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September 2011
Gerade ist, unter dem Titel „Sag die Wahrheit! Warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind“, das Sonderheft der Zeitschrift Merkur erschienen, ein umfangreicher Band mit 25 anspruchsvollen journalistischen und akademischen Beiträgen, deren Bedeutsamkeit hier nur angetippt werden kann. Im Vorwort verweisen die scheidenden Herausgeber Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel auf Michel Foucault, der die philosophische Form, die Wahrheit zu sagen, mit dem altgriechischen Wort „Parrhesia“ bezeichnet hat. Deren Merkmale seien Offenheit, Engagement, Risiko. Verlangt werde die „unumwundene Rede“, ohne Rücksicht auf mögliche Reaktionen der anderen.
Dazu ist nur ein Außenseiter fähig, der „existentielle Nonkonformist“, womit gewiss nicht die in den Talkshows gefeierten sogenannten „Tabubrecher“, diese „blinzelnden Opportunisten des Zeitgeists“ gemeint sind, sondern wirkliche Dissidenten, kritische Intellektuelle, die – so Adorno – „nicht mitmachen“, dabei freilich der Gefahr ausgesetzt sind, sich für besser zu halten als die übrigen. Wobei es, wie Gustav Seibt anmerkt, für ganz durchschnittliche Menschen überhaupt nicht wünschenswert ist, Außenseiter zu sein, denn ein erzwungenes Leben am Rand kann zur Hölle werden.
Als stolze Verweigerer sahen sich Paul Valéry, André Breton und Jean-Paul Sartre, die sogar miteinander konkurrierten und ihren Nonkonformismus jeweils verschieden begründeten. Der wahre Außenseiter war für Sartre der zum „Heiligen“ erhöhte Dieb, Homosexuelle und Schriftsteller Jean Genet; aber auch Jean-Jacques Rousseau mit seiner radikalen Zivilisationskritik, dessen Widersprüche im Merkur Peter Bürger vorstellt: Die Welt, von der der Außenseiter sich abwendet, „lässt ihn nicht los.“
Dem Katastrophenfilm widmet sich Jörg Lau. Stets sei es in diesem Genre der Außenseiter, der die Welt rettet. In seiner selbstgebauten Hütte am Rand der Gesellschaft spüre er das leise Knirschen der Erdachse, während die Etablierten, blind und behäbig, das nahende Unglück nicht wahrhaben wollen. Insofern erscheint der Außenseiter als eine spezifisch amerikanische Figur der kulturellen Selbsterneuerung. Ein berühmtes Vorbild ist der Waldgänger Henry David Thoreau, der 1854 mit seinem Buch Walden „die mythische Schrift des amerikanischen Nonkonformismus“ vorgelegt hat. Ohne ihn, meint Jörg Lau, „kein Gandhi, kein Martin Luther King, kein Greenpeace.“ Jedenfalls nahm Thoreau Wendungen der Alternativbewegung des folgenden Jahrhunderts vorweg, vom Vegetarismus bis zur Apologie des politischen Terrors.
Mit einer dem Außenseiter ja zugeschriebenen Kühnheit exponiert sich der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz als „Reaktionär“, als einer, der nicht mit den linken Wölfen heult, der also nicht heuchelt, sondern nichts als die Wahrheit sagt. Die moderne Demokratie begünstige den Konformismus, „die Angst, von der Mehrheit geächtet zu werden.“ Zwar reden heute alle von Individualität und Selbstverwirklichung, doch denken, so Bolz, unterm Diktat der politischen Korrektheit, alle dasselbe. Die Massenmedien, vorweg das öffentlich- rechtliche Fernsehen, „wahre Treibhäuser des Konformismus“, propagieren unaufhörlich die homosexuelle Gemeinschaft und die Patchworkfamilie, stellen netten Immigranten prügelnde Einheimische gegenüber. Bolzī Quintessenz: „Seit das Illegitime normalisiert und das Normale stigmatisiert wird, erscheint ein Mensch, der seinen gesunden Menschenverstand bewahrt hat, als reaktionär.“
Reiche Funde kann man auch im jüngsten Heft von Sinn und Form machen. Etwa ein Gespräch, das Ralph Schock mit Peter Kurzeck über dessen auf 12 Bände angewachsenes Erinnerungsprojekt führt, das vor allem die Jahre 1983/84 thematisiert. Oder ein Vortrag von Helmut Heißenbüttel aus dem Jahr 1982 über „Landschaft im Gedicht“, wobei es Heißenbüttel auf die Entzauberung der Naturmetapher ankommt, die noch immer als Ausdruck subjektiver Befindlichkeit gelte. Oder die grausigen „Erzählungen aus Kolyma“, den stalinistischen Straflagern, von Warlam Schalamow.
Zum Abschluss der Brandenburger Kritischen Kleist-Ausgabe schildert Sibylle Wirsing klug und kenntnisreich deren Vorzüge. Der ganze Kleist sollte sichtbar werden, die Stadien aller seiner Werke vom Manuskript bis zum Druck. Dieser Plan, der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre von Roland Reuß und Peter Staengle entwickelt wurde, liegt nun zum Kleistjahr 2011 in 22 blauen Textbänden und 20 roten Beiheften verwirklicht vor – ein Gipfel, an dem alle Vorgänger gescheitert sind. Erfasst wurden sämtliche Texte Kleists; jeder Brief, jedes Gedicht, jeder Aufsatz wurden kritisch durchleuchtet. Die einzelnen Bände sind allein mit der Konsolidierung der Texte befasst, sie geben keine Erläuterungen zu Kleists Leben und zu seiner Zeit. Die Beihefte führen ein Eigenleben; ihre Aufgabe ist, so Wirsing, „der Gang zu den Quellen.“ Die Quellen sind Briefe und Briefwechsel der Zeitgenossen, Tagebücher, Erinnerungen, Aktenstücke und Nachrufe, und sie sind so vollständig wie nirgendwo sonst. Auch Kleists im Herbst 1810 gegründete Zeitung Berliner Abendblätter ist vollständig in die Brandenburger Ausgabe eingegangen.
Diese neue Edition bezieht, so Wirsing, „geharnischt“ Posten. Die Kleist-Blätter oder Beihefte sind auch das Forum für eine Kampfschriften-Folge, verfasst vom Herausgeber Roland Reuß. Zielscheibe ist „die institutionalisierte akademische Welt, Editoren, Philologen und Kommentatoren.“ Reuß und Staengle haben ihr Werk subventionslos begonnen, frei schwebend und auf eigenes Risiko. Dagegen hat die etablierte Kleist-Forschung Jahrzehnte lang ergebnislos, aber gut subventioniert, über einer Kritischen Ausgabe gebrütet.
Einen überraschenden Fund präsentiert Sinn und Form in Gestalt eines Aufsatzes von Louis Aragon über Heinrich von Kleist. Der Mitbegründer des Surrealismus hat ihn 1950 in Paris veröffentlicht; er erscheint hier zum ersten Mal auf Deutsch. Ein biographisch orientierter Text, der auch die Zeitgeschichte berücksichtigt, das so fremdartig radikale Werk Kleists aber nur am Rand erwähnt. Das Interessante an diesem Aufsatz ist die Gleichsetzung von Kleists aggressiver Reaktion auf den Vormarsch der napoleonischen Armeen in Deutschland mit der Reaktion der französischen Patrioten der Résistance am Vorabend des Zweiten Weltkriegs – womit Aragon auch Kleists glühenden Nationalismus rechtfertigt.
Vor genau 125 Jahren, im September 1886, ist der S. Fischer Verlag gegründet worden. Die nur vier Jahre jüngere Zeitschrift Neue Rundschau, die noch immer bei S. Fischer erscheint, hat Autoren von heute gebeten, einen kurzen Text über ihren Verlag zu verfassen. Zusammengekommen sind 29 Beiträge, darunter auch ein paar brave, neckisch witzelnde, lobhudelnde Texte – Geschichten und Dialoge, die von der Realität des Verlagswesens nichts wissen, von der prekären Lage mancher Autoren, von der Härte oder auch nur Achtlosigkeit des Umgangs mit ihnen.
Dagegen berichtet Reiner Kunze von einer Signierstunde bald nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik im Jahr 1977. Eine junge Frau fragte ihn, offensichtlich um ihn zu provozieren, warum er eigentlich in den Westen gekommen sei. Um nicht ins Gefängnis geworfen zu werden, antwortete er. „Na und, sagte sie, ist das so schlimm?“
Michael Lentz besucht Samuel Fischers Grab auf dem jüdischen Friedhof Weißensee in Berlin, Stephan Wackwitz Fischers Geburtsstadt Liptovsky Mikulás, die seit 1993 in der selbständig gewordenen Slowakei liegt, aber von der deutschen Kultur geprägt wurde. Rainer Merkel berichtet von einer Kiste, voll mit Büchern des S. Fischer Verlags, eine gut gemeinte Spende für ein Krankenhaus in Liberia, die dort nie angekommen ist. Was hätten die Afrikaner auch mit den auf Deutsch abgefassten Büchern anfangen können?
Thorsten Palzhoff erinnert an den unbekannten Schriftsteller Louis Sonntag, der eng mit dem früh gestorbenen Verlegersohn Gerhart Fischer befreundet und vermutlich ein Hochstapler war. Manuela Reichart bringt die besonders in den 20er Jahren erfolgreiche dänische Romanautorin Karin Michaelis wieder ins Gespräch. Anne Weber versucht dasselbe mit ihrem vergessenen Urgroßvater Florens Christian Rang, der mit Hofmannsthal Briefe wechselte und mit Walter Benjamin befreundet war, aber als Spinner galt. Sein nie abgeschlossenes Hauptwerk sollte den Titel Abrechnung mit Gott tragen.
Man erfährt auch, aus Peter de Mendelssohns Mund, wie es Thomas Manns reichem Schwiegervater Alfred Pringsheim 1905 gelang, die Veröffentlichung der Novelle Wälsungenblut, die vom Inzest eines jüdischen Zwillingspaars handelt, in der Neuen Rundschau zu verhindern, obwohl das Heft bereits gedruckt war. Um die Kompromittierung seiner in Wälsungenblut porträtierten Kinder Katia und Klaus zu verhindern, überreichte Pringsheim Samuel Fischer einen Scheck, auf dem ein hoher Betrag stand. So wurde, wie Thomas Mann später notierte, sein kleines Werk in weniger als einer Minute erledigt.
Wallace Stevens, der 1955 in Hartford starb, wo er sein Geld als Vizepräsident einer großen Versicherungsgesellschaft verdiente, gilt heute als der bedeutendste amerikanische Lyriker des 20. Jahrhunderts. Die im Augustheft der Akzente abgedruckten, vermutlich späten Gedichte Stevens' geben einen Eindruck von der poetischen Dichte, Rätselhaftigkeit und Feierlichkeit seiner Poesie. Ich zitiere abschließend das Gedicht Der Leser in der Übertragung von Hans Magnus Enzensberger:
Die ganze Nacht saß ich und las,
saß und las, als läse ich in einem Buch
mit düsteren Seiten.
Es war Herbst, und Sternschnuppen
fielen auf die verdorrten Formen,
die sich im Mondlicht duckten.
So saß ich im Dunkeln und las.
Eine murmelnde Stimme sagte mir:
„Das alles fällt der Kälte anheim,
auch die moschusduftenden Trauben,
die Melonen, die zinnoberroten Birnen
im entblätterten Garten.“
Die düsteren Seiten waren leer
bis auf die Spur der brennenden Sterne
am frostigen Himmel.
Merkur: Heft 9/10, September/Oktober 2011
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 21,90,- €
Sinn und Form: Heft 5, 2011
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,- €
Neue Rundschau: Heft 1, 2011
(Hedderichstraße114, 60596 Frankfurt), 12,- €.
Akzente: Heft 3, Juni 2011
(Postfach 860420, 81631 München), 7,90 €
Michael Buselmeier 28.09.2011
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Michael Buselmeier
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