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November 2011
In diesem Kleist-Jahr 2011 war viel vom preußischen Dichter und seinem kühnen Werk die Rede, in Seminaren, aber auch in Zeitschriften und Büchern, und die germanistische Literatur wächst ins kaum noch Überschaubare. Was mag das Faszinierende an Heinrich von Kleist sein, noch 200 Jahre nach seinem frühen Selbsttod? Ist er, wie sein Biograph Günter Blamberger vermutet, nach wie vor „unzeitgemäß“? Und provoziert er die Menschen noch immer mit seiner existentiellen Radikalität, obwohl er doch längst als Klassiker gilt und sogar zur schulischen Pflichtlektüre zählt? Ein einsamer und todessüchtiger Kämpfer, der sich nirgendwo einfügte; ein verstockter, stotternder Extremist in einer als „gebrechlich“ erfahrenen Welt. Und vor allem: ein Sprachartist wie kaum einer vor und nach ihm.
Dass ein Genie wie Kleist nicht gut in unsere scheinbar so moderate Zeit passt, erst recht nicht in die kreuzbrave Gesellschaft heutiger Autoren, belegt eher unfreiwillig die jüngste Ausgabe der Zeitschrift die horen. Sie versammelt einen Reigen von mehr als 50 sehr unterschiedlichen Texten zu Leben, Werk und Wirkung des Dichters, verfasst von Schriftstellern, Kritikern, Wissenschaftlern und Regisseuren, sogar zwei ehemalige Politiker sind darunter – eine Art Kleist-Lesebuch, das neben Ernstem auch Satirisches und Parodistisches aufbietet, das manchmal etwas läppisch wirkt.
Auch einige bildende Künstler haben sich an Kleist versucht, sie haben sein „weiches, rundes Gesicht“, das so gar nicht zu diesem unerbittlichen Werk zu passen scheint, variiert, verfremdet und collagiert, ohne dass etwas Überzeugendes herauskam. Seltsamerweise setzt sich keiner der zahlreichen Beiträger mit der Editionsgeschichte auseinander. Die gerade abgeschlossene Brandenburger Kritische Kleist- Ausgabe, immerhin ein spätes Produkt der 68er-Bewegung in 22 Textbänden, wird in dem 250 Seiten umfassenden horen-Heft überhaupt nicht erwähnt.
Wie aber kommt man Kleists widersprüchlichen Helden näher – dem in seinem Recht verletzten Kohlhaas, der zum Terroristen wird; der unwissend geschwängerten Marquise von O., der liebesrasenden Penthesilea, dem Hermann des „totalen Kriegs“? Unter all den Erzählungen, Gedichten und Liedern, Essays und Persiflagen ragt der luzide Text einer gewesenen Politikerin, der Antje Vollmers hervor. In ihrem „Kleist und die 68er“ überschriebenen Beitrag geht sie von der 1976 von ehemaligen KPD-Maoisten, darunter der Germanist Helmut Lethen und der Philosoph Rüdiger Safranski, gegründeten Zeitschrift Berliner Hefte aus.
Schwerpunktthema der ersten Ausgabe war ausgerechnet Heinrich von Kleist als „Abtrünniger seiner Klasse“. Mit der ausklingenden Studentenbewegung sei Kleist, so Vollmer, wieder in Mode gekommen, ablesbar auch an den legendären Inszenierungen von Peter Stein und Claus Peymann. Seine maßlosen Forderungen an sich selbst und die anderen, sein Bruch mit dem preußischen Militär und der Familie, seine Flucht aufs Land und sein bedingungsloses Scheitern machten ihn interessant. Gerade seine Kompromisslosigkeit faszinierte diejenigen, die bald darangingen, sich wieder mit dem zuvor heftig bekämpften „System“ zu versöhnen.
Antje Vollmer zitiert auch Helma Sanders, die damals einen Film über Kleist gedreht hatte: Kleist sei der „Prototyp“ des antiautoritären Rebellen gewesen, der „die Widersprüche des Deutschtums“ auf die Spitze getrieben und sich nie arrangiert habe. So sei eine „intuitive Nähe“ zu Kleist entstanden, dem vaterlos Aufgewachsenen, wie ja auch die meisten Studentenführer vaterlos waren. Der Dichter sei kein Realpolitiker, sondern ein „Himmelsstürmer“ mit latenter Gewaltbereitschaft gewesen, und die 68er wollten das in ihrem romantischen Überschwang auch gern sein.
Wie Kleist ist auch Hölderlin ein radikaler Außenseiter in der deutschen Literatur, weder den Klassikern noch den Romantikern zugehörig; ein Einsamer, „Tiefverlorener“, Ortloser. Im jüngsten Heft der Grazer manuskripte kann man Arno Geigers Dankrede zur Verleihung des Hölderlin-Preises 2011 nachlesen – ein einfühlsamer, hochpoetischer Text. Geiger misst sein bisheriges Leben und dasjenige seines dementen Vaters (über den er in diesem Jahr mit Der alte König in seinem Exil ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht hat) am Leben Hölderlins, der sich als Kranker im Tübinger Turm „Scardanelli“ nannte. Schon als Jugendlicher habe er, wie der Dichter, „eine Anlage zum alten Mann“ besessen, sagt Geiger, und die Welt, die er eigentlich gar nicht kannte, verachtet. „Kann dieser Jugendliche ich gewesen sein?“
Geiger schildert, wie er 1987, direkt nach dem Abitur, „mit verzagtem Gesicht“ nach Tübingen aufgebrochen sei, „überwältigt vom Gefühl meiner entsetzlichen Untauglichkeit.“ Friedrich Hölderlin sei überall noch präsent gewesen, nicht nur in Büsten und Bildern, auch im Glockengeläut, im Wasser des Neckars, im Klirren der Fahnen. Und er, der Schriftsteller werden wollte, wusste nicht, wie er mit seiner Sprache in der Welt zurechtkommen werde. Geiger erinnert auch an seinen kranken, von Sprachverlust bedrohten Vater: „Eine Welt ohne Wörter ist eine Welt voller Wunden.“ Erst indem Dinge und Menschen einen Namen bekommen, „treten wir in Beziehung zu ihnen. Benennen ist Zuneigung.“
Vor genau 400 Jahren, im November 1611, wurde Shakespeares letztes Theaterstück Der Sturm in London uraufgeführt. Das allein wäre Anlass genug, sich erneut mit Shakespeares Gesamtwerk, wozu auch die Sonette zählen, zu beschäftigen. Doch regt auch die Person des Dichters zu Spekulationen an, zum Beispiel zu der periodisch wiederholten Behauptung, dass Shakespeare gar nicht Shakespeare war, sondern dass ein Adliger, etwa Edward de Vere, Earl of Oxford, die Dramen eigentlich geschrieben habe, da dem tumben Bauernsohn aus Stratford die nötigen Kenntnisse fehlten (so unterstellt es auch Roland Emmerich in seinem jüngsten Film Anonymus).
Dem widerspricht einmal mehr Marco Meng in der aktuellen Ausgabe von Lettre International. Bezeichnenderweise habe während Shakespeares Lebenszeit niemand angenommen, dass er die Stücke nicht verfasst habe. Sein schärfster Konkurrent, Ben Jonson, ein gelernter Maurer, pries ihn sogar als größten Dichter aller Zeiten, der den Leuten die ungeschminkte Wahrheit ihres Daseins vor Augen führte, ein Genie eben. Gegen Ende wurden seine Dramen immer düsterer: König Lear; Timon von Athen, die Tragödie des Undanks – war das nicht, fragt Marco Meng, „der Dichter selbst, der da sprach?“
Im Gespräch mit Frank Raddatz schildert der Meisterregisseur Peter Stein auf vielen großformatigen Lettre-Seiten die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie aus dem Ritus, aus einer mimischen Tätigkeit „mit der Absicht, auf einen Zusammenhang magisch einzuwirken.“ Als eines der einfachsten Rituale gilt der Regentanz. Im 7. Jahrhundert vor unserer Zeit kam die Schrift hinzu, ein enormer Entwicklungsschritt, denn erst dadurch entstand die Tragödie. Heute, sagt Stein, dem das Kunstwerk in seiner Substanz unantastbar ist, sei man im Theater dabei, den literarischen Text abzuschaffen, und schaffe damit, ohne es zu bemerken, die Tradition des europäischen Theaters ab.
Stein erzählt auch von seinem Antikenprojekt an der Berliner Schaubühne in den 70er Jahren. „Wir“ sagt er und meint das damalige Ensemble, „hatten ein ganz lebendiges Verhältnis zur Geschichte und damit zur eigenen Gegenwart. In meiner Generation wollte man wissen, was die Väter angerichtet haben.“ Im Sinn der 68er habe man die alten Stücke „hinterfragt“. Die Schauspieler waren in die Entscheidungen und somit auch in die Verantwortung für das Haus eingebunden – es war ja ihr Theater mit einer einzigartigen Kollektivstruktur; „Radikaldemokratie“ und gelebte Utopie, die heute an keiner Bühne mehr existiere. Vielmehr habe sich eine „unglaubliche Banalisierung“ breitgemacht, Gleichgültigkeit und Einebnung der Geschichte.
Wenn man Gedichte der großen polnischen Lyriker des 20. Jahrhunderts liest – Czeslaw Milosz, Tadeusz Rozewicz, Wislawa Szymborska, Zbigniew Herbert –, hat man den Eindruck, dass sie etwas Entscheidendes von uns Heutigen trennt. Sie waren noch in die Schrecken des Weltkriegs involviert und begleiteten den Untergang der Ideologien, sie erlebten das Böse im Menschen hautnah und erfuhren im Schreiben den Gegensatz von Schönheit und Grausamkeit. Das Oktoberheft der Akzente widmet sich besonders Milosz und Rozewicz. Letzterer, der im Oktober seinen 90. Geburtstag beging, ist mit späten Gedichten vertreten, Versen von großartiger Einfachheit. Der ästhetischen Kargheit entspricht eine semantische Eindeutigkeit. Ein letztes Mal erscheint der Dichter, reflektierend über das brüchige Fundament unserer Zivilisation, als moralische Instanz:
ich schreibe auf Wasser
ich scheibe auf Sand
aus einer Handvoll geretteter Wörter
aus einigen Sätzen
einfacher Zimmermannsprosa
aus einigen nackten Versen
baue ich eine Arche
um etwas zu retten
aus der Sintflut
die uns überrascht
am hellichten Tag
oder tief in der Nacht
von der Erdoberfläche spült
Zwei Essays beschäftigen sich mit Czeslaw Milosz, dem Nobelpreisträger des Jahres 1980, der 2004 in Krakau starb. Nach 30jährigem Exil, das er vor allem in Kalifornien verbrachte, kehrte er 1981 zum ersten Mal wieder nach Polen zurück und wirkte – so Jerzy Illg – auf viele „hochmütig, abstoßend und unsympathisch.“ Erst in späteren Jahren sei er milder geworden.
Milosz war, wie Stefan Chwin erläutert, keineswegs der Lieblingsdichter der Polen: „Das nationale Denken war ihm zuwider, ihm missfiel die nationaldemokratische Variante des Katholizismus.“ Er kämpfte für eine Erneuerung der polnischen Kultur, sah sich „als Erbe von Adam Mickiewicz und stritt heftig mit ihm.“
die horen: Nr. 243, 2011
(Postfach 10 11 10, 27511 Bremerhaven), 16,50 €
manuskripte: Nr. 193, 2011
(Sackstraße 17, A-8010 Graz), 11,70 €
Lettre International: Nr. 94, 2011
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11,- €.
Akzente: Heft 5, Okotber 2011
(Postfach 860420, 81631 München), 7,90 €
Michael Buselmeier 23.11.2011
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Michael Buselmeier
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