Michael Buselmeier
Von Kugel und Stein
Eine Sommergeschichte
Für Rainer Negrelli
Recht spät erst, vor wenigen Jahren, lernte ich auf einem südfranzösischen Landgut in der Nähe von Uzes das Boule-Spiel kennen. Die dort alljährlich im Frühsommer versammelten Freunde, ältere Intellektuelle und Künstler, noch immer vage im Geist einer hedonistischen Linken vereint, spielten Boule mit frankophiler Leidenschaft tagsüber und oft auch weit über Mitternacht hinaus bei Flutlicht auf dem eigenen Grundstück gleich neben dem Schwimmbassin. Außer Boule hielt sie vor allem das Ritual des Einkaufens, Zubereitens und Verspeisens opulenter Mahlzeiten wie Jakobsmuscheln, Lammkeule und Tintenfisch in Trab, was sie mit einer Ausdauer betrieben, die einen Asketen wie mich nicht wenig irritierte.
Dafür faszinierte mich das Boule-Spiel umso mehr. Schon immer habe ich mich für Kugeln und Bälle begeistert und dabei auch ein gewisses Talent entfaltet, Sportarten wie Fußball, Hockey und Tennis, aber auch das Murmelspiel betreffend. Beim Boule bestaunte ich anfangs die schweren, matt oder silbrig glänzenden Eisenkugeln, wie sie mit leisem Surren ihren Weg über den festgestampften Sandboden zum Ziel fanden (oder es um Haaresbreite verfehlten). Ich beobachtete die konzentriert nach vorn gebeugte Haltung der Spieler, ihre weit ausgestreckten Arme beim Abwurf, ihre forschenden, fast antreibenden Blicke hinter dem Bogen her, den die Kugel in der Luft beschrieb.
Einige der frankophilen Freunde hatten im Lauf von Jahren beachtliche Fertigkeiten sowohl im „Legen“ als auch im „Wegschießen“ der Kugeln erworben, auch dadurch bedingt, dass sie ab und zu kleinere Turniere veranstalteten, wobei der Sieger als Preis ein dem Boule gewidmetes Aquarell eines mitspielenden Malers erhielt. In ihren süddeutschen Heimatorten etablierten sie regelmäßig tagende Boule-Runden, gründeten sogar Boule-Vereine.
Naturgemäß reichte ihr Können bei weitem nicht an dasjenige der einfachen Leute heran, die sich in nahezu jedem südfranzösischen Ort tagtäglich auf dem Marktplatz oder am Rand der Stadtmauer versammeln, Männer fast ausschließlich, Datschkappen auf dem Kopf und Zigaretten im Mundwinkel, jeder ein Charakterdarsteller und fast ein Künstler: der Wagemutige mit grauem Wuschelhaar, der Außenseiter mit Sonnenbrille und zerrissener Hose, der Komiker mit seiner Fistelstimme. Sie alle spielen im Schatten der Platanen mit Konzentration, aber auch mit Heiterkeit, einer ganz eigenen kargen Eleganz und einer Ästhetik, die sich sogar auf die Maserung der oft mit einem Tuch polierten Kugeln und selbst auf die Form der Strohhalme überträgt, mit denen der Abstand zwischen scheinbar gleich günstig plazierten Kugeln abgemessen wird. Einige Männer werfen das Spielgerät aus der Hocke, andere schleudern es sehr aufrecht aus dem Handgelenk und treffen mit einem herben Knall. Dazwischen Beifallslaute, Händeklatschen, Lachen; ein lebhafter Wortwechsel mit den ständig anwesenden Zuschauern.
Ich hatte nie zuvor Boule oder wie es dort heißt „Pétanque“ gespielt, entwickelte aber auf Anhieb zumindest im Legen der Kugeln erstaunliche Fähigkeiten, die meine kulinarischen Freunde zu ironisch bewundernden Kommentaren veranlassten. Ich bemühte mich, meine guten Anlagen durch Übung und Beobachtung zu verbessern, musterte also, während die Gefährten noch aßen, Rotwein tranken und plauderten, den etwas unebenen, hell-dunkel gesprenkelten Sandboden, an dessen Rand ein paar verkümmerte Grashalme wuchsen. Ich maß das Spielfeld ab, ich umkreiste es, lauschte dem Klicken der aneinander stoßenden Kugeln wie einer fernen Musik, umgeben vom Krähen der Hähne, dem Zirpen der Grillen und einer provencalischen Frühsommerwiese aus Mohn, Klee, Kornblumen und Margeriten.
Woran erinnerte mich dieses beisammen Hocken und Stehen im Sonnenlicht, ein derbes Männerritual, bei dem weder Zeitnot noch Arbeitsdruck existierten, der staubige Boden, die tanzenden Schatten der Blätter, das helle Blinken der Kugeln, die gesammelte Stille, der plötzliche Jubel- oder Enttäuschungsschrei… leere Plätze und bemooste Mauern unter niedrigem Himmel... Hatte sie nicht ein Windstoß direkt aus der Kindheit hergeweht, meiner achtlosen Jugend, ein Duft von Robinien, Holunder, Jasmin... Er kam aus Trümmergrundstücken, Baggerlöchern, wo ich den Sommer suchte, roten, weißen und gelben Steinbrüchen, ausgetrockneten Bachbetten. Der Wilhelmsplatz in der Weststadt Heidelbergs erschien wieder vor mir, ein rauer Kiesboden am rückwärtigen Rand der Gärten, wo ein paar ausgebrannte Autos rosteten und ein Klohäuschen mit ständig zischender Wasserspülung stand. Die Schützengräben hatte man zugeschüttet und die Bombentrichter auch... Es waren die späten vierziger, frühen fünfziger Jahre, als wir Kinder auf dem Platz ein Spiel spielten, das wir „Käsern“, manchmal auch „Käsels“ oder „Käserles“ nannten – Wörter, deren Herkunft und Bedeutung mir unbekannt sind, was uns damals nicht im mindesten störte. Wir nahmen das Käsern als etwas Gegebenes an, das zeitweise zu unserem Leben gehörte wie der Sommerwind, wie Straßenfußball, Obst- oder Kohlenklauen.
Die Regeln dieses faszinierenden, damals auch in Mannheim, Ludwigshafen und andernorts in der Pfalz verbreiteten, heute leider ganz vergessenen Spiels – woher kam es, weshalb ging es so spurlos verloren? – waren schlicht, fast jeder konnte sie begreifen. Nötig war nur ein massiver Steinbrocken als Untersatz und für jeden Mitspieler ein kleinerer, handlicher, möglichst harter Stein, der aus der Schulterhöhe auf den altarähnlichen Hauptstein zu gestoßen wurde. Der am weitesten abliegende Stein musste auf dem Altar Platz nehmen, während die übrigen Spieler einer nach dem anderen versuchten, ihn aus einer gewissen Entfernung abzuschießen, wobei ein trockenes Klacken entstand, das sich im Laub der Kastanien verfing. Manchmal zerbrach ein Stein oder splitterte ein wenig ab, es roch brenzlig, und die Funken sprühten. Es gab blutende Köpfe und Finger. Wessen Stein – sagen wir – zehnmal abgeschossen worden war, musste ausscheiden, der Geschickteste mit den wenigsten Abschüssen gewann (oder so ähnlich).
Wer einen besonders günstigen Stein, am besten einen glitzernden aus Granit, gefunden hatte, einen, der gut in der Hand lag und sich leicht in die Kuhle zwischen Hals und Unterkiefer schmiegte, versteckte ihn am Ende des Spiels im Gebüsch oder nahm ihn mit nach Hause. Man hegte einen solchen Stein fast so wie einen neuen goldgelben Lederfußball. Man reinigte und besprach ihn. Manche trugen ihren Lieblingsstein sogar beim Klassenausflug im Rucksack mit sich, man konnte schließlich vielerorts Käsern, an Flussufern, auf Waldwiesen, im Felsenmeer. Und obwohl die Technik eher der des Kugelstoßens zu gleichen schien, erinnert mich die kunstvolle, nicht auf eine zu erreichende Weite erpichte Bewegungskurve des Steins durch die Luft lebhaft an den Lauf der Boule-Kugel ihrem Ziel, dem „Schweinchen“, einer kleinen bunten Kugel aus Buchsbaumholz entgegen, die sich am holprigen Rand des Spielfelds verlaufen konnte. Ebenso die gesellige Nähe der beisammen Hockenden, der knappe Jubelruf über einen geglückten Wurf, mag er nun aus unseren noch jungen Kehlen auf dem Wilhelmsplatz oder denjenigen der Alten in der Provence stammen, die – im Schatten der Maulbeerbäume geborgen – kein Fernsehen zur Unterhaltung brauchen.
Michael Buselmeier 10.09.2009 Druckansicht Seite empfehlen
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