Januar 2010
Eine neue Zeitschrift ist anzuzeigen, ein Jahrbuch eher, etwas blässlich Gegenstrophe. Blätter für Lyrik getauft, herausgegeben von Michael Braun, Kathrin Dittmer und Martin Rector, und zwar im Zusammenhang mit dem im September 2008 erstmals in Hannover vergebenen Hölty-Preis. Die Herausgeber sind bemüht, über die Dokumentation des Preises hinaus ein Forum für Lyrik zu etablieren. Zwar mangelt es, angesichts der verschiedensten Zeitschriften, nicht an Möglichkeiten zur Publikation von Gedichten, doch erscheint das einflussreiche, von Christoph Buchwald 1979 begründete Jahrbuch der Lyrik seit 2009 nicht mehr, und vielleicht kann die Gegenstrophe ja diese Lücke ausfüllen.
Die neue Publikation scheint dafür gerüstet. Die erste Ausgabe ist jedenfalls kenntnisreich und übersichtlich gegliedert: Unter der Rubrik „Premiere“ werden Gedichte bislang wenig bekannter Autoren vorgestellt. Die „Porträts“ widmen sich Dichtern, die 2008 beim Lyrikfest in Hannover gelesen haben: Dorothea Grünzweig, Norbert Hummelt, Norbert Lange und Uljana Wolf. In der Rubrik „Essay“ analysiert Michael Braun unter dem schönen Titel Ein Lied aus reinem Nichts den „Sprachstoff“ der Jungen Lyrik. „Gute Dichtung“, heißt es dort etwas apodiktisch, beginne „mit dem Totalverlust aller Gewissheit.“ Sie müsse „vertraute Sprach-Strukturen aus den Angeln heben, sie dynamisieren und semantischen Zerreißproben aussetzen.“ Unter der nützlichen Rubrik „Recherche“ werden alle relevanten Lyrik- Veröffentlichungen der Jahre 2008 und 2009 bibliographisch erschlossen, unterteilt in Anthologien, deutschsprachige und fremdsprachige Lyrik.
Im Zentrum der ersten Gegenstrophe steht naturgemäß die Dokumentation des Hölty-Preises 2008, den der 1947 in Dresden geborene und dort lebende Lyriker Thomas Rosenlöcher erhielt. In seiner Laudatio arbeitet Martin Rector drei Motivkomplexe heraus, um die Rosenlöchers Gedichte kreisen: der blühende Garten, die höhere Anwesenheit der Engel und die banalen Requisiten des Alltags (wie Seife und Klappstuhl).
Wer dieser Ludwig Christoph Heinrich Hölty eigentlich war, wissen selbst Germanisten nur selten, auch wenn seine Wendung „Üb' immer Treu und Redlichkeit“ noch hier und da ironisch zitiert wird. 1748 bei Hannover geboren, studierte er in Göttingen, wo er Mitbegründer des „Hainbunds“ war, und starb bereits 1776, erst 27 Jahre alt. Etwa 140 Gedichte haben sich von Hölty erhalten. In seiner Dankrede widmet sich Rosenlöcher einfühlsam Höltys Gedichten, speziell seinem bekanntesten, einer alkäischen Ode:
Ihr Freunde hänget, wann ich gestorben bin,
Die kleine Harfe hinter dem Altar auf,
Wo an der Wand die Todtenkränze
Manches verstorbenen Mädchens schimmern.
Der Küster zeigt dann freundlich dem Reisenden
Die kleine Harfe, rauscht mit dem rothen Band,
Das, an der Harfe festgeschlungen,
Unter den goldenen Saiten flattert.
Für Rosenlöcher ist der Hainbündler Hölty ein Idylliker. Wenn man das Idyll als Ausdruck von Mangelerfahrung begreift, trifft das auch zu. Viele seiner Gedichte sind melancholisch „auf das Ende zugesprochen“, also in Todesnähe geschrieben. Man könnte Hölty auch als ewig Einsamen vorstellen, dessen Werk schon auf Lenau und sogar auf Trakl vorausweist.
Eine aufregende Geschichte um ein Gedicht erzählt der kolumbianische Autor Hector Abad im jüngsten Heft von Lettre International. Am 25. August 1987 wurde Abads Vater in Medellín auf offener Straße ermordet. Ein grausames Foto zeigt ihn, in seinem Blut liegend, umringt von Frau und Kindern. Der Sohn steckte die Hand in die Jackentasche des Toten und zog ein Gedicht hervor, das er dem berühmten argentinischen Dichter Jorge Luis Borges zuschrieb. Er veröffentlichte es in einer Zeitschrift und setzte es auch auf den Grabstein des Vaters. So beginnt es: „Schon sind wir das Vergessen, das wir werden. / Elementarer Staub, der nichts mehr weiß von uns…“ Jahre später erklärten Borges-Experten, Vertraute und die Witwe des Dichters übereinstimmend das Gedicht als Fälschung; es stamme nicht von Borges. Hector Abad ließ sich dadurch nicht entmutigen, er recherchierte weltweit auf verqueren Pfaden, bis er schließlich die Quelle fand und fünf unbekannte Sonette von Borges entdeckte, darunter auch dasjenige, das in der Tasche des toten Vaters steckte: „Unterm gleichgültigen Blau des Himmels / wirkt trostreich, so zu meditieren.“ Die fünf Gedichte sind nun in Lettre zu lesen.
Im gleichen Heft spricht Marek Kedzierski mit Barbara Bray über Samuel Beckett. Drei Jahrzehnte lang war sie Becketts „Lebensmensch“ und arbeitete eng mit ihm zusammen, eine ebenbürtige Beziehung und eine „Seelenverwandtschaft“, sagt sie. Mitte der 50er Jahre war Barbara Bray Chefdramaturgin in der Hörspiel-Abteilung der BBC, und Beckett schrieb mit Alle die da fallen sein erstes Stück für das Radio. Als Übersetzerin von Sartre, Robbe-Grillet und anderen ins Englische beriet sie Beckett auch beim Übertragen seiner Texte vom Englischen ins Französische und umgekehrt. Als ihm das Schreiben im Alter schwerer fiel, hat sie ihm Mut gemacht. In dem Stück Spiel, das aus einer Reihe fragmentierter Geständnisse eines Mannes und zweier Frauen aufgebaut ist, hat Beckett seine Beziehung zu Barbara Bray und zu seiner Frau Suzanne gespiegelt. Kein anderes seiner Werke ist so stark von seinem Privatleben durchdrungen.
Beckett sei kein düsterer Mensch gewesen, meint Barbara Bray. Jeder betrachte ihn als pessimistischen Autor, der das menschliche Dasein als höchst mühevoll dargestellt habe. „Dabei war seine Persönlichkeit strahlend, lebensbejahend und seine Einstellung zu allem positiv.“ Wenn er den Raum betrat, „war das wie ein Blitz, ein blendender Blitz.“ Er sei auch ein Liebhaber der Tradition gewesen und habe das Althergebrachte geachtet. Er habe zwar Neuland erschlossen, aber all das „erwuchs aus seiner Kenntnis der Vergangenheit und der Geschichte.“ Beckett, so erfährt man, rezitierte Oden von Keats, er spielte Haydn, Beethoven und Mozart auf dem Klavier. Er liebte die Gartenarbeit und lange Spaziergänge und sah sich im Fernsehen nur Sportsendungen an.
Im Jahr 2003 erlitt Barbara Bray einen Schlaganfall, der ihr Leben radikal veränderte. Ihre Erinnerungen an Beckett, ihr einziges verbliebenes Buch-Vorhaben, ist dadurch gefährdet. In den Jahren ihrer Freundschaft hat Beckett ihr etwa 800 Briefe geschickt, die es neben Tausenden anderer Schriftstücke von seiner Hand aufzuarbeiten gilt. In chronologischer Reihenfolge lesen sie sich fast wie ein Tagebuch. The Letters of Samuel Beckett, der erste Band einer Briefsammlung, ist 2009 bei der Cambridge University Press erschienen. Drei weitere Bände sollen folgen. Man kann darin, so Marek Kedzierski, „einen bisher unbekannten Beckett“ entdecken.
Von anderer Art, viel bewegter und sprunghafter, sind die Gespräche (ebenfalls in Lettre), die der französische Autor Franck Maubert in den 80er Jahren mit dem existentialistischen Maler Francis Bacon geführt hat. „Reden amüsierte ihn“, erklärt Maubert vorweg. „Reden erregte ihn.“ Er versuche, sagt Bacon, „eine ›klinische‹ Malerei in dem Sinn zu erreichen, in dem Macbeth klinisch ist.“ Die großen Dichter seien „hervorragende Auslöser“ von Bildern: „Ihre Worte sind für mich unentbehrlich, sie stimulieren mich, öffnen mir die Tore des Imaginären.“ Harmlose Dinge mag Bacon nicht. Aber die fetten Fleischstücke im Metzgerladen würden ihn erregen und anregen, sie erinnerten ihn an einen Vers von Aischylos: „Der Geruch nach Menschenblut geht mir nicht aus den Augen.“
Als Maler war Bacon Autodidakt. Er wisse nie, wie ein Bild zustande komme, sagt er. Es entstehe von selbst während der Arbeit. Er habe das Malen ganz allein gelernt, nur für sich gemalt und nie geglaubt, dass sich jemand dafür interessieren könnte. Picassos Werk liebe er, auch van Gogh, Vélazquez, Cézanne, während er den deutschen Expressionismus für „Schund“ halte. Ihm gehe es primär um den „Schock“, den ein Kunstwerk auslösen könne. Malen sei obsessive „Wahrheitssuche“.
Das Wespennest, das sich früher im Untertitel „Zeitschrift für brauchbare Texte“ nannte, war das Projekt einer Wiener Autorengruppe der 68er-Szene, die längst zerfallen ist. Nun ist die Vierteljahrsschrift 40 Jahre alt geworden und wird just in dem Moment auf eine halbjährliche Erscheinungsweise zurückgestutzt. Es hätte nahe gelegen, angesichts des Jubiläums einen Rückblick auf die Anfänge zu werfen, also mit den Gründern und einstigen Machern kontroverse Gespräche zu führen. Dafür waren diese offenbar nicht zu gewinnen, und so wählte man „Altsein“ zum unverbindlichen Heftthema. Dabei geht es nun aber nicht um die Schwierigkeiten des Alterns, die Leiden oder zumindest Einbußen, die es für jeden mit sich bringt, vielmehr werden ein paar Alte aus dem Umfeld der Zeitschrift in Gesprächen und Porträts als Vorbilder präsentiert, die trotz aller Wirren gute Linke, aufrechte Kommunisten geblieben sind. Adolf Holl etwa, ein rebellischer Priester, dem 1973 die kirchliche Lehrbefugnis entzogen wurde, weil er das Buch Jesus in schlechter Gesellschaft veröffentlicht hatte; er spricht flüssig, ja heiter über die „sinkende Zeit.“ Oder der 1917 geborene Gert Hoffmann, der im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Kommunisten mitmischte, bei denen er sich noch immer zu Hause fühlt: „Wenn ihr erwartet, dass ich jetzt losziehe auf den Stalinismus und die Sowjetunion, dann werdet ihr enttäuscht sein.“ Oder die 93jährige Irmgard Heydorn, die sich noch ständig „einmischen“ und „die Welt verändern“ will und sich „überhaupt nicht alt“ vorkommt, obwohl sie auf Krücken geht. Gewiss beeindruckende Gestalten, hätte die Art, wie sie vorgestellt werden, nicht etwas Demonstratives: Hinterfragt diese linken Musterbiographien bloß nicht! Und bemüht euch ein wenig, diesen unbeugsamen Alten ähnlich zu werden!
Der Merkur hat wieder einmal einen Essay-Wettbewerb „Unter dreißig“ gestartet. Es gab nur 26 Einsendungen, von denen die sechs besten im Dezemberheft zu lesen sind, verfasst von jungen Männern zwischen 25 und 30, Studenten der Geisteswissenschaften. Was sie zu den vorgegebenen Themen (Meine Fußballmannschaft, Mein Wegweiser, Aus dem Leben eines Taschentuchs bzw. einer Fledermaus) mitzuteilen haben, ist enttäuschend: ein mutloses opportunistisches Abwägen, das Langeweile erzeugt. Die vorherrschende Erziehung zum Gutmenschen trägt Früchte, ironischerweise auch im Merkur.
Gegenstrophe. Blätter für Lyrik Nr. 1, 2009
Literaturbüro Hannover, Sophienstr. 2, 30159 Hannover, 12,80 €
Lettre International: Nr. 87, Winter 2009
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 11 €
Wespennest: Nr.157, November 2009
Rembrandtstraße 31/4, A-1020 Wien, 12 €
Merkur: Heft 12, Dezember 2009
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 11 €
Michael Buselmeier 20.01.2010
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Januar 2010
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Michael Buselmeier
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