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März 2015
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Zeitschriftenlese  –  
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Mit dem Beginn des neuen Jahrgangs hat der traditionsreiche Merkur sein Er­schei­nungs­bild verändert. Man möchte ein Stück weit mit der Zeit gehen; an mehr als eine optische Auf­frischung war aber nicht gedacht. Das Heft­format ist in der Länge um einen Zentimeter geschrumpft, der Umschlag ist offen­porig und matter, auch ver­letz­licher geworden, der Satz­spiegel wurde aufge­lockert, Zwischen­über­schrif­ten wurden eingeführt. So sind die oft kompli­zier­ten Texte besser zu lesen. Jedes Heft verfügt nun über ein Editorial und ist für sich paginiert. Es gibt sogar Farb­photo­graphien. Inhalt­lich herrscht weiter­hin höchste Qua­lität, nur fehlt die streit­bar-konser­vative Position eines Karl Heinz Bohrer ein wenig.
  Aus dem Januarheft ragen die elf neuen Texte des unermüd­lichen Alexander Kluge heraus, Geschichten, die einmal mehr vom „Rumoren der ver­schluckten Welt“ und von der „Unver­wüst­lich­keit mensch­licher Arbeit“ zeugen. In einer dieser Erzäh­lungen sieht man den drei­zehn­jährigen Kluge im April 1945 in den Trümmern des Eltern­hauses nach seiner ersten Armbanduhr graben. Er ist überzeugt, dass sie unter dem Schutt weiter tickt und dass ihre Leuchtziffern die Zeit noch eine Weile mitteilen. Auch die übrigen Geschichten handeln vom Kriegs­ende, von Gras­büscheln, die einen Bomben­trichter überwuchern; von einem Soldaten, dem der Ausbruch aus der Reichskanzlei gelingt, ein treuer Bote, der Hitlers Testament in einem Beutel auf der Brust trägt, doch im Westen niemanden findet, dem er das Schrift­stück über­reichen könnte. Oder die fiktive Lebens­geschichte eines im April 1945 Geborenen, der bis 1990 für den Geheim­dienst der DDR gearbeitet hat und seither für die Russen tätig ist, ein Spezialist für den Nahen Osten, der von Syrien aus operiert,
  Das Februar-Heft des Merkur eröffnet die Dankrede des deutsch-iranischen Schrift­stellers Navid Kermani zur Verleihung des Joseph Breitbach-Preises, den er für seinen umfang­reichen Roman „Dein Name“ (2011) erhielt. Ein anrührender Text, der – wie auch der Roman – der toten Freunde gedenkt, im Fall der viel­schichtigen Dankrede der Menschen, die seit dem Erschei­nen des Romans hinzu­gekommen sind. Kermani beschreibt fünf Tote, die mit dem Roman „Dein Name“ in Verbindung standen: als Freund, als Verwandter, als Kollege.
  An Heinz Ludwig Arnold wird erinnert, den Kritiker und Begründer der Zeitschrift Text und Kritik und zweier riesenhafter Lexikon­projekte, der im November 2011, drei Monate nach Erscheinen des Romans, in Göttingen an Krebs starb. Kermani schildert Arnold als treuen Freund und Berater, wie er über­haupt von lauter besten Freunden umgeben zu sein scheint, die seine Karriere fördern. Etwa sein Schulrektor in Siegen, ohne dessen Fürsorge er kein Abitur gemacht und auch nicht Orientalistik studiert hätte. Oder eine iranische Tante, deren „voll­ständige Sanftmut“ er immer in den Sommer­ferien genoss.
  Besonders interessiert naturgemäß das Porträt, das Navid Kermani von dem im Juni 2014 gestorbenen, mit Elogen über­häuften Frank Schirrmacher zeichnet. Der habe ihn schon als Student gefördert und ihm nach der Promo­tion einen Vertrag als Kultur­korre­spondent der FAZ im Nahen Osten angeboten: „Schirr­macher schien einen Narren an mir gefressen zu haben.“ Doch von einem Tag auf den anderen zog ihn ein neues Thema – die Hirnforschung – in den Bann, und er hatte für Kermanis Projekte überhaupt keinen Blick mehr, der daraufhin gekränkt bei der FAZ kündigte. Schirr­macher brachte ihm fortan nur Ver­achtung entgegen, wie allen, „die sich von ihm abwandten.“ Kermani zitiert einen ebenfalls enttäuschten Redakteur: „Wer Schirr­macher den Rücken kehrt, dem schmeißt er eine Axt hinterher.“
  Das März-Heft des Merkur eröffnet ein brillanter Essay von Burkhard Müller über das schillernde Kunst­fälscher-Paar Wolfgang und Helene Beltracchi. Angeblich üben große Kunst­fälscher eine Strahlkraft aus, die anderen Straf­tätern fehlt. Die Beltracchis verkörperten den Typus der Amster­damer Hippies aus den 60er und 70er Jahren, sie waren Schauspieler und Hochstapler, die zugleich frech und devot auftraten. Beltracchi verstand sich, so Müller, als „Künst­ler alten Stils“, der den Pinsel noch selbst führt und nicht, wie etwa Jeff Koons, malen lässt; kein Nachahmer, sondern ein Nachempfinder. Er suchte „nach einer Lücke im Werk, die ihn einlässt“. Er fälschte Gemälde, die „so­zusagen nur zufällig nicht entstanden sind.“
  Der Fälscher erscheint, solange er unentdeckt bleibt, als „großer Wohltäter des Markts und Betriebs“, als „ihr Gleit­mittel.“ Alle, auch der vorgebliche Max Ernst-Experte Werner Spies, haben am Betrug gut verdient. Deshalb will der Kunst­markt bis heute auch gar nicht so genau wissen, was echt und was falsch ist. Im Pro­zess ging es nur um 14 gefälschte Gemälde. Es hängen in den Galerien und Samm­lungen der Welt also noch immer etwa 300 Schöpfungen Beltracchis im Stil der klas­sischen Moderne, die keiner von echten Werken unter­scheiden kann oder will.
  Die jüngste Ausgabe der horen versammelt Texte zu einer „lite­rarischen Topo­graphie der Gegen­wart“. Einige eher willkürlich ausgewählte Orte werden vorgestellt. Svealena Kutschke berichtet von ihrer Stadt Lübeck. „Der Ort der Literatur ist die Heimat“, befindet sie und fährt fort: „Den Ort, an den man gebunden ist, sucht man sich nicht aus.“ Auch die Themen, „die man verhandelt, sucht man sich nicht aus.“ Gerade die Heimat erfordere eine penible Recherche, und doch müsse man, um zu schreiben, das Gelernte wieder ver­gessen und „in die Un­schärfe zurückgehen.“ Jeder Ort, meint Svealena Kutschke, „ist ein fiktiver, wenn man über ihn erzählt. Jede Stadt ist eine Fiktion, wenn sie eine Geschichte trägt. Denn jede Erin­nerung ist eine Fiktion. Ein zu­ver­lässiges, neu­trales Gedächtnis gibt es nicht. Die Erin­nerung schreibt sich in jedem Akt neu.“
  Von einem fiktiven Dorf in Ostfriesland namens Jericho, in dem sein 2011 erschienener Roman „Gegen die Welt“ spielt, erzählt Jan Brandt. Dahinter verbirgt sich nicht etwa die Stadt Leer, wie es in den meisten Rezen­sionen zu lesen war, sondern die kleine ostfriesische Ortschaft Ihrhove, in der der Autor aufgewachsen ist. Er be­schreibt sie im Detail: die Bahn­hofstraße und deren Straßenbelag, die Hand­werks­betriebe, die Menschen, auch Außenseiter und Originale wie einen Botengänger mit seinem Fahrrad. Doch er versteht sich nicht Chronist
  Um seinen Roman voranzutreiben, hat Jan Brandt Interviews geführt, etwa mit Landwirten, die ihre Höfe aufgegeben haben. Manche sprachen offen mit ihm, andere begegneten ihm mit Misstrauen. Aus dem ge­sammelten Material entwarf er schreibend eine „zweite Heimat“, die nur in seinem Kopf existierte, einen Ort, „in dem sich die realen und fiktiven Geschichten ver­mischten.“ Für ihn wählte er den Namen Jericho, ein Dorf, das überall und nirgendwo ist.
  In dem horen-Band findet sich auch ein Gespräch mit dem 2013 gestor­benen Peter Kurzeck, der so intensiv und leuchtend immer wieder über seine Orte geschrie­ben hat, über das hessische Kind­heits­dorf Staufen­berg sowie über Frankfurt. Der Band ist Kurzecks An­denken gewidmet, seiner Fähigkeit, „so wahr­heits­getreu wie möglich zu arbeiten und nichts aus­zublenden, nichts weg­zulassen, was sich in seine Bücher hinein­drängt“, vor allem das eigene Leben, die eigene Sprache, die eigenen inneren Bilder mit einzubringen.
  Dass Literatur primär aus Orten hervorgeht, aus verlorenen, halb verges­senen Kind­heits-Land­schaften, macht auch der 1946 geborene Gert Loschütz mit einem luziden Essay in Sinn und Form deutlich. Er verweist darauf, dass einige der ein­drück­lichs­ten Bücher des 20. Jahr­hunderts über Orte, Städte und Land­schaften von Autoren geschrieben wurden, die diese unter dem Zwang der Umstände verlassen mussten, und nennt das Danzig von Günter Grass, das Mecklenburg von Uwe Johnson, die Mark Brandenburg von Helga M. Novak, aber auch das Dublin von James Joyce oder Joseph Brodskys St. Peters­burg: „Allen hat die Sehnsucht nach ihrem Ort die Erin­nerung geschärft, womit weniger die Erin­nerung an Ereignisse gemeint ist als vielmehr die an Gerüche, Geräusche, Sprach­eigen­tüm­lich­keiten, Land­schafts­forma­tionen … an ein be­stimmtes Licht.“
  Mag der Heimatverlust eine Bedingung für das Entstehen großer Literatur sein – es gibt auch Gegen­beispiele, etwa Hermann Lenz, William Faulkner oder Italo Svevo, die „von muster­gültiger Sess­haftig­keit“ waren und den Ort ihrer Sehnsucht nur selten verlassen haben. Im Fall von Lenz scheint es Loschütz so, als sei „dieser Autor aus seiner Zeit emigriert wie Novak und Johnson aus ihrem Land“, als sei sein Stutt­gart ein eben­solcher Sehn­suchts­ort wie Johnsons (fiktives) Jerichow, und es gehe Lenz vor allem darum, „eine Wirklichkeit, die vergangen ist, wieder­her­zu­stellen“, was freilich unmöglich ist.
  Der 1971 in Hamburg geborene Jan Wagner zählt zu den erfolgreichsten Lyrikern seiner Generation; ihm wurde zuletzt der Mörike-Preis der Stadt Fellbach und in diesen Tagen sogar der Preis der Leipziger Buchmesse (für den Gedichtband „Regen­tonnen­varia­tionen“) verliehen. Begonnen hat der studierte Anglist als Über­setzer des ameri­kani­schen Dichters Charles Simic. Die jüngste Ausgabe von Sinn und Form enthält ein an­regendes und lehrreiches Gespräch über das freie Spiel der Poesie, das Ralph Schock mit Wagner für den Saar­ländischen Rundfunk geführt hat.
  Nach einem Diktum der von Jan Wagner verehrten Emily Dickinson soll das Gedicht die Wahr­nehmung der Welt ver­ändern. Der Reim sei zwar ein konven­tionel­les Mittel, aber man könne ihn auch expe­rimen­tell nutzen. Er gebrauche den Reim, sagt Wagner, „als eine Art kreativen Wider­stand, der mich in bild­liche und meta­pho­rische Bereiche zwingt, in die ich sonst nicht gelangt wäre.“ In der Tra­dition engli­scher Poeten bevor­zugt er Asso­nanzen und Kon­sonan­zen, unreine oder auch falsche Reime. Der reine Reim scheint ver­pönt. Es gehe nicht darum, eine Form auszufüllen, „sondern darum, die Form zu nutzen, um das Gedicht sich erfüllen zu lassen.
  Ähnlich wie der große amerikanische Poet William Carlos Williams schreibt Wagner Gedichte über die kleinen, ver­meint­lich banalen Gegen­stände wie Tee­beutel, Nägel, Kohlen, Unkraut, Regen­würmer, die man leicht übersieht, die im Gedicht aber „einen Schatz darstellen, weil sie plötzlich eine große Kraft freisetzen.“ Alles kann ja zum Gedicht werden. Oder zum japani­schen Haiku: „ich hob den deckel / und blickte ins riesige / auge der amsel.“


Merkur: Heft 1, 2, 3, 2015   externer Link
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), je Heft 12,– €.

die horen, Nr. 257, 2015   externer Link
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,– €.

Sinn und Form, Heft 1 u. 2, 2015   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), je Heft 11,– €.

Michael Buselmeier   19.03.2015    

 

 
Michael Buselmeier
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