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September 2013
Das in Essen erscheinende Schreibheft zeichnet sich seit über 30 Jahren durch die schier unermüdliche Entdeckerfreude seines Herausgebers Norbert Wehr aus, der gerade ›schwierige‹ Autoren im Umfeld der Moderne immer wieder breit zur Diskussion gestellt hat: Céline, Melville, Ezra Pound, Hans Henny Jahnn … Die jüngste Ausgabe mit der Nummer 81 ist einmal mehr voller Überraschungen und Anregungen, eine Fundgrube quer durch die Weltliteratur.
Da gibt es ein Dossier über Clarice Lispector, eine brasilianische Autorin, von der man hierzulande wenig weiß, obwohl ihre wichtigsten Romane in den 80er und 90er Jahren bei Rowohlt und Suhrkamp verlegt wurden. Benjamin Moser ist ihren Spuren gefolgt, fasziniert von dieser „Mystikerin“, von der es heißt, sie habe eine ungeheure Ausstrahlung besessen; sie habe „ausgesehen wie Marlene Dietrich und geschrieben wie Virginia Woolf.“
Geboren wurde diese geheimnisvolle Frau 1920 in einem jüdischen Dorf in der Ukraine. Ihren Eltern gelang mit drei Töchtern die Auswanderung nach Brasilien. Bei der Ankunft war Clarice zwei Monate alt. Sie lebte zunächst in der nördlichen Hafenstadt Recife, später in Rio de Janeiro. Mit 23 Jahren veröffentlichte sie ihr erstes Buch, Nahe dem wilden Herzen. Es wurde als der bedeutendste Roman gefeiert, den je eine Frau in portugiesischer Sprache geschrieben habe. Es folgten Titel wie Der Apfel im Dunkel, Aqua Viva und Die Sternstunde, Lispectors letzter Roman, den sie 1977, wenige Wochen vor ihrem frühen Tod an Krebs veröffentlichte.
Für ihren Biographen Moser ist Clarice Lispector die größte jüdische Autorin seit Kafka. In Brasilien werde sie bis heute verehrt. Doch außerhalb Lateinamerikas scheint sie kaum noch bekannt zu sein. Um das ein wenig zu ändern, publiziert das Schreibheft unter dem Titel Die Entdeckung der Welt einige Zeitungskolumnen, die Lispector Ende der 60er Jahre für das Jornal do Brasil zu schreiben begann. Sie äußert sich darin nicht zu politischen Themen (was sie als gebranntes Kind nie tat), dafür teilt sie den Lesern Erinnerungen an ihre Eltern und ihre Kindheit mit, sie schreibt über Haustiere und Geldsorgen, gewährt Einblicke in ihre Gedankenwelt. Es sind hochpoetische und anrührende Texte, spontan und witzig, sogar mit selbstironischen Anmerkungen an den Setzer: „Entschuldigen Sie meine vielen Vertipper. Die liegen erstens daran, dass meine rechte Hand verbrannt ist. Zweitens weiß ich nicht, woran. Eine Bitte hätte ich: Verbessern Sie mich nicht. Die Interpunktion ist der Atem des Satzes, und meine Sätze atmen so. Und falls Sie mich komisch finden sollten, üben Sie trotzdem Respekt. Sogar ich selbst habe lernen müssen, mich zu respektieren. Das Schreiben ist ein Fluch.“
Ein weiterer Schwerpunkt des Schreibhefts ist Uwe Nettelbecks in Auszügen vorgestellter Montage- Roman Maurice Wilson, ein schillerndes Projekt, in dem es um eine scheiternde Besteigung des Mount Everest, aber auch um den „Berg als Text“ geht. In den 60er Jahren war Nettelbeck eine Art Popstar, brillant und von vielen bewundert. Als Filmredakteur der ZEIT schrieb er auf ganzen Zeitungsseiten originell über Godard, Truffaut, Pasolini, Bergmann, über den jungen deutschen Film und den US-Underground. Und mit seinen Gerichtsreportagen begründete er fast ein eigenes Genre. Meist schrieb er über Opfer der Justiz, mit denen er offen sympathisierte. Über den Prozess gegen den Kindermörder Jürgen Bartsch hat er 1967 in drei Folgen, die familiären Hintergründe ausleuchtend, berichtet.
Im Lauf der 70er Jahre verschwand Nettelbeck aus den Medien, die ihn enttäuscht hatten, und schuf sich mit der an Karl Kraus' Fackel orientieräten Zeitschrift Die Republik ein eigenes Organ, worin er fortan die Kunst der kritischen Collage pflegte. Er lebte isoliert auf einem Landgut bei Bordeaux, wo ihn sein Biograph Stefan Ripplinger im Jahr 2000, knapp sieben Jahre vor seinem Tod, zum ersten Mal aufsuchte. Nettelbeck war gerade dabei, eine zehnbändige Ausgabe seiner Werke für den Druck vorzubereiten. Doch seltsamerweise sonderte er die meisten seiner frühen Schriften aus, so Ripplingers Eindruck. Aus den wilden Sechzigern ließ er nichts gelten. Die geplante Ausgabe sollte vor allem das enthalten, was er „noch machen wollte“. Er habe „10.000 Seiten deutsches Elend“ zusammengetragen.
Zu diesem Komplex zählte auch Maurice Wilson, „so etwas wie Nettelbecks Moby-Dick“, meint Ripplinger im Schreibheft: „Es geht in diesem aus nicht literarischen Zitaten gebauten Text nicht um einen weißen Wal, sondern um einen weißen Berg, den Mount Everest.“ Spannend werden die verschiedenen Versuche erzählt, den Berg zu besteigen, vor allem Wilsons, des Engländers Wahnsinnsunternehmen, der 1934 allein aufbrach, obwohl er noch nie einen höheren Berg bestiegen hatte. Aber er hatte alles über den Everest gelesen! War er ein geheimer Schriftsteller? Ripplinger meint jedenfalls, dass alles, was im montierten Text „über Berge und Bergsteigen gesagt wird, sich auch über Kunst sagen lässt.“ Nettelbecks nachgelassener Maurice Wilson ist „ein Berg von einem Text“, insofern sperrig, verkantet und vereist.
Ein dritter Schwerpunkt des aktuellen Schreibhefts ist Tomas Venclova gewidmet, dem 1937 geborenen litauischen Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Übersetzer, der heute in New Haven und Vilnius lebt. Venclova beschäftigte sich schon als Student mit der verfemten russischen Moderne, studierte Semiotik bei Jurij Lotman in Tartu, lernte früh Boris Pasternak, Anna Achmatowa und Nadesha Mandelstam kennen. 1966 begann seine lebenslange Freundschaft mit dem künftigen Nobelpreisträger Joseph Brodsky, dessen Gedichte er ins Litauische übertrug. 1977 folgte er einer Einladung von Czeslaw Milosz nach Berkeley und wurde aus der Sowjetunion ausgebürgert. Das Schreibheft druckt Venclovas Erinnerungen an den großen polnischen Lyriker Milosz, der 1911 in Litauen geboren wurde, das nach 1918 zu Polen gehörte, und in Vilnius studiert hat. Ferner gibt Venclova, im Gespräch mit der Amerikanerin Ellen Hinsey, detaillierte Erinnerungen an Joseph Brodsky und Anna Achmatowa zu Protokoll.
Auch Ralph Dutli, Dichter und gesalbter Übersetzer aus dem Russischen und dem Französischen, widmet Joseph Brodsky und seinem Umfeld im Augustheft der Akzente einen luziden Essay, ausgehend von einem 1971, ein Jahr vor seinem erzwungenen Exil, in Estland, in Tallinn und Tartu entstandenen Gedicht Brodskys, der dort seinen Freund Tomas Venclova besuchte. Tallinn ist die alte Hansestadt Reval, Tartu hieß vormals Dorpat, eine Universitätsstadt, in der das Erbe der russischen Formalisten in Gestalt Jurij Lotmans noch lebendig war. „So müde vom wirbelnden Jahrhundert-Staub / ruht auf estnischen Turmspitzen das russische Aug“ heißt es in Brodskys Gedicht.
Dutli untersucht die Verse auf geheime Bezüge und Chiffren. Der Blick auf die gotischen Türme Tallinns schenke dem in Russland verfemten Dichter „einen Moment der Besinnung“, ja des Glücks. „Ich war glücklich hier“, am Rand des Imperiums, schreibt er. Brodskys Werk ist für Dutli „ein Lobpreis der Poesie als Peripherie.“
Das heutige Russland mag ziemlich anders sein, aber es gibt auch unter Putins Herrschaft jede Menge Korruption und Unterdrückung, etwa drakonische Strafen für den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski oder für die Punkband Pussy Riot. Im Merkur unterhalten sich drei Journalisten, zwei Briten, ein Russe, ausführlich über die kulturelle Situation, die sie eingangs als „politisch sehr aufgeladen“ empfinden, was den Gesprächsleiter zu der etwas seltsamen Frage verleitet: „Erleben wir ein russisches ›1968‹?“
Das lässt sich leicht relativieren. Denn verglichen mit der kulturellen Euphorie, die das Land während Perestroika und Glasnost in den Achtzigern erlebt hat, verglichen auch mit den Massenprotesten im letzten Winter, handelt es sich hier und heute um eine „viel überschaubarere Angelegenheit“, getragen von einer ganz schmalen Schicht.
Was aber ist mit Pussy Riot geschehen, eine Gruppe, die auf Formen des Situationismus im Frankreich der 60er Jahre zurückgreift und somit eine Sprache spricht, die im Westen verstanden wird? Pussy Riot, heißt es im Merkur-Gespräch, habe auf jeden Fall „einen frischen Wind“ gebracht. Ihre Aktion in der Kirche sei „kühn und überzeugend“ gewesen, die „einzig mögliche Antwort auf die Kremlsprache des Absurdismus.“ Und was hat die normalen Russen dann so erzürnt? Wieso fühlten sie sich von ein paar nackten Mädchen bedroht? Sie sind Punks, lautet die Antwort, und sie sind jung. Der Grund liege im weit verbreiteten „Chauvinismus und Hass auf den Feminismus.“
Über den „Mut- und Wutbürger“ Georg Büchner, Mitverfasser der revolutionären Schrift Der hessische Landbote von 1834, macht sich, ebenfalls im Merkur, Michael Kleeberg Gedanken, die er zum Teil der neuen Büchner-Biographie Hermann Kurzkes verdankt. Diesem geht es wie auch Kleeberg um eine Irritation des linken Büchner-Bildes: Der Wutbürger, der heute in Stuttgart und anderswo so hohe Konjunktur habe, sei seit Büchners Zeit nicht als Mit-Konstrukteur der Res publica definiert, sondern als einer, der gegen alles und jeden protestiere. Darf man Büchner im Ernst vor diesen provinz-schwäbischen Karren spannen?
Kleeberg vermag im Hessischen Landboten nur eine „politische Jugendtorheit“ zu sehen, ein Beispiel für „Antiliberalismus“, und es fällt ihm schwer, „ihn für voll zu nehmen.“ Ja, Büchner habe es nach der Verhaftung seiner Mitverschwörer mit der Angst zu tun bekommen, und er habe „nie wieder Politik betrieben.“ Er sei „feige“ gewesen, „zum Glück für die Kunst.“ Dass einer zugleich Revolutionär und Künstler sein kann, kommt Kleeberg nicht in den Sinn.
Schreibheft Nr. 81, August 2013
(Nieberdingstr. 18, 45147 Essen), 13,- €.
Akzente: Heft 4, August 2013
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
Merkur: Heft 8, August 2013
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12,- €.
Michael Buselmeier 18.09.2013
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Michael Buselmeier
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