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Juli 2014
Der grandiosen Zeitschrift Lettre International kann man als Rezensent nicht wirklich gerecht werden, denn sie versammelt in jeder Nummer auf rund 150 großformatigen Seiten an die 30 zum Teil umfangreiche Beiträge zu den unterschiedlichsten Themen. In der jüngsten Ausgabe geht es etwa um Fußball in Brasilien, die klassische Kultur Chinas, ukrainische Verwerfungen, den Bürgerkrieg in Syrien und Napoleon Bonaparte.
Doch man kann in Lettre auch ganz randständige und dem Zeitgeist ferne Essays von großer poetischer Ausstrahlung entdecken. So hat Joachim Kalka einen feinsinnigen Abriss der Geschichte des Mondes in Literatur, Malerei und Film beigesteuert, eine Sammlung von Überraschungen und Ausgrabungen. Dass vor genau 45 Jahren, im Juli 1969, Neil Armstrong im Rahmen der Apollo 11-Mission als erster Mensch den Mond betrat und ihm damit viel von seinem Geheimnis raubte, interessiert hier nicht. Es geht vielmehr um das „Tote“, „Leere“, „Unheimliche“ des in den meisten Kulturen weiblichen Mondes, dessen sich wandelnde Zeichen die Menschen, lange bevor sie eine Schrift besaßen, zu deuten versuchten.
In diesem Zusammenhang erinnert Kalka an das einst populäre und noch immer anrührende Kinderbuch „Peterchens Mondfahrt“ aus dem Jahr 1916. Geschrieben hat es Gerdt von Bassewitz, die schönen Illustrationen stammen von dem heute vergessenen Maler Hans Baluschek. Zwei „gute Kinder“ fliegen zum „geistergrauen“ Mond, um das Beinchen des Maikäfers Sumsemann zurückzuholen, das der gefräßige Mann im Mond nicht herausrücken will. Sterne und Naturgeister, das Sandmännchen und der Große Bär stehen den Kindern auf diesem leblosen Himmelskörper bei, dessen Unheimlichkeit angeblich auch den Mond anbellende Wölfe und Hunde empfinden.
Kalka erinnert auch an Marcel Carnés einzigartigen (Theater-)Film „Die Kinder des Olymp“ von 1945, in dessen Zentrum die von Jean-Louis Barrault verkörperte Pierrot- Figur steht. Dieser Baptiste, ein Pantomime, ist „ganz dem Mond zugehörig“. Das Weiß, das ihn kleidet, ist „das Mondenweiß der verwunschenen und bedrohten Melancholie“. Er ist ein Träumer, heißt es im Film und daraus folgt für die anderen Figuren: „Er ist nicht wie wir! Er gehört nicht zu uns!“ Er ist eben „vom Mond gefallen.“
Ebenfalls in Lettre berichtet der mittlerweile 93jährige Weltbürger Georg Stefan Troller anschaulich wie immer über sein aufregendes Leben in Paris, wo er als Jüngling im Frühjahr 1939, auf der Flucht vor den Nazis, mit seinen Eltern aus Wien kommend, zum ersten Mal eintraf. Zu dritt bewohnten sie ein Zimmer in einem schäbigen Emigrantenhotel. Paris kam dem jungen Troller „fremd und doch irgendwie seelenverwandt“ vor, „eine richtige Metropole, unmoralisch, frech, dünkelhaft“, aber auch „furchteinflößend“. Nachts wanderte er, dem Internierungslager entronnen, durch die verdunkelten Gassen, die geheimnisvollen Durchgänge und Passagen; poetische Entdeckungsreisen im Mondlicht: „Zum ersten Mal empfand ich echte Zugehörigkeit zu dieser von mir erlaufenen Stadt. Sie hatte mich aufgenommen.“
1944 kam Troller, diesmal als amerikanischer Soldat, in „seine“ gerade befreite Stadt zurück. Und ab 1949 blieb er dann endgültig, zunächst als rasch frustrierter Student der Vergleichenden Literatur an der Sorbonne, doch bald schon, immer erfolgreicher, als Journalist in den zahllosen Cafés und Künstlerclubs unterwegs, wo er Edith Piaf und Juliette Gréco bewunderte, als Reporter für deutsche Rundfunkanstalten und – mit seinen legendären „Personenbeschreibungen“ – für das heraufkommende Fernsehen tätig.
Die jüngste Ausgabe der Grazer manuskripte wird eröffnet mit dem tatsächlich letzten Prosatext von Urs Widmer, der im vergangenen April in einem Züricher Krankenhaus starb. Ein paar Wochen vor seinem Tod hat er ihn dem Schriftsteller Klaus Hoffer für die manuskripte übergeben, die schon seine frühesten Texte veröffentlicht hatten. Er wolle damit vermeiden, „dass die Blätter einzeln davon flattern.“
Dargestellt ist ein ebenso poetischer wie grotesker Abgang: Der Ich-Erzähler stürzt über eine Kante jäh in einen Abgrund und fliegt „im freien Fall“ unaufhaltsam, noch „im Fahrtwind das Notizbuch haltend“, durch den Weltraum. „Wer über den Rand der Erde tritt“, verkündet Widmer, „fliegt, kann sein, Lichtjahre ohne Harm, wenn er nicht das Pech hat, gleich auf dem Mond aufzuschlagen.“ Noch im Vergehen hofft der Erzähler, dass seine Notizen irgendwie „zur Erde zurückkommen.“
Im Essayteil der manuskripte bemüht sich Moritz Klein um eine Übersicht über W.G. Sebalds eigensinniges Werk anlässlich seines 70. Geburtstags. (Er starb bereits im Dezember 2001 bei einem Autounfall.) Von Sebalds Ich-Erzähler heißt es, er sei „immer unterwegs, wenn wir ihn zu Gesicht bekommen“, und zwar in fast allen Bücher zu Fuß und „allein“ (obwohl der in England lebende Schriftsteller und Germanist Familienvater war), und er sei mit seinem Autor weitgehend identisch. Was ihn zu einer Reise antreibe, sei ihm „selber nicht recht erfindlich.“ Mal sind es „Studienzwecke“, mal „Ausbruchswünsche“. Das vielfältige Material, das er dabei zusammenträgt, hat viel mit „Tod, Vergänglichkeit, Verlust“ zu tun. Es sind Niedergangs-Geschichten. Man sieht verfallende Villen, brachliegende Felder, dazu werden die krummen Lebensläufe einsamer Junggesellen erzählt. Sebalds literarische Leistung besteht – nicht nur für Moritz Klein – darin, dass er mit seiner hoch differenzierten Erinnerungsprosa Bilder von Landschaften und Menschen gerettet hat, die Gefahr liefen, unterzugehen.
Victor Brombert, 1923 als Sohn jüdischer Eltern in Berlin geboren, musste – ähnlich wie Georg Stefan Troller – mit seiner Familie 1933 nach Paris und 1941 in die USA fliehen. Er lehrte in Yale und Princeton Romanistik. Im Juniheft der Akzente berichtet er über „Lebenszeichen der Sterblichkeit“, die ihm auf Grund von frühen Todesfällen, aber auch durch die Erfahrung des Krieges von Jugend auf vertraut sind. Das Thema Tod ist für Brombert in besonderer Weise mit der Literatur verknüpft, mit Platon, Baudelaire, Montaigne. Und auch er sieht es (wie Sebald) mehr und mehr als seine Aufgabe an, „den Toten eine Stimme zu geben“, um vielleicht so „dem Unvermeidlichen zu entkommen oder es wenigstens hinauszuzögern.“ Doch nicht mal das Schreiben über den Tod befreie von der Angst davor.
In den Akzenten ferner späte Gedichte von Andrea Zanzotto, der im Oktober 2011 im Alter von 90 Jahren starb, übersetzt von Theresia Prammer. Auch er muss seine greisenhafte Ohnmacht eingestehen angesichts der „Krallenhiebe des Nichtseins“, muss den Jähzorn hinnehmen, der ihn zum „Tier“ macht, weil er immer häufiger hinfällt und vieles vergisst. „Alt bin ich geworden / mich bleichte der Eispol“, klagte schon früh Friedrich Hölderlin. Bei Andrea Zanzotto fallen Eisblöcke „vom siebten Himmel“ und lassen die Zunge gefrieren.
Lettre International: Nr. 105, Sommer 2014
(Erkelenzdamm 59/61,10999 Berlin), 13,90 €.
manuskripte: Nr. 204, Juni 2014
(A-8010 Graz, Sackstraße 17), 11,70 €.
Akzente:
Heft 3, Juni 2014
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
Michael Buselmeier 25.07.2014
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Michael Buselmeier
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