|
|
|
|
Januar 2015
Es war eine zu erwartende und mich doch überraschende Nachricht. Nachdem der vielseitig begabte Schriftsteller Michael Krüger Ende 2013 mit 70 Jahren die Leitung des Carl Hanser Verlags abgegeben hatte, legte er nun, wohl nicht ganz freiwillig, auch sein Amt als Herausgeber der Zeitschrift Akzente nieder, das er fast 40 Jahre lang souverän ausgefüllt hat; zunächst, ab 1975, zusammen mit Hans Bender, ab 1981 dann allein verantwortlich. Sechsmal pro Jahr hat Krüger der deutschen Gegenwartsliteratur Impulse gegeben, indem er Glanzstücke der Moderne, vor allem Gedichte und Essays, zur Diskussion stellte. Mit wenigen Ausnahmen hat er Themenhefte zu vermeiden gewusst, sich damit Planungsmühen erspart, jedoch Offenheit und die Möglichkeit spontanen Reagierens erhalten. Unter Krügers Leitung präsentierten die Akzente bei einer Auflage von etwa 3500 Exemplaren Heft um Heft die neueste (aber auch ältere) Weltliteratur, meist unkommentiert und ohne jeden politisch- pädagogischen Hintersinn, einfach gute Texte, wie es, auf je eigene Art, auch die manuskripte oder Sinn und Form zu tun pflegen.
Das letzte von Michael Krüger verantwortete Heft räumt noch einmal der internationalen Lyrik den ihr eigentlich zustehenden Raum ein, beginnend mit Ibn al-Arabi, der von 1165 bis 1240 lebte. Kenner wie sein Übersetzer Stefan Weidner, halten ihn, „was die Eigenart, Schönheit und gedankliche Tiefe seiner Schriften betrifft“, für einen der größten Autoren der Weltgeschichte. Wir erleben in seinem Werk, so Weidner, „die arabisch-islamische Kultur auf einem ihrer (wiewohl: letzten) Höhepunkte.“ Wiedergegeben ist ein Zyklus von zwölf mystischen, mehrdeutig-geschmeidigen Gedichten, die 1214 in Mekka entstanden sind: „Hoch hinaus hat das verlangen / mich geführt weit hinab mich / der verzicht zwischen tief und hoch / land war ich zerrissen.“
Ferner in den Akzenten eher alltagsnahe Gedichte des 1978 geborenen Polen Lukasz Jarosz, des Holländers Erik Lindner sowie des 1927 geborenen Amerikaners W.S. Merwin. Jedes seiner hier abgedruckten Gedichte befragt lakonisch-skeptisch ein Gegenüber, etwa ein Buch: „Mach weiter du / in deiner eigenen Zeit / weiter werde ich / dich nicht tragen / ich überlasse deine Worte dir / als gehörten sie / dir von Anfang an.“
Auch die horen haben 2012 mit Jürgen Krätzer einen ehrgeizigen neuen Herausgeber erhalten, unter dessen Leitung thematisch gebundene Hefte gegenüber offenen eher zugenommen haben. Die jüngste Ausgabe steht unter dem Titel „Bestandsaufnahme“ und bietet auf den ersten Blick eine Fülle von Themen. Katja Lange-Müller und Lukas Bärfuss äußern sich ausführlich zu Heinrich von Kleist und dem Krieg, Ruth Renée Reif führt ein Gespräch mit dem Heinrich Mann-Herausgeber Wolfgang Klein, Johano Strasser spricht einmal mehr über Lyrik und Politik. Auch das lange vermisste „Bücherforum“ ist wieder da.
Im einleitenden Teil geht es um die verschwundene DDR. Sie wird wieder vorstellbar in eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Photographien. Die 1979 im Sächsischen geborene Ulrike Almut Sandig arbeitet sich an Franz Fühmann und seinem mythischen Werk ab, von dem sie bisher nur die Kinderbücher kannte. Und sie tut sich schwer dabei. Fühmanns „Zeigefinger-Pädagogik“ missfällt der Nachgeborenen, seine Lyrik erscheint ihr „metallisch und leblos“. Nur „Fühmann als Leser“ vermag sie zu fesseln, der „existentielle“ Leser, der gründliche und radikale Autor des großartigen Trakl-Essays „Vor Feuerschlünden“ (im Westen „Der Sturz des Engels“ genannt). Nach und nach begreift Ulrike Sandig Fühmanns literarisches Werk als „Teil eines großen Mythos vom Scheitern.“ Auch er selbst, der kaum noch gelesen wird, verstand sich als Gescheiterter. In der Jugend Anhänger der Nationalsozialisten, wandelte er sich zum gläubigen Kommunisten und schließlich, enttäuscht von der Entwicklung in der DDR, zum Kritiker der dortigen Machthaber.
Wie spartanisch er in Märkisch-Buchholz lebte, in einem einstöckigen Gartenhaus neben einem Wellblechschuppen voller Bücher und einem Plumpsklo, dokumentiert eine Photoserie, aufgenommen von Dietmar Riemann bald nach Fühmanns frühem Tod 1984.
Nicht um den gegenwärtigen Schuldenstaat, den wir alle zu kennen meinen, geht es in der jüngsten, Griechenland gewidmeten Ausgabe der 1890 begründeten Neuen Rundschau. Die Neuzeit spielt darin keine besondere Rolle. Im Zentrum steht das archaisch-klassische Hellas, das heroische, reine, dem sich seit dem 18. Jahrhundert kein Volk so nahe fühlte wie das deutsche. Der Band enthält eine Reihe hoch interessanter wissenschaftlicher Beiträge, die im Einzelnen nicht leicht wiederzugeben sind.
So erzählt Klaus Theweleit von „Göttermännern und Menschenfrauen“, indogermanischen Horden, die vor knapp 4000 Jahren von Norden her in Griechenland eindrangen und ihre Götter, voran Zeus, Poseidon, Hades, mitbrachten, die sogleich über die ansässigen Königstöchter herfielen und mit ihnen „Heroen“ zeugten. Von diesen Halbgöttern, ihren Gewalttaten und brutalen Landnahmen, handeln, so Theweleit, die Gründungsmythen, etwa die Herakles-, Theseus- oder Perseus-Sage.
Von der Übernahme der alphabetischen Schrift im 8. Jahrhundert vor Christus aus dem vorderasiatischen Phönizien berichtet Richard Seaford. War es die Buchstabenschrift, die die Entstehung der griechischen Philosophie und der Tragödie im 6. Jahrhundert befördert hat, wie es der Klassische Philologe Manfred Landfester vermutet, oder war es doch eher, wie Richard Seaford nahelegt, die alles durchdringende „Monetarisierung“ in Folge der Erfindung des Münzgelds?
Präsentiert und kommentiert werden Auszüge aus der noch unpublizierten Neuübertragung der „Ilias“ von Kurt Steinmann. Die 1988 geborene Vea Kaiser lobt die uralte Übersetzung der homerischen Epen durch Johann Heinrich Voß als „Meisterwerk“, während sie für Raoul Schrotts umstrittene Nachdichtungen nur Hohn parat hat. Leute wie er „können gar kein Griechisch, haben jedoch ein auf den ersten Blick raffiniert wirkendes, poetologisches Konzept sowie das Glück, einen Verlag zu finden, in dem alle Mitarbeiter so ahnungslos sind, dass dieser Schmarrn gedruckt wird.“ Schließlich stellt Marco Hillemann am Beispiel des spätromantischen Dichters und Publizisten Wilhelm Müller die Versuche der „philhellenischen Neuaneignung Griechenlands“ im frühen 19. Jahrhundert vor.
Im jüngsten Heft von Sinn und Form macht der Dichter Adam Zagajewski auf den polnisch-jüdischen Schriftsteller Aleksander Wat aufmerksam – eine der wichtigsten Stimmen der polnischen Exilliteratur. Geboren im Jahr 1900, war Wat in seiner Jugend Futurist und veröffentlichte experimentelle Texte. In den dreißiger Jahren engagierte er sich bei den Kommunisten, was ihn freilich vor einer Deportation nach Kasachstan nicht bewahrte. 1946 konnte er nach Polen zurückkehren, zehn Jahre später gelang ihm, bereits schwer krank, die Ausreise nach Frankreich. In Paris entstand, auf der Basis von Tonbandgesprächen mit dem Nobelpreisträger Czeslaw Milosz, Wats bedeutende Autobiographie „Mein Jahrhundert“, die erst 1977, zehn Jahre nach seinem Tod, in London erschien.
Sinn und Form veröffentlicht den Prosatext „Tod eines alten Bolschewiken“, worin Wat ebenfalls von seinen Erfahrungen in den stalinistischen Lagern berichtet, etwa von einer Begegnung mit dem Herausgeber der Berliner Zeitschrift Der Sturm, Herwarth Walden, der 1941 im Straflager Saratow umkam. Laut Zagajewski war Wats „Mein Jahrhundert“ vor allem in Polen eine Sensation: „Neben den Erinnerungen Nadeschda Mandelstams, die mit „Jahrhundert der Wölfe“ gleichsam den Tod Ossip Mandelstams rächen wollte, neben Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ und Gustaw Herling-Grudzinskis „Welt ohne Erbarmen“ war Wats Buch unverzichtbar für jeden, der Aufklärung suchte, der sich von den sowjetischen Lügen befreien wollte.“ Heute, so viele Jahre später, sei das Buch noch immer lebendig: durch die Beschreibung des Gulag aus der Innenperspektive wie aufgrund der „brillanten Intelligenz“ und „Beobachtungsgabe“ seines Autors.
Zehn Jahre alt war der englische Schriftsteller und Schauspieler Heathcote Williams, als ihn sein Vater 1951 mitnahm zu einer Lesung des genialen Waliser Dichters Dylan Thomas ins „Victoria and Albert Museum“. Er erlebte „einen kleinen, pummeligen Mann mit rotbraunem, lockigem Haar“, der sacht hin und her schwankte. Beim Rezitieren traten seine Augen hervor, „und seine Stimme erschallte, laut und rhythmisch, in einer Folge überladener Arien, von einem Sprühregen von Speichel begleitet.“
Die Stimme dieses „besessenen“ Dichters hatte die hypnotische Wirkung einer Orgel und versetzte den jungen Williams „in rapsodische Trance“, wie er nun in einem Essay in Lettre International bekennt. Die dunklen Verse hatten einen Keim gelegt, und so machte sich Williams ein paar Jahre später, 1960, nach Swansea, dem Geburtsort von Dylan Thomas auf, um nach seinen Spuren zu suchen. Er traf auf Leute, die den Dichter noch kannten, ja mit ihm befreundet waren, und einer sagte: „Niemand hat je glanzvoller die Maske der Anarchie getragen.“
Er starb 1953 als „junger Hund“ mit 39 Jahren bei seiner vierten Vortragsreise durch die USA an einer Lungenentzündung, die er wegen seiner Alkoholexzesse nie auskuriert hatte. Er hinterließ seine genialen Verse („Geh nicht gelassen in die gute Nacht. / Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.“) sowie das als Hörspiel konzipierte, enorm erfolgreiche Theaterstück „Unter dem Milchwald“, ein hoch poetisches „Spiel der Stimmen“.
Knapp ein Jahrzehnt nach seinem Tod hat ein damals unbekannter Folksänger namens Robert Allen Zimmerman Dylan Thomas' Identität auf eine – so Williams – „schaurige Weise geplündert.“ Er habe sich Dylans Vornamen geschnappt, „um seine Karriere zu befördern“, was Heathcote Williams Bob Dylan niemals verzeihen wird.
Azente: Heft 6, Dezemebr 2014
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
die horen, Nr. 256, 2014
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,- €.
Neue Rundschau:
Heft 4, 2014
(Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main), 15,- €.
Sinn und Form, Heft 6, 2014
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,- €.
Lettre International: Nr. 107, Winter 2014
(Erkelenzdamm 59/61,10999 Berlin), 13,90 €.
Michael Buselmeier 21.01.2015
|
|