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März 2015
Mit dem Beginn des neuen Jahrgangs hat der traditionsreiche Merkur sein Erscheinungsbild verändert. Man möchte ein Stück weit mit der Zeit gehen; an mehr als eine optische Auffrischung war aber nicht gedacht. Das Heftformat ist in der Länge um einen Zentimeter geschrumpft, der Umschlag ist offenporig und matter, auch verletzlicher geworden, der Satzspiegel wurde aufgelockert, Zwischenüberschriften wurden eingeführt. So sind die oft komplizierten Texte besser zu lesen. Jedes Heft verfügt nun über ein Editorial und ist für sich paginiert. Es gibt sogar Farbphotographien. Inhaltlich herrscht weiterhin höchste Qualität, nur fehlt die streitbar- konservative Position eines Karl Heinz Bohrer ein wenig.
Aus dem Januarheft ragen die elf neuen Texte des unermüdlichen Alexander Kluge heraus, Geschichten, die einmal mehr vom „Rumoren der verschluckten Welt“ und von der „Unverwüstlichkeit menschlicher Arbeit“ zeugen. In einer dieser Erzählungen sieht man den dreizehnjährigen Kluge im April 1945 in den Trümmern des Elternhauses nach seiner ersten Armbanduhr graben. Er ist überzeugt, dass sie unter dem Schutt weiter tickt und dass ihre Leuchtziffern die Zeit noch eine Weile mitteilen. Auch die übrigen Geschichten handeln vom Kriegsende, von Grasbüscheln, die einen Bombentrichter überwuchern; von einem Soldaten, dem der Ausbruch aus der Reichskanzlei gelingt, ein treuer Bote, der Hitlers Testament in einem Beutel auf der Brust trägt, doch im Westen niemanden findet, dem er das Schriftstück überreichen könnte. Oder die fiktive Lebensgeschichte eines im April 1945 Geborenen, der bis 1990 für den Geheimdienst der DDR gearbeitet hat und seither für die Russen tätig ist, ein Spezialist für den Nahen Osten, der von Syrien aus operiert,
Das Februar-Heft des Merkur eröffnet die Dankrede des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani zur Verleihung des Joseph Breitbach-Preises, den er für seinen umfangreichen Roman „Dein Name“ (2011) erhielt. Ein anrührender Text, der – wie auch der Roman – der toten Freunde gedenkt, im Fall der vielschichtigen Dankrede der Menschen, die seit dem Erscheinen des Romans hinzugekommen sind. Kermani beschreibt fünf Tote, die mit dem Roman „Dein Name“ in Verbindung standen: als Freund, als Verwandter, als Kollege.
An Heinz Ludwig Arnold wird erinnert, den Kritiker und Begründer der Zeitschrift Text und Kritik und zweier riesenhafter Lexikonprojekte, der im November 2011, drei Monate nach Erscheinen des Romans, in Göttingen an Krebs starb. Kermani schildert Arnold als treuen Freund und Berater, wie er überhaupt von lauter besten Freunden umgeben zu sein scheint, die seine Karriere fördern. Etwa sein Schulrektor in Siegen, ohne dessen Fürsorge er kein Abitur gemacht und auch nicht Orientalistik studiert hätte. Oder eine iranische Tante, deren „vollständige Sanftmut“ er immer in den Sommerferien genoss.
Besonders interessiert naturgemäß das Porträt, das Navid Kermani von dem im Juni 2014 gestorbenen, mit Elogen überhäuften Frank Schirrmacher zeichnet. Der habe ihn schon als Student gefördert und ihm nach der Promotion einen Vertrag als Kulturkorrespondent der FAZ im Nahen Osten angeboten: „Schirrmacher schien einen Narren an mir gefressen zu haben.“ Doch von einem Tag auf den anderen zog ihn ein neues Thema – die Hirnforschung – in den Bann, und er hatte für Kermanis Projekte überhaupt keinen Blick mehr, der daraufhin gekränkt bei der FAZ kündigte. Schirrmacher brachte ihm fortan nur Verachtung entgegen, wie allen, „die sich von ihm abwandten.“ Kermani zitiert einen ebenfalls enttäuschten Redakteur: „Wer Schirrmacher den Rücken kehrt, dem schmeißt er eine Axt hinterher.“
Das März-Heft des Merkur eröffnet ein brillanter Essay von Burkhard Müller über das schillernde Kunstfälscher-Paar Wolfgang und Helene Beltracchi. Angeblich üben große Kunstfälscher eine Strahlkraft aus, die anderen Straftätern fehlt. Die Beltracchis verkörperten den Typus der Amsterdamer Hippies aus den 60er und 70er Jahren, sie waren Schauspieler und Hochstapler, die zugleich frech und devot auftraten. Beltracchi verstand sich, so Müller, als „Künstler alten Stils“, der den Pinsel noch selbst führt und nicht, wie etwa Jeff Koons, malen lässt; kein Nachahmer, sondern ein Nachempfinder. Er suchte „nach einer Lücke im Werk, die ihn einlässt“. Er fälschte Gemälde, die „sozusagen nur zufällig nicht entstanden sind.“
Der Fälscher erscheint, solange er unentdeckt bleibt, als „großer Wohltäter des Markts und Betriebs“, als „ihr Gleitmittel.“ Alle, auch der vorgebliche Max Ernst-Experte Werner Spies, haben am Betrug gut verdient. Deshalb will der Kunstmarkt bis heute auch gar nicht so genau wissen, was echt und was falsch ist. Im Prozess ging es nur um 14 gefälschte Gemälde. Es hängen in den Galerien und Sammlungen der Welt also noch immer etwa 300 Schöpfungen Beltracchis im Stil der klassischen Moderne, die keiner von echten Werken unterscheiden kann oder will.
Die jüngste Ausgabe der horen versammelt Texte zu einer „literarischen Topographie der Gegenwart“. Einige eher willkürlich ausgewählte Orte werden vorgestellt. Svealena Kutschke berichtet von ihrer Stadt Lübeck. „Der Ort der Literatur ist die Heimat“, befindet sie und fährt fort: „Den Ort, an den man gebunden ist, sucht man sich nicht aus.“ Auch die Themen, „die man verhandelt, sucht man sich nicht aus.“ Gerade die Heimat erfordere eine penible Recherche, und doch müsse man, um zu schreiben, das Gelernte wieder vergessen und „in die Unschärfe zurückgehen.“ Jeder Ort, meint Svealena Kutschke, „ist ein fiktiver, wenn man über ihn erzählt. Jede Stadt ist eine Fiktion, wenn sie eine Geschichte trägt. Denn jede Erinnerung ist eine Fiktion. Ein zuverlässiges, neutrales Gedächtnis gibt es nicht. Die Erinnerung schreibt sich in jedem Akt neu.“
Von einem fiktiven Dorf in Ostfriesland namens Jericho, in dem sein 2011 erschienener Roman „Gegen die Welt“ spielt, erzählt Jan Brandt. Dahinter verbirgt sich nicht etwa die Stadt Leer, wie es in den meisten Rezensionen zu lesen war, sondern die kleine ostfriesische Ortschaft Ihrhove, in der der Autor aufgewachsen ist. Er beschreibt sie im Detail: die Bahnhofstraße und deren Straßenbelag, die Handwerksbetriebe, die Menschen, auch Außenseiter und Originale wie einen Botengänger mit seinem Fahrrad. Doch er versteht sich nicht Chronist
Um seinen Roman voranzutreiben, hat Jan Brandt Interviews geführt, etwa mit Landwirten, die ihre Höfe aufgegeben haben. Manche sprachen offen mit ihm, andere begegneten ihm mit Misstrauen. Aus dem gesammelten Material entwarf er schreibend eine „zweite Heimat“, die nur in seinem Kopf existierte, einen Ort, „in dem sich die realen und fiktiven Geschichten vermischten.“ Für ihn wählte er den Namen Jericho, ein Dorf, das überall und nirgendwo ist.
In dem horen-Band findet sich auch ein Gespräch mit dem 2013 gestorbenen Peter Kurzeck, der so intensiv und leuchtend immer wieder über seine Orte geschrieben hat, über das hessische Kindheitsdorf Staufenberg sowie über Frankfurt. Der Band ist Kurzecks Andenken gewidmet, seiner Fähigkeit, „so wahrheitsgetreu wie möglich zu arbeiten und nichts auszublenden, nichts wegzulassen, was sich in seine Bücher hineindrängt“, vor allem das eigene Leben, die eigene Sprache, die eigenen inneren Bilder mit einzubringen.
Dass Literatur primär aus Orten hervorgeht, aus verlorenen, halb vergessenen Kindheits-Landschaften, macht auch der 1946 geborene Gert Loschütz mit einem luziden Essay in Sinn und Form deutlich. Er verweist darauf, dass einige der eindrücklichsten Bücher des 20. Jahrhunderts über Orte, Städte und Landschaften von Autoren geschrieben wurden, die diese unter dem Zwang der Umstände verlassen mussten, und nennt das Danzig von Günter Grass, das Mecklenburg von Uwe Johnson, die Mark Brandenburg von Helga M. Novak, aber auch das Dublin von James Joyce oder Joseph Brodskys St. Petersburg: „Allen hat die Sehnsucht nach ihrem Ort die Erinnerung geschärft, womit weniger die Erinnerung an Ereignisse gemeint ist als vielmehr die an Gerüche, Geräusche, Spracheigentümlichkeiten, Landschaftsformationen … an ein bestimmtes Licht.“
Mag der Heimatverlust eine Bedingung für das Entstehen großer Literatur sein – es gibt auch Gegenbeispiele, etwa Hermann Lenz, William Faulkner oder Italo Svevo, die „von mustergültiger Sesshaftigkeit“ waren und den Ort ihrer Sehnsucht nur selten verlassen haben. Im Fall von Lenz scheint es Loschütz so, als sei „dieser Autor aus seiner Zeit emigriert wie Novak und Johnson aus ihrem Land“, als sei sein Stuttgart ein ebensolcher Sehnsuchtsort wie Johnsons (fiktives) Jerichow, und es gehe Lenz vor allem darum, „eine Wirklichkeit, die vergangen ist, wiederherzustellen“, was freilich unmöglich ist.
Der 1971 in Hamburg geborene Jan Wagner zählt zu den erfolgreichsten Lyrikern seiner Generation; ihm wurde zuletzt der Mörike-Preis der Stadt Fellbach und in diesen Tagen sogar der Preis der Leipziger Buchmesse (für den Gedichtband „Regentonnenvariationen“) verliehen. Begonnen hat der studierte Anglist als Übersetzer des amerikanischen Dichters Charles Simic. Die jüngste Ausgabe von Sinn und Form enthält ein anregendes und lehrreiches Gespräch über das freie Spiel der Poesie, das Ralph Schock mit Wagner für den Saarländischen Rundfunk geführt hat.
Nach einem Diktum der von Jan Wagner verehrten Emily Dickinson soll das Gedicht die Wahrnehmung der Welt verändern. Der Reim sei zwar ein konventionelles Mittel, aber man könne ihn auch experimentell nutzen. Er gebrauche den Reim, sagt Wagner, „als eine Art kreativen Widerstand, der mich in bildliche und metaphorische Bereiche zwingt, in die ich sonst nicht gelangt wäre.“ In der Tradition englischer Poeten bevorzugt er Assonanzen und Konsonanzen, unreine oder auch falsche Reime. Der reine Reim scheint verpönt. Es gehe nicht darum, eine Form auszufüllen, „sondern darum, die Form zu nutzen, um das Gedicht sich erfüllen zu lassen.
Ähnlich wie der große amerikanische Poet William Carlos Williams schreibt Wagner Gedichte über die kleinen, vermeintlich banalen Gegenstände wie Teebeutel, Nägel, Kohlen, Unkraut, Regenwürmer, die man leicht übersieht, die im Gedicht aber „einen Schatz darstellen, weil sie plötzlich eine große Kraft freisetzen.“ Alles kann ja zum Gedicht werden. Oder zum japanischen Haiku: „ich hob den deckel / und blickte ins riesige / auge der amsel.“
Merkur: Heft 1, 2, 3, 2015
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), je Heft 12,– €.
die horen, Nr. 257, 2015
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,– €.
Sinn und Form, Heft 1 u. 2, 2015
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), je Heft 11,– €.
Michael Buselmeier 19.03.2015
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Michael Buselmeier
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