poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Michael Zeller
Falschspieler

Der fortdauernde Krieg
Michael Zellers Roman Falschspieler über einen Literaturskandal der 50er Jahre

  Kritik
  Michael Zeller
Falschspieler
Roman
Brockmeyer Verlag, Bochum 2015
269 S., 19,90 €


Michael Zellers neuer Roman „Falschspieler“ hat einen frühen Skandal zum Gegenstand, der den sich gerade etablierenden Literaturbetrieb der Bundesrepublik erschütterte. Im Jahr 1952 erschien unter dem Namen „George Forestier“ (im Roman „Leon Desmoulins“) der Gedichtband „Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße“, der allseits Begeisterung auslöste. Herausgegeben hatte ihn ein gewisser Karl Friedrich Leucht, der im Nachwort die Lebensgeschichte Forestiers bezeugte: Als Sohn eines Franzosen und einer Deutschen 1921 im Elsass geboren, habe er sich freiwillig zur Waffen-SS und an die Ostfront gemeldet, habe Krieg und Gefangenschaft überlebt und sich 1948 der Fremdenlegion angeschlossen, die ihn nach Indochina abkommandierte. Dort, irgendwo im Dschungel, habe sich im Herbst 1951 seine Spur verloren. Die Gedichte sollen sein Vermächtnis sein.
  Die führenden Literaturkritiker bejubelten einhellig die höchst mittelmäßigen Texte, sogar der große Gottfried Benn pries Forestiers „wunderbar zarte, gedämpfte, melancholische Verse.“ Die verunsicherte Nachkriegsjugend erkannte sich im Bild des einsamen Legionärs selbst wieder. Erst 1955, nachdem ein weiterer Forestier-Band erschienen war, flog die Legende auf und es stellte sich heraus, dass der angeblich auf abenteuerlichen Wegen verschollene Autor ein durchaus sesshafter Werbeberater des Eugen Diederichs-Verlags namens Karl Emerich Krämer war, der die Gedichte und die für den Erfolg entscheidende Vita effektvoll am Schreibtisch zusammengebraut hatte.
  Die düpierte Literaturkritik ließ „George Forestier“ umgehend fallen. Er war erledigt, aus der Geschichte gestrichen, niemand sollte mehr von ihm sprechen. Der 1944 im untergehenden Breslau geborene Michael Zeller, der eine Nase für brisante Themen hat, entwickelt, angelehnt an den Betrugsfall Forestier, eine komplexe Erzählung in fünf umfangreichen Kapiteln, die aus der Perspektive von mindestens fünf Schriftstellern („Falschspielern“, wie angedeutet wird) in Variationen und überraschenden Brechungen vorgetragen wird – eine Reflexion des Scheiterns ernsthafter Bemühungen angesichts der Fatalität des Geschehens und des in den Köpfen fortdauernden Weltkriegs und zugleich eine Satire auf den Literaturbetrieb.
  Im ersten Teil dieser aufregenden Geschichte berichtet der Schriftsteller Friedrich Faber über seine Kindheit in der Kleinstadt M. seit 1945 (gemeint ist Miltenberg am Main, wo Michael Zeller unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen ist). In einer Mansarde am Grauberg fand Friedrich mit seiner Mutter und den beiden Brüdern Unterschlupf. Die Aufmerksamkeit des Jungen gilt Elmar Kiesling, dem Sohn der Vermieterin, einem blonden, ehemaligen Krieger der Waffen-SS, der im Hof an seinem Motorrad bastelt. Noch intensiver beobachtet er den Schriftsteller Leo Zurmühlen (was „Desmoulins“ bedeutet) und dessen Frau Sophie, die aus Berlin zugezogen sind. Faber zeichnet von Leo, dem „König des Berghofs“, ein düsteres Bild. Er ist lang und dünn, mit zahnlosem Mund, ein mit Worten spielendes „Schandmaul“: „Dieser Mann Zurmühlen, von dem ich als Kind nie ein freundliches Wort gehört, eine Geste der Zuneigung erfahren habe, ja der mir wohl niemals ernsthaft in die Augen geschaut hat, dieser mürrische Mensch hat mich auf die Spur gesetzt, und ich muss ihr folgen, bis heute.“
  Den zweiten Teil bilden Zusendungen des blonden Elmar, der nach Kanada ausgewandert ist und dort als Küchenhilfe, Tankwart und schließlich Deutsch-Dozent arbeitet – Briefe, geschrieben in einem zupackenden, hoch pathetischen Stil, sowie tiefgründige Gedichte, die er seinem Mentor Leo nach Miltenberg schickt. Er hofft, durch sie in der Heimat als Dichter anerkannt zu werden, schwärmt von den „Helden unserer Sprache“, ist noch immer voll Hass auf „Niedertracht und Verrat“ derjenigen, die den deutschen Soldaten angeblich „in den Rücken fielen“.
  Im dritten Teil sieht man Klaus-Joachim Faber, den jüngeren Bruder des tödlich verunglückten Friedrich am Werk. Der betuliche Altgermanist bemüht sich, ein Nachwort zu dem Fragment gebliebenen Kindheitstext seines Bruders zu schreiben. Und gerade diesem durchweg ironisch betrachteten Langweiler gelingt es, den größten literarischen Skandal der 50er Jahre aufzudecken, für den Leo Zurmühlen verantwortlich ist – für Klaus Faber „ein geistiger Verbrecher der vulgärsten Sorte.“
  Auch ein Kuvert mit „Elmar Kieslings Briefen aus Kanada“ fällt dem Professor in die Hand. Daraus ergibt sich, dass Zurmühlen die Gedichte des angeblichen Fremdenlegionärs nicht etwa gefälscht, vielmehr schlichtweg gestohlen und sich so ein Vermögen ergaunert hat. „Kältesten Herzens“ habe er die Wünsche und Träume „eines talentierten Jünglings“, der ihm vertraut habe, „vernichtet“. „Ich schau Sie an und zittere vor Angst und Glück“, meldete Elmar zuvor an Leo. „Ich schreibe, Meister.“
  Gegen Ende entsendet Zeller noch einen arroganten Jungautor nach Toronto. Er soll den Spuren Friedrich Fabers folgen, der dort vor einigen Jahren auf der Suche nach Elmar Kiesling bei einem Verkehrsunfall starb. Elmar, der ewige Landser, eine tragisch-naive, wiederholt betrogene Künstlerfigur, hält sich irgendwo in den Bergen verborgen, seit sein Lieblingsschüler, der Indianer Joe White Eagle, der ebenfalls Schriftsteller werden wollte, in Vietnam gefallen ist. So hat ihn der Krieg, dem er endlich entkommen zu sein hoffte, auch in Kanada eingeholt. „Schrecklich, wie viel Krieg noch in diesem Menschen steckte“, meint Elmars Freundin Linda. „Er war voll davon. Jemand, dem er vertraute bis auf den Grund der Seele, war für ihn ein ›Kamerad‹.“
  Ein ebenso spannender wie amüsanter, satirisch witziger, vielleicht etwas überkonstruierter, leicht kolportagehafter Roman über ein ständig aktuelles Thema. Die verschiedenen Ebenen der Erzählung sind routiniert miteinander verzahnt, die Motive laufen geschickt ineinander über. Die schriftstellernden Hauptfiguren sind auf differenzierte Weise in den Akt der literarischen Fälschung verstrickt, in der sie – so scheint es – von Natur aus zu Hause sind. Auch Michael Zeller selbst mag sich beim Schreiben als Falschspieler vorgekommen sein.

 

 

 
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar