carlo Alberto, beim Umarmen eines geschundenen Pferdes, dürfte Nietzsche der Regenschirm aus der Hand gefallen sein, über dessen Geschichte, Funktion und wahre Bedeutung Hürlimann, unter Verweis auf Bataille, Derrida und Heidegger, Erstaunliches zu erzählen weiß.
Doch eigentlich geht es um Nietzsche, „das philosophische Thier“, das „seine Nüstern nach innen hat“ und das – so Hürlimann – „die eigene Verdauung mehr interessiert als die Idee der Unsterblichkeit.“ 1881 ist Nietzsche auf dem Sprung, seinen Denkbereich zu verlassen und alle Werte umzuwerten. Es existieren für ihn keine Trennungen mehr, keine Grenze zwischen Götter- und Menschenwelt, nur noch das In-dividuum, das ungeteilte Wesen, und Gott ist in ihm gestorben. In dieser großen Leere und Heiterkeit entstehen der Zarathustra und Ecce homo. Am Ende des skurrilen Vortrags hat man den Eindruck, als würden Friedrich Nietzsche, Thomas Hürlimann und sein Kater Mufti miteinander verschmelzen.
Im selben Heft der Akzente widmet sich Wolfgang Matz den Freuden und Leiden des Ehebruchs in drei großen Romanen des 19. Jahrhunderts. Er erzählt von Charles Bovary, Alexej Karenin und Geert von Innstetten, Männer berühmter Romanheldinnen, die jene Herren auf unterschiedliche Weise betrogen haben. Und obwohl doch die europäische Kultur, zumal zur Zeit Flauberts, Tolstois und Fontanes, noch eine fraglos männliche war, haben die gehörnten Ehemänner, sobald das Spiel beginnt, „die schlechtesten Karten, und wie sie es machen, ist es verkehrt.“ Es handelt sich, so Wolfgang Matz, „um definitiv scheiternde Lebensgeschichten.“ Und wir können daraus lernen, „daß Liebe und eheliche Liebe durchaus zwei Paar Stiefel sind.“ Der einzige, der wirklich liebt und den Flaubert unverhältnismäßig leiden lässt, ist der „dumme“ Charles Bovary.
Die Zeitschrift Kommune, im Januar 1983 als Forum für Politik, Ökonomie und Kultur begründet, ist hervorgegangen aus den Trümmern und dem Geld einer maoistischen Minipartei namens KBW. In den ersten Jahren war sie eine recht lebendige Monatsschrift heimatlos gewordener Linker und wurde bald zu einem inoffiziellen Theorieorgan der Grünen. Jahre vor der Wende wurde über die angespannte Situation in Osteuropa und auf dem Balkan berichtet und es gab, Heft um Heft, eine „grüne Strategie-Debatte“.
Die ist schon lange eingeschlafen. Und wie sich die Grünen in eine kreuznormale Partei verwandelt haben, ist auch die Kommune ein Stück weit staatstragend geworden. Sie erscheint noch alle zwei Monate mit einem eher schwachen, profillosen Feuilleton und einem materialreichen Politikteil – lange Abhandlungen, oft zähflüssig und mit Statistiken durchsetzt. Im vorliegenden Heft geht es anfangs um die Finanzkrise sowie um die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, durch welche das Vertrauen in die Demokratie gefährdet werde. Ein Politikwechsel „hin zu mehr Gerechtigkeit“ sei notwendig…
Der massive Antikapitalismus der frühen Jahre ist einem linken Moralismus gewichen, der zwischen Gut und Böse stets korrekt zu unterscheiden weiß. Es fehlt ein journalistischer „Biss“, ein brillanter oder wenigstens polemischer Ton, der sich mit allem anlegt, auch mit den eigenen Voraussetzungen. Trotzdem überrascht die Ankündigung, dass die Kommune am Ende des laufenden 30. Jahrgangs eingestellt werden soll. Dass sie fast nur von ehemaligen 68ern geprägt und wohl auch gelesen wurde, also von einer sterbenden Generation, geriet ihr zum Nachteil. Ihre öffentliche Wirkung schwand dahin wie der Abonnentenstamm.
Merkur: Heft 1 und 2, Januar und Februar 2012
(Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), je Heft 12,- €
Akzente: Heft 1, Januar 2012
(Postfach 860420, 81631 München), 7,90 €
Kommune: Heft 1, 2012
(Postfach 900609, 60446 Frankfurt am Main), 10,- €.
Michael Buselmeier 21.03.2012
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Michael Buselmeier
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