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November 2016
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Zeitschriftenlese  –  November 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Es gibt Schriftsteller, die ihre Texte an Orten spielen lassen, die sie nicht oder fast nicht kennen und deren lebendige Atmosphäre sie nicht interessiert. Vor Jahren habe ich einen prominenten Autor durch Heidelberg geführt, der seinen hier spielenden Roman, Szenen und Dialoge nahezu fertig hatte und von mir nur die geeigneten Orte, Plätze und Villen gezeigt bekommen wollte, um sie nachträglich einzubauen.
  Andere gehen beim Schreiben vom Ort der Handlung selbst aus; seine Gerüche und Geräusche, Straßen und Hinterhöfe sind für sie das Wichtigste, das sie vorab in allen Details kennen müssen, so wie Joyce Dublin kannte oder Alfred Döblin Berlin. Auf solche Weise entstandene „Orte der Literatur“ – sie können noch so klein und abgelegen sein – werden immer wieder aufgesucht. In den stets anregenden „Kulturbriefen“ der in Salzburg erscheinenden Zeitschrift Literatur und Kritik schildert der in England lehrende Germanist Uwe Schütte, wie er im vergangenen Winter auf W.G. Sebalds Spuren und zuletzt auf dem Sebald-Wanderweg dessen Geburtsort Wertach im Allgäu erreichte: „Am Ortsschild vorbei, ›Zollgrenzbezirk‹ steht ominös darauf, gehe ich langsam in den Markt Wertach hinein. Wie in den Büchern von Kafka und Sebald ist es nun fast völlig dunkel – auch der zuvor noch sichtbare Halbmond ist nun hinter Wolken verschwunden. Provinzielle Düsternis. Unheimliche Heimat. Kein Mensch auf der Straße.“ Die Landschaft erscheint dem Wanderer „verödet“, die Dörfer sind vom Tourismus „verschandelt“, doch der Waldweg durch den unberührten Schnee ist „betörend schön“. Noch in der Nacht entdeckt Schütte das mit einem Hinweisschild versehene Geburtshaus Sebalds.
Ein weiterer Kulturbrief berichtet darüber, wie Veronika Seyr an einem schönen Tag  im Juni 2016 im niederösterreichischen Ort Kierling das Denkmal für den hier 1924 im Sanatorium Hoffmann gestorbenen Franz Kafka aufgesucht hat. Am Himmelbauerplatz steht ein grober Klotz, ein Steinblock, aus dem eine schwarz-metallene Büste herausragt, die entfernt an Kafka erinnert – das einzige Monument für den Dichter in Österreich. Es gibt im Ort noch einen Kafka-Steg und die Kafkagasse. Eine Gedenkstätte befindet sich im Sterbehaus auf der Kierlinger Hauptstraße 187, zwei Zimmer, ein Balkon. Hier hat der Lungenkranke seine letzten sechs Lebenswochen verbracht. Über das Fußbodenmosaik des Vorhauses ist Kafka, solange er noch genügend Kraft hatte, zum Gasthaus „Grüner Baum“ und zur Post gegangen, um Briefe aufzugeben. Es gibt, schreibt Veronika Seyr, „auf der ganzen Welt sonst keinen Ort, von dem man das mit Sicherheit sagen kann.“
  In der jüngsten Ausgabe der kleinen Zeitschrift Trompete, die seit 2007 in einer nummerierten Auflage von 200 Stück von Theo Köppen, Peer Schröder und Katja Töpfer in Göttingen herausgegeben wird, folgt Pierangelo Maset den letzten, noch erkennbaren Spuren des Hannoveraner Avantgardisten und MERZ-Künstlers Kurt Schwitters in Norwegen. Auf der im Romsdalen-Fjord, vis-á-vis von Molde gelegenen Insel Hjertoya (was „Herzinsel“ bedeutet) hatte sich Schwitters 1932 eine winzige Hütte als sommerlichen Rückzugsraum gemietet, wo er unter kargen Bedingungen lebte. 1933 als „entarteter Künstler“ gebrandmarkt, emigrierte er 1937 mit seinem Sohn Ernst nach Norwegen in seine Hütte. 1940, nach der deutschen Invasion Norwegens, floh er weiter nach Großbritannien, wo er 1948 starb.
  Im Sommer 2015 suchte Pierangelo Maset die Herzinsel zum ersten Mal auf und fand die Schwitters-Hütte noch vor, „auch eine Merz-Säule setzte sich weiß im strahlenden Licht nach oben ragend von ihrer Umgebung ab.“ In dem der Hütte gegenüber liegenden Bootshaus war eine kleine Ausstellung zu Schwitters´ Wirken in Norwegen aufgebaut. Vermutlich kann man sich, meint auch der Autor, Kunstwerken am besten so, am authentischen Ort, annähern.
  Unter den Mitarbeitern der Trompete befinden sich auch einige versprengte Alt-Autoren der deutschen Beat-Generation, etwa Udo Breger, Stefan Hyner und Anna Rheinsberg. Breger berichtet von seiner Göttinger Kindheit bald nach dem Krieg, von seiner Begeisterung für die Ami-Soldaten, die englische Sprache und die Jazz-Musik, von den ledernen und hölzernen Beinen und Armen der Kriegskrüppel und ihren Augen aus Glas; von Robert Oppenheimer, dem sogenannten Vater der Atombombe, der 1927 mit 23 Jahren in Göttingen promovierte, sowie von dem Gerücht, auf dem Schwarzmarkt am Bahnhof würden Würste aus Menschenfleisch gehandelt. Trotzdem: „Amerika, das musste Freiheit sein.“
  Vor fünf Jahren wurde der Schriftsteller Stephan Wackwitz als Leiter des Goethe-Instituts in die georgische Hauptstadt Tiflis versetzt. Im Novemberheft der Zeitschrift Merkur aus dem Jahr 2012 schilderte er damals seine ersten Eindrücke – ein pittoreskes Durch- und Übereinander heterogenster architektonischer Formen: „In Baseballschussweite von meinem Bett entfernt steigt im Morgenlicht ein felswandartig steiler Hügel in die Höhe, ganz bedeckt und fast überwachsen mit Hütten, Villen und Gärten in irgendwie indischer oder japanischer Formgesinnung.“
  Fünf Jahre später wohnte Wackwitz mitten im Staub und im Lärm der Großbaustellen ringsumher, und die Stadtlandschaft des Abhangs vor seinem Fenster hatte sich krass verändert. Die Bäume, Felsen, Grashügel und Abhänge von Tiflis waren aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Und was da an Luxusbauten entstanden war, wirkte „irgendwie brüchig“. Wackwitz wurde den Eindruck nicht los, „das werde alles nicht sehr lange halten oder jedenfalls bald in eine schwer dingfest zu machende Vernachlässigung und Schäbigkeit abstürzen.“ Denn eigentlich schien in diesen Traumpalästen – überwiegend Hotels – niemand zu wohnen. „Nachts sind die Fassaden fast lückenlos dunkel.“
  Hier also sollen künftig die Touristen wohnen, konstatiert Wackwitz bitter, „die bei ihrem ersten Besuch, zu Beginn des Jahrhunderts, bezaubert waren von den Volksarchitekturen, die genau da gestanden haben, wo sie jetzt ratlos aus dem Fenster schauen und sich wundern, wo das Tiflis, das sie besuchen wollten, einmal gewesen sein mag.“ Zu Fuß unterwegs im Lärm und Staub der Straßen, lässt der Stadtläufer am „hochstaplerischen Milieu“ von Bankern, Models und korrupten Politikern kein gutes Haar; er spricht von „Wahnsinnsbauten“ und einem „verrückt gewordenen Fantasieunternehmen.“ Akribisch schildert er dessen Verkommenheit, und man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass seine Zeit im georgischen Tiflis bald vorüber sein wird.
  „Seestück“ nennt sich eine Erzählung (sie klingt passagenweise wie ein Augenzeugenbericht) des weithin unbekannten, in Bielefeld lebenden Autors André Georgi, die auf eine behutsame, substantielle Weise vom Künstler und vom Kunstwerk spricht. Sie eröffnet das Dezemberheft von Sinn und Form und beginnt so: „Sand wie verdreckter Schnee, darüber ein Meer, das seine weißen Schaumkronen dem Strand entgegen spült, tiefblau, die Farbe des Todes, der Himmel wiederum eine pastellene Verheißung der Erlösung und zugleich eine Ankündigung des Nichts: Drei Flächen, ocker, schwarzblau, pastellblau – der Übergang vom Strand zum Meer eine scharfe Grenze, ausgefranst dagegen der Übergang vom Meer zum Himmel, ein loderndes Blau, wie ein hinter dem Horizont züngelnder Brand einer Stadt, in den falschen Farben gemalt. Vorne ein Mann in schwarzem Gewand, mit eigentümlich verdrehter Gestalt.“
  Beschrieben wird hier natürlich Caspar David Friedrichs berühmtes, zwischen 1808 und 1810 entstandenes Bild „Mönch am Meer“, ein Gemälde, das über keinerlei Raumtiefe verfügt, die etwa ein Boot vortäuschen könnte, von dem jedoch nichts zu sehen ist; vielleicht ist es ja im Meer versunken, und der einsame Mann am Strand, eine Rückenfigur, lauscht den Schreien der Ertrinkenden nach. Georgis Text wirft einen frischen Blick auch auf das Leben des Malers Friedrich und versucht die Entstehung des Bildes, den Malvorgang nachzuzeichnen, bietet auch Interpretationen an.
  Friedrich wird bemitleidenswert dargestellt, arm und verwahrlost, mit faulen Zähnen und dünnem Backenbart, unter dem er eine von einem Selbstmordversuch stammende Narbe verbirgt. Er spricht in einem vorpommerschen Dialekt, einer „Greifswalder Seifensieder-Sprache“; eine skurrile Gestalt, die die Menschen meidet, im Alltag ungeschickt und meist ungewaschen ist. Den Maler plagen Selbstzweifel und Schuldgefühle, nichts will ihm so recht gelingen. Er wischt die Farben von der Leinwand, oder er kratzt sie ab, um wieder von vorne zu beginnen. Doch diesmal gelingt das Werk: „Friedrich malt und weint vor sich hin, zum ersten Mal seit Jahren, und zitternd und außer sich muss er den Pinsel aus der Hand legen.“ Ganz unvermittelt, ohne Übergang und ohne Hoffnung erschien dem zeitgenössischen Betrachter und Journalisten Heinrich von Kleist im Jahr 1810 dieses radikale Seestück, „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.“
  Ebenfalls in Sinn und Form erfährt man etwas von dem 1916 geborenen, seit seinem Tod im Jahr 1991 ziemlich vergessenen Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer, unter anderem Autor einer erfolgreichen Mozart-Biographie. 1984 hat der in der Nazizeit Verfolgte zum Erstaunen seiner Leser das literarische Schreiben eingestellt und in seinen Schriften fortan die Gefährdung unseres Planeten in den Mittelpunkt gerückt. So erklärte er 1985: „Wir stehen an der Schwelle zwischen spät und zu spät und lassen uns, zunehmend, dem letzteren zutreiben.“ 1988 wurde er eingeladen, an einem von Peter Sloterdijk herausgegebenen Sammelband über die „schwindende Zukunft“ mitzuarbeiten. Doch in der 1990 publizierten, zweibändigen Ausgabe „Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft“ ist Hildesheimers Beitrag nicht zu finden. Er hatte ihn im letzten Moment zurückgezogen.
  Abgedruckt wurde sein Beitrag nun, fast 30 Jahre später, in Sinn und Form, ein Text, der sich fast wie ein aktueller liest, mit anklagenden, uns allen allzu bekannten Thesen, die in ihrer ausufernden Richtigkeit kaum einen mehr überraschen oder gar aufrütteln, zumal der heutigen Jugend das pessimistische Grundgefühl, ein paar Schritte vor der Apokalypse zu stehen, weithin zu fehlen scheint.
  Hildesheimer störte bereits das verharmlosende Wort „Umwelt“. Das Wort „Zukunft“ machte ihm Angst, denn: „Zukunft ist das dauernd Eintreffende, mitunter das Herbeigesehnte, immer öfter jedoch das furchtbar über uns Kommende.“ Und die halbherzigen Schlagwörter von Politikern und Wissenschaftlern sind ihm „barer Hohn, ein Balancieren mit Alibis und Ausreden.“ Hier mache sich der „Jargon der Schuldigen“ breit.
  Hildesheimer sah eine „in ihrer sträflichen Sorglosigkeit“ ihm unverständliche Mehrheit am Werk, deren kollektives Unbewusstes von Verdrängung beherrscht wurde. Ihr stellte er konkrete Fragen zum Beispiel nach dem Verbleib des Sondermülls, Giftmülls, Filterstaubs; er konfrontierte sie mit dem Robbensterben, der Hochseevergiftung, der Abholzung der Regenwälder, der Erderwärmung und so fort. „Fortschritt“ und „Wachstum“ – diese bis heute unsere Gesellschaften bestimmenden Werte, waren für ihn nur Wörter, „die das mit dem Absurden vermischte Grauen bezeichnen. Beide führen zum Tod der Erde.“
 Vielleicht sollten wir mit einem Gedicht schließen. In Sinn und Form fand ich einige sehr lebendige Texte des 1932 in Herne geborenen, seit langem in Berlin lebenden und lehrenden Lyrikers und Lyrik-Experten Harald Hartung, den die Erinnerung nicht ruhen lässt. Eines heißt „Vaters Musik“:
  „Vater spielt sie noch immer / Schumanns Träumerei / spielt sie auf dem Harmonium // im Schlafzimmer wo eine / Kerze blakt und das / Fieber nach Hustensaft schmeckt // Ich sehe wieder seinen / Schatten gegen den / Winterhimmel Kriegshimmel // und träume mich ins Geheul / der Sirenen, die / Bahnen der Flakscheinwerfer // Während das alles erlischt / ist auch Vater fort / nur die Musik macht weiter“

Literatur und Kritik: Heft 507/508, September 2016   externer Link
(Ernst-Thun-Straße 11, 5020 Salzburg), 10,– €.

Trompete: Nr. 9, Sommer 2016   externer Link
(Theo Köppen, Greifswalder Weg 2, 37083 Göttingen), 10,– €.

Merkur: Heft 810/2016  externer Link
Klett-Cotta, Redaktion: Mommsenstr. 29, 10629 Berlin. 12,– €.

Sinn und Form: Heft 6, November/Dezember 2016   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,– €.

 

 
Michael Buselmeier
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