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Mai 2013
Der intellektuelle Aufbruch von 1968 ist nun 45 Jahre vergangen und noch immer erscheinen wissenschaftliche und essayistische Studien über die Studentenbewegung und ihre Folgen, von den literarischen Verarbeitungen gar nicht zu reden. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das erstaunt, denn einerseits hat diese Jugendrevolte zwar die politischen und kulturellen Verhältnisse in der Bundesrepublik umgekrempelt, sie ist aber andererseits, an ihren eigenen revolutionären Ansprüchen gemessen, vollkommen gescheitert. Sie hat den Stalinismus verharmlost, Israel gegenüber den Palästinensern einseitig ins Unrecht gesetzt. Vor allem hat sie den von ihr so genannten „Spätkapitalismus“ als „tendenziell faschistisch“ grundfalsch eingeschätzt. Er ist heute vitaler denn je und weltweit dominant.
Im Aprilheft des Merkur referiert Klaus Birnstiel, ein junger Germanist, der „68“ nur aus Legenden und Büchern kennt, über akademisch- intellektuelle Erinnerungsschriften. Im Mittelpunkt steht ein Bericht des 1939 im Ruhrgebiet geborenen Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen aus dem Jahr 2012. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Lethen schrieb als Berliner Student für die ambitionierte, von Hildegard Brenner herausgegebene Zeitschrift Alternative, wechselte jedoch bald zur Roten Zelle Germanistik über, mit der er die Freie Universität aufmischte und ausgerechnet Peter Szondis politisch eher linkes Seminar für Vergleichende Literaturwissenschaft besetzte. Von da war es nur ein kleiner Schritt zur maoistischen KPD-AO, die sich verstiegen als Aufbauorganisation einer neuen kommunistischen Partei verstand. Auf dem Weg zur Weltrevolution musste Lethen in Wedding das Parteiorgan Rote Fahne von Haus zu Haus verkaufen, was ihm peinlich war. „Die Partei verbrauchte Erbschaften und beendete akademische Karrieren“, so sein Resumé.
In der Reihe von Büchern, die an 68 erinnern, komme Lethens Suche nach dem Handorakel eher spät, meint Birnstiel und erwähnt Gerd Koenens umfangreiches, locker selbstkritisches Werk Das rote Jahrzehnt von 2001 sowie Götz Alys radikale Abrechnung mit der eigenen Geschichte unter dem provokanten Titel Unser Kampf von 2008. Alys Parallelsetzung der 68er-Aktionen mit denjenigen der NS-Studenten von 1933 stieß zum Teil auf heftige Ablehnung, sie ist jedoch weniger abwegig, als sie auf den ersten Blick erscheint.
Immer radikal, niemals konsequent – so lautet der Titel eines 2011 erschienenen Buchs über den alternativen März Verlag, zugleich ein Lobgesang auf dessen Gründer und Kopf Jörg Schröder. Im Februarheft des Merkur stellt ihn Georg Stanitzek als „kompletten literarischen Arbeiter“ vor. Ausgehend von einer soliden Buchhändlerlehre vereine Schröder in sich die Qualifikationen des Werbefachmanns, des kenntnisreichen Lektors, Programm-Machers und Netzwerkers, ebenso des Grafikers, Buchgestalters, Setzers und schließlich des souveränen Autors.
1965 trat Schröder als Verlagsleiter in den Darmstädter Melzer Verlag ein, von dem er sich trennte, um im März (!) 1969 den eigenen März Verlag zu gründen und so noch nie da gewesene Bücher mit einem grellen, gelb-rot-schwarzen Schutzumschlag zu produzieren. Das Programm war ganz und gar dem kulturrevolutionären Zeitgeist auf der Spur, besonders der ameri#-kanischen Pop- und Underground-Literatur und ihren deutschen Vermittlern Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla, die für den März Verlag die aufregende Anthologie Acid zusammenstellten. Trotz großer Erfolge, etwa mit Bernward Vespers Roman Die Reise, vor allem aber mit Pornografie, ging März zweimal in Konkurs und lebt doch bis heute weiter in Fortsetzungen der seit 1990 unregelmäßig erscheinenden Serie Schröder erzählt, also mit dessen ebenso bewunderten wie gefürchteten Tiraden gegen den Literaturbetrieb und sein Personal. In diese Reihe gehört auch das Buch Immer radikal, niemals konsequent, das die Märzgeschichte fortschreibt.
Ein Schriftsteller, der mit den Linken, speziell mit dem linken Establishment nichts zu schaffen haben wollte, war der 2007 gestorbene Walter Kempowski. Er hatte gute Gründe dafür, musste er doch eine achtjährige Zuchthausstrafe in Bautzen absitzen, nur weil er 1948 Frachtpapiere aus der väterlichen Reederei von Rostock nach Wiesbaden geschmuggelt hatte. Der sich fortschrittlich wähnenden Literaturkritik galt er lange als Reaktionär und Langweiler. Sein erstes Buch, der Haftbericht Im Block, erschien 1969 zur Unzeit. Auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte und in der Ära der Entspannungspolitik wollte man von Knastgeschichten aus der DDR nichts hören.
Umso überraschender, dass Kempowski in seinen 2012 postum publizierten frühen Aufzeichnungen, die Gerhard Henschel im Aprilheft des Merkur kommentiert, positiv über die Apo-Rebellen Fritz Teufel und Rainer Langhans urteilt: „Teufel – Langhans, lebende Symbole. Ihr Auftreten in Deutschland wohltuend.“ Vielleicht war es gerade deren Radikalität, ihr Anderssein, das den geborenen Konservativen anzog. Nach dem Ende seiner Haft im Westen eingetroffen, musste der junge Kempowski eine Menge Kränkungen einstecken, bis es ihm gelang, sich als bürgerlicher Mensch und Schriftsteller zu etablieren: als Chronist seiner Rostocker Herkunftsfamilie mit dem Roman Tadellöser & Wolff, der 1971 herauskam und zum Bestseller wurde.
Federleichte und hoch differenzierte Landschaftsgedichte des Schotten John Burnside eröffnen das Aprilheft der Akzente. Das Gedicht Bei der Beerdigung meines Vaters setzt so ein: „Mit einer Handvoll Lehm / wollten wir seinen Mund versiegeln, / mit der Asche des letzten / Feuers, das er / am sumpfigsten Rand / des Gartens gelegt hatte, / seine Augen bedecken …“
Von eigenartigem Reiz, assoziationsreich, intellektuell und poetisch, sind auch die Prosatexte der 1983 geborenen Mexikanerin Valeria Luiselli, die ihrem Band Falsche Papiere entstammen, für uns hierzulande, jedenfalls für mich eine Entdeckung. Es handelt sich, so Cees Nooteboom, um „Essays, in denen gereist und betrachtet wird.“ Die junge Autorin sei eine „Unbehauste“, die mit „Unbefangenheit und Intelligenz“ zu Werk gehe. In Venedig, voran auf der Friedhofsinsel San Michele, sucht Luiselli nach Spuren des von ihr verehrten Dichters Joseph Brodsky, die hier 1996 starb. Seinetwegen durchstreift sie, reichlich mit europäischer Bildung versehen, Cafés und Hotels der Stadt.
Als echter Flaneur und erfahrene Friedhofsbesucherin gibt sie nicht auf – das Suchen birgt oft mehr Vergnügen als das Finden –, bis sie nach Stunden Brodskys Grabstätte entdeckt hat, abgesondert von den normalen Venezianern, in der Nähe von Ezra Pounds Ruheplatz. Weshalb ist Brodsky in einer Stadt beerdigt worden, fragt sie, in der er nur auf Durchreise war? Warum nicht in St. Petersburg, wo er rund 30 Jahre lang (bis zu seiner Ausbürgerung 1972) mit seinen Eltern in eineinhalb Zimmern lebte? Und warum nicht in den Wäldern von Massachusetts, die er selbst bevorzugt hätte?
Auf Brodskys glattem grauem Grabstein hatten Verehrer Schokolade, Füllfederhalter und Blumen abgelegt; kein Foto war in die Platte eingefügt und es lag, nach Valeria Luisellis Eindruck, eine gewisse Anonymität und Abwesenheit über dem Grab, wovon der Dichter in seinem Venedigbuch Ufer der Verlorenen spreche. Und sie fügt ein kleines Gedicht Brodskys ein: „Ein Baum. Schatten. Dann die / Erde, Wurzelheim. / Knorrige Monogramme. / Lehm. Eine Kette aus Stein. / Wurzeln. Ihr Geflecht. / Stein, dessen persönliche Last / befreit und sich schlecht / ins gegebene System einpasst.“
Die Saarbrücker Literaturzeitschrift Streckenlaeufer soll hier, mit einiger Verspätung, gelobt werden, zumal ihre 30. Ausgabe besonders gelungen erscheint. Das Blatt existiert seit 1990 und bringt Erzählungen, Gedichte und Essays vorwiegend saarländischer Autoren. Eine neue Nummer kommt laut Impressum immer erst dann heraus, wenn der Redaktion gute Texte in ausreichender Zahl vorliegen – ein vernünftiges Prinzip, das Nachahmung verdient.
Ralph Schock berichtet über die Freundschaft zwischen dem französischen Autor Georges Perec und seinem deutschen Übersetzer Eugen Helmlé, die Mitte der 60er Jahre begann und in Briefen dokumentiert ist. Helmlé übertrug die extrem schwierig umzusetzenden Werke Perecs angemessen, so den experimentellen Roman La Disparition (auf deutsch Anton Voyls Fortgang), wobei er absurde Vorgaben und Zwänge wie den Verzicht auf den Buchstaben E befolgte. Auch Hörspiele Perecs hat er für den Saarländischen Rundfunk übertragen.
Auch der im Januar dieses Jahres gestorbene Werner Laubscher hat sprachartistisch in der Art der Oulipo-Autoren gearbeitet und hätte vorzüglich in die Gruppe um Perec und Queneau gepasst. Der Streckenlaeufer druckt Andreas Durys Grabrede auf Laubscher. In dessen experimentellen Germansviller Dokumenten erzählen Patienten, die an fiktiven Sprechkrankheiten leiden, eine immer gleiche Geschichte ganz verschieden: Jemand ist auf der Suche nach einer Winzerhütte, in der er den heiligen Gral vermutet. Doch all die 70 oft grotesken Varianten des Suchens führen ins Leere.
Schließlich steuert Klaus Behringer eine gewundene Lobrede auf Hans Arnfrid Astel bei, der den Gustav Regler-Preis der Stadt Merzig erhielt. Astel, der in diesem Jahr achtzig wird, hat wohl über 3000 Kurzgedichte oder Epigramme verfasst, die sich anfangs vorwiegend politischen Gegenständen, später vor allem den Mythen und ihrem biologischen Substrat widmeten. Als Redakteur des Saarländischen Rundfunks hat er zahllose Gesprächssendungen mit manchmal ganz unbekannten Autoren gemacht. Und er hat jahrelang ein literatur-didaktisches Seminar mit dem Titel Selber schreiben und reden an der Universität des Saarlands geleitet und war insofern ein Vorbild und ein Geburtshelfer für angehende Schriftsteller. In einem abgedruckten Astel-Gedicht heißt es: „Der Falter ist enteilt / aus seinem Sommer, / jedoch sein Bild / bleibt da in deinem Buch.“
Merkur: Heft 2 und Heft 4, Februar und April 2013
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12 €.
Akzente: Heft 2, April 2013
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
Streckenlaeufer: Nummer 30, Frühling 2013
(In der Fröhn 13, 66125 Saarbrücken), 5,- €.
Michael Buselmeier 15.05.2013
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Michael Buselmeier
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