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September 2015
Warum der Neandertaler, ein naher Verwandter des heutigen Menschen, vor etwa 30.000 Jahren ausstarb, ist noch immer ungeklärt. Im jüngsten Heft von Lettre International macht sich der Philosoph Hannes Böhringer darüber Gedanken. 1856 fanden Arbeiter in einer Höhle im Neandertal bei Düsseldorf Knochen und ein Stück Schädel, die von Naturforschern als Reste eines „diluvianischen Menschen“ identifiziert wurden. Er war wie wir, heißt es, nur – mit flacherem Kopf – ein bisschen anders. Er beherrschte den aufrechten Gang, das Feuer, die Sprache, Werkzeuge, und er bestattete seine Toten. Sein Gehirn war sogar größer als unseres. Er selbst war kleiner als der Homo sapiens, aber stämmiger und schwerer und musste mehr Fleisch essen. Kunst hat er keine hinterlassen, weder Wandbilder von Beutetieren in Höhlen noch Schnitzereien; keine sichtbaren Träume.
Der moderne Mensch hat die Neandertaler vermutlich totgeschlagen, auf jeden Fall vertrieben, sich gelegentlich aber auch mit ihnen vermischt, denn sie sind in unseren Genen nachweisbar. Vor 40 000 Jahren trafen, so Böhringer, „zwei verschiedene Populationen von Menschen aufeinander und lernten voneinander. Die einen brachte es sprunghaft weiter, die anderen ihrem Ende näher.“
Für den Anthropologen Marcel Hénaff zählen pure Gewalt, brutale Aggression und Unmenschlichkeit „zum Kernbestand der Menschlichkeit.“ Der Mensch, das sprechende, technisch versierte, allesfressende Tier, ist zugleich „das grausame Tier“, das andere leiden lässt. Auch für den Verhaltensforscher Konrad Lorenz ist die Aggressivität Teil der Ausstattung, mit der das Lebewesen sein Überleben sichert. Sie dient in erster Linie der Arterhaltung und der Verteidigung der Nachkommen. Gegen Ende des Neolithikums habe der Homo sapiens, so Hénaff in Lettre, „über die wichtigsten feindlichen Tierarten triumphiert.“ Sein Aggressionspotential sei jedoch „dasselbe geblieben“, was man noch heute unter dem Firnis der Moral ständig wahrnehmen kann. Im Lauf der Zeit habe der Homo sapiens „seine Werkzeuge und Waffen perfektioniert“, seine physische Schwäche mit außerordentlicher Intelligenz ausgeglichen und „übermächtige Zerstörungsmittel“ entwickelt.
Die großen Autoren des 20. Jahrhunderts (Proust, Kafka, Joyce, Thomas Mann) schrieben in deutlicher Distanz zur Gesellschaft, in der sie lebten, skeptisch, illusionslos, in selbst gewählter Isolation. Einen entgegengesetzten, der Gesellschaft zugewandten, hoffnungsfrohen Autorentyp glaubt Jakob Hessing in Ernst Toller ausfindig gemacht zu haben. Er sieht ihn sogar als „Klassiker der Moderne“. Im Augustheft der Zeitschrift Merkur berichtet er über die kritische Ausgabe von Tollers Werken, die seit 2014 im Wallstein Verlag in fünf dicken Bänden vollständig vorliegt. Neben den Dramen und den autobiografischen Schriften enthält sie Lyrik und Prosa, Hörspiele und Filmarbeiten. Das ist erfreulich, denn von Toller und seinen engagierten Texten wird in intellektuellen Kreisen kaum noch gesprochen, und die literaturfernen Bühnen spielen seine einst so erfolgreichen Stücke schon lange nicht mehr (und wenn doch einmal, dann nur in übel verhunzter Form).
Zu Recht weist Hessing darauf hin, dass Toller seine prägenden Erfahrungen, „ohne die sein Werk nicht zu verstehen ist“, als Soldat im Ersten Weltkrieg gemacht hat. Anschließend war er Akteur auf der politischen Bühne, ein populärer Redner und Anführer in der Münchner Räterepublik, ein radikaler jüdischer Sozialist, bevor er in bayerischer Festungshaft für die Theaterbühne zu schreiben begann.
Mit dem expressionistischen Stück „Die Wandlung“, „Tollers Evangelium der Revolution“ (so Hessing etwas pathetisch), wurde er 1919 über Nacht berühmt; es blieb sein hoffnungsvollstes Werk. Der Begriff der „Wandlung“ ist der christlichen Liturgie entnommen und religiös besetzt. Auch die Szenen der folgenden Stücke sind nicht realistisch, sondern symbolisch gestaltet. Und sie werden, besonders in „Hinkemann“, dem Heimkehrerdrama aus dem Jahr 1923, aber auch im „Schwalbenbuch“, einem langen Gedicht über ein Schwalbenpaar, das in Tollers Gefängniszelle sein Nest baute, immer düsterer. Der Blick des Dichters ist nicht mehr nach vorne gerichtet. Er begrüßt die Schwalben: „Was trieb Euch zum kalten April des kalten Deutschland? Zu welchem Schicksal kamt Ihr?“
Auch Tollers berühmte Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“ (von 1933) malt keine Zukunft aus, sie hält eine Vergangenheit fest. Doch anders als Thomas Mann oder Proust ist Toller, so Hessing, noch immer „am eigenen Leben nur dort interessiert, wo es exemplarisch ist.“ Zermürbt von all den aussichtslosen Kämpfen, in die er verwickelt ist, nimmt er sich 1939 in New York das Leben.
Die sich Volltext nennende Wiener „Zeitung für Literatur“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Literatur der Gegenwart einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wie weit ihr das gelingt, bleibt ungewiss. Immerhin soll die Auflage 30.000 Exemplare betragen, das Zeitungsformat mag dabei hilfreich sein, und der Heftpreis ist mit 3,90 € gering. Doch Volltext erscheint nur viermal pro Jahr; viele Artikel sind lang und oft nicht gerade einfach zu lesen. Und in welchem Maß der Kiosk-Verkauf funktioniert, ist nicht bekannt.
In jeder Ausgabe findet man eine Titelgeschichte, die sich hin und wieder auch längst gestorbenen Autoren widmet, etwa Dostojewski, zuletzt Vicki Baum. In der jüngsten Nummer erinnert Daniela Strigl an Marie von Ebner-Eschenbach, geboren 1830 und gestorben 1916 in Wien, eine Jahrgangskollegin des Kaisers Franz Joseph und gewissermaßen die bedeutendste deutschsprachige Prosaistin dieser Epoche. Vielfach geehrt, war sie einmal – so Strigl – „die regierende Fürstin der Literatur.“
Zu Anfang ihrer Laufbahn wollte Ebner-Eschenbach Dramatikerin werden, „der Shakespeare des 19. Jahrhunderts“. Daraus wurde nichts, doch bis in unsere Tage haben sich Erzählungen wie „Krambambuli“, „Das Gemeindekind“ oder „Lotti, die Uhrmacherin“ lebendig gehalten – Beispiele eines poetischen Realismus, die jedoch, meint Strigl streng, Staub angesetzt und zum Image einer „altmodischen Frau“ mit konservativem Weltbild beigetragen haben. Dabei wurden ihr „männlicher Gestus“ ebenso übersehen wie „die modernen Signale der Ambivalenz und Subversion“ in ihrem Werk.
Daniela Strigl geißelt die „Borniertheit“ einer Germanistik, die alles, was auf den Leser „rührend und ergreifend“ wirke, unter den „Generalverdacht des Kitsches“ stelle und als „heruntergekommenes Biedermeier“ denunziere. Ebner-Eschenbach habe die untergehende Adelsgesellschaft keineswegs verherrlicht, sondern ihren eigenen Stand kritisiert. Sie galt in ihrer Familie als „Freigeist“, war „eine Zerrissene zwischen den Epochen, den politischen und den literarischen Strömungen“, ausgestattet mit Ironie, ja Sarkasmus. Und sie zeichnete in ihren Werken immer wieder „starke, stolze, tüchtige, ja ehrfurchtgebietende Frauen“, auch Frauen „aus dem Volk, mährische Bäuerinnen und Mägde.“
Volltext gibt uns sogar eine ganze Erzählung von Marie Ebner-Eschenbach zu lesen. Sie heißt „Das alltägliche Leben“ und handelt von einer Frau, die aus der guten Wiener Gesellschaft stammt und sich am Vorabend ihrer silbernen Hochzeit ohne vorherige Andeutung erschießt, eine Tat, die weithin Ratlosigkeit auslöst.
Das Herbstheft von Sinn und Form ziert ein luzider Essay des Lyrikers Jan Wagner über Eduard Mörike, mit dessen Gedichten und Prosaarbeiten („Maler Nolten“, „Mozart auf der Reise nach Prag“) ihn frühe Lesefreuden verbinden. Einfühlsam und kenntnisreich beschreibt Wagner, dass Mörike zwar kaum je aus Schwaben herauskam, dass seine Phantasie aber nicht mehr als einen „Vorgarten“ benötigte, „um unrettbar toll zu werden.“ Für Mörike war die Grenze zwischen Kunst und Leben durchlässig; er konnte aus dem gewöhnlichsten Gegenstand heraus ein Gedicht entwickeln. Er war seiner Gegend und den Menschen darin verbunden und sprach deren Sprache.
Wagner preist vor allem den „Formkünstler“ Mörike, seinen „liedhaften Ton“, „Grazie und Rhythmus“, nicht zuletzt „die Liebe zur antiken Dichtung“, wobei er auch über eigene Vorlieben zu reden scheint, wenn er etwa vom „Staunenkönnen“ spricht, dem „Kindlichen, Kindsköpfigen“, das ihm „seit jeher als eine der Grundlagen jeder Poesie“ erschienen sei. In dem Gedicht „An eine Äolsharfe“ beschwört Mörike das „süße Erschrecken“, das die Erinnerung an einen Moment der Kindheit plötzlich auslösen kann.
Erinnerungen anderer Art, nämlich solche an den modernen Literaturbetrieb, beschäftigen Hans Christoph Buch (ebenfalls in Sinn und Form). Er verdammt das herrschende Stipendien-Unwesen und das „hysterische Gejammer am Subventionstropf hängender Autoren“, das die Literatur seit Walther von der Vogelweide begleitet. Buch beklagt auch den „Jugendkult“, die traurige Tatsache, dass „immer mehr Schriftsteller der älteren Generation“ für ihre Manuskripte keinen Verlag mehr finden. Und er erinnert an zwei unlängst gestorbene Autoren, die den etablierten Betrieb ablehnten und von ihm ausgeschieden wurden: Zuerst an den Malerpoeten Fritz Graßhoff, der neben ernsten auch leichte, singbare Verse schrieb (etwa „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise …“ für Hans Albers). Er starb 1997 in Kanada in selbstgewählter Isolation
Auch Lothar Baier, ein urbaner Essayist und sehr linker Kritiker, starb 2004 im fernen Kanada, wohin er sich über Frankreich abgesetzt hatte. Er erhängte sich „aus Lebensüberdruss“, entmutigt vom Scheitern der radikalen Lebensentwürfe. Aus dem deutschen Literaturbetrieb war der einst so Erfolgreiche längst ausgeschieden.
Zum Schluss ein Hinweis auf die Literaturzeitschrift Matrix. Der kleine Ludwigsburger Pop Verlag bringt unter diesem Titel pro Jahr vier umfangreiche Bände heraus, die sich besonders deutschen Autoren aus Rumänien widmen. Im Mittelpunkt des jüngsten Heftes steht der 1939 im Banat geborene Schriftsteller, Publizist und Mundartautor Nikolaus Berwanger, der 1989 in Ludwigsburg starb. Der vorausgehende Band beschäftigt sich mit dem banat-schwäbischen Dichter und Essayisten Richard Wagner. Er floh im März 1987 mit seiner damaligen Frau Herta Müller in den Westen und lebt seither, zuletzt an Parkinson leidend und darüber schreibend, in Berlin. Redaktionell wurden die beiden umfangreichen Dossiers von dem Poeten Horst Samson betreut.
Lettre International: Nr. 109, Sommer 2015
(Mommsenstraße 27, 10629 Berlin), 12,- €.
Merkur: Nr. 795, Heft 8, August 2015
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12,- €.
Volltext : Nr. 2/2015:
(Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien), 3,90 €.
Sinn und Form: Heft 5, 2015
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,- €.
Matrix: Nr. 2/2015 und Nr. 3/2015
(Postfach 0190, 71601 Ludwigsburg), 12,- bzw. 14,- €.
Michael Buselmeier 23.09.2015
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Michael Buselmeier
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