|
|
|
|
September 2016
Wer Wert legt auf abendländische Tradition und literarischen Bildung – und das tun hierzulande noch immer erstaunlich viele Menschen –, sollte zum Beispiel die Zeitschrift Sinn und Form lesen, die in Berlin im 68. Jahrgang erscheint. Dort erfährt man nahezu regelmäßig etwas über die prägenden Gestalten des europäischen Geistes, die nun fast alle tot sind. Das vierte Jahresheft eröffnen Tagebuchblätter des Literatur-Nobelpreisträgers Imre Kertész, der in diesem Jahr gestorben ist. Thomas Sparr erinnert an den Theaterkritiker, Intendanten und geistreichen Publizisten Ivan Nagel, der seit 2012 nicht mehr lebt. Noch im Herbst 2011 haben Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen mit Nagel, der autobiographischen Ansätzen eigentlich misstraute, ein sechsstündiges Gespräch geführt, das im April 2012, als Nagel im Sterben lag, im Radio ausgestrahlt wurde. Es wurde sein Vermächtnis.
„Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller“, bekennt Nagel gleich zu Anfang. Da geht es um seine Kindheit und frühe Jugend in Ungarn und um den Beginn der Freundschaft mit dem späteren Literaturwissenschaftler Peter Szondi. Beide entkamen 1944 knapp der Vernichtung und konnten sich nach Zürich retten, wo der 1931 geborene Nagel 1950 Abitur machte. Er studierte in Paris, Heidelberg, vor allem in Frankfurt bei Theodor W. Adorno, seinem ersten prägenden Lehrer, Philosophie und Soziologie. Die Doktorarbeit über die „Bewegungsformen der Geschichte bei Hegel“ hat er nie abgeschlossen; er wurde Theaterkritiker, ging anschließend als Dramaturg an die Münchner Kammerspiele und endlich als Intendant an das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg. In München begegnete er dem legendären Regisseur und Schauspieler Fritz Kortner, seinem zweiten bedeutenden Lehrer: „Wir saßen nebeneinander, und ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben den Eindruck: Jetzt sitze ich neben einem Genie. Die Ausstrahlung seines Gesichts, jedes einzelnen Muskels in diesem Gesicht, die Brauen, der Mund, der Blick, die Gesten, alles war von einer solchen Größe, das konnte man gar nicht übersehen. Adorno war auch ein genialer Mensch, aber seine Ausstrahlung war manchmal ein bisschen komisch.“
Der wesentliche Teil des Gesprächs dreht sich nicht um das Judentum, denn Ivan Nagel fühlte sich in seinem Leben „nie hauptsächlich als Jude“, sondern um die Homosexualität, für die man in Nagels Jugend, bis 1969, noch bestraft werden konnte. Mit sechzehn, nach der Befreiung, habe er seine glücklichsten Jahre erlebt, sich die Welt und die Kunst erobert: „Mit sechzehn wollte ich eigentlich nicht mehr älter werden. Ich sagte zu mir: Jetzt ist das Gehirn am klarsten, die Welt am transparentesten, warum soll ich mich einlassen auf diese Erwachsenen-Seuchen, diese trüben Geschichten“ – eine für angehende Künstler und Intellektuelle typische innere Erfahrung, ein Erweckungserlebnis; sie müssen dafür gar nicht jüdisch oder homosexuell sein. Doch wie, fragt Nagel weiter, war es möglich, dass die „universalsten Kenner, die reichsten Darsteller der Menschheit nur Männer glücklich liebten?“ Er erwähnt Shakespeare, Proust, Michelangelo und Leonardo. Waren sie neugieriger auf den Menschen und seinen Körper, seine Bosheit wie seine Größe, als andere? Vielleicht auch zerrissener, kühner?
Das jüngste Heft des laufenden Sinn und Form-Jahrgangs wird eingeleitet mit einem bislang unveröffentlichten Erzählfragment Rudolf Borchardts; sein Titel: „Paulkes letzter Tag“. War der gelehrte Sprachkünstler, konservative Kulturhistoriker und hochpathetische Dichter auch ein Satiriker von Rang? „Paulkes letzter Tag“ ist jedenfalls das einzige Überbleibsel eines auf neun Bände konzipierten Novellen- oder gar Romanzyklus mit dem Titel „Die mageren Jahre“. Er sollte das Schicksal Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln, besteht indes nur aus wenigen, allerdings erstaunlich souveränen und pointen-sicheren Druckseiten, die von einem windigen jungen Geschäftsmann und Schieber in Berlin erzählen, seinen Ticks, Neurosen und Wünschen. Eher zufällig und nebenbei mit einem Grafen Erbach verwechselt, gibt Paulke sich einen strahlenden Sommertag lang als eben dieser aus, bevor er sich am Ende erhängt, ein kleiner Hochstapler und Schwindler, von Borchardt, der sich gelegentlich auch als Adliger wie als „Doktor“ ausgab, in seiner ganzen Zwiespältigkeit dargestellt. Das hätte, fortgeführt, ein großer Roman(zyklus) werden können; man bedauert all das Unausgeführte, dessen Fertigstellung und baldiges Erscheinen Borchardt jahrelang großspurig angekündet hat.
Die Wiener Zeitschrift Volltext hat sich im Lauf der letzten Monate, auch nachdem das Zeitungsformat aufgegeben wurde, zu einem der interessantesten literarischen Organe entwickelt. Die jüngste Ausgabe bringt kluges ein Gespräch mit Ulrike Draesner über Gegenwartslyrik sowie „15 Geschichten für Einar Schleef“ von Alexander Kluge. Über die bedeutende österreichische Dichterin Christine Lavant, die von 1915 bis 1973 in einem Dorf in Kärnten lebte, berichtet Klaus Amann. Ihre Mitte der 40er Jahre entstandenen „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“ sind in diesem Jahr bei Wallstein neu herausgegeben worden. In der literarischen Welt bekannt wurde Lavant, die den Lebensunterhalt ihrer Familie zeitweise mit Stricken verdiente, um 1950 durch ihre außergewöhnlich intensiven Gedichte, während ihre autobiographisch grundierte Prosa eher als Beiwerk angesehen wurde: 1948 erschien „Das Kind“, 1949 „Das Krüglein“. Lavant – das ist ein Pseudonym, eigentlich hieß sie Thonhauser – fürchtete Vorwürfe und Kritik aus ihrer Umgebung, seitens der Geschwister und der Dörfler, die in den Texten kaum verhüllt und oft nicht gerade vorteilhaft abgebildet waren. Es ist das Milieu, in dem sie aufwuchs und auch verwurzelt war, ihr eigenes „Stück Leben“. Sie könne ja „nichts Unwirkliches schreiben“, betonte sie immer wieder; der Ursprung ihrer Kreativität liege ganz in ihr.
Mit den so persönlichen „Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus“, geschrieben im Herbst 1946, hat sie mehr von sich und ihrem vom Elend bestimmten Zuhause preisgegeben als mit jedem anderen Text. 1935 hielt sie sich nach einem Selbstmordversuch mit Schlafpulver sechs Wochen freiwillig in der Landes-Irrenanstalt Klagenfurt auf. Die „Aufzeichnungen“ wurden zu Christine Lavants Lebzeiten nicht veröffentlicht, zum Teil hat sie das selbst verhindert: „Mein Leben ist ohnehin ein einziges Grauen“, heißt es in einem Brief, „und wenn diese Aufzeichnungen nicht aus der Welt geschafft werden, muss ich auch vor der Todesstunde noch zittern.“
Die jüngste Ausgabe der pfälzischen Literaturzeitschrift Chaussee kann man nur loben. Sie ist „100 Jahre Dada“ gewidmet und in jeder Hinsicht gelungen. Das überrascht zunächst, denn eigentlich ist ja bereits seit Monaten in zahlreichen Medien aller Art soviel vom Dada-Jubiläum die Rede, dass man nichts mehr davon hören möchte. Doch verfügt die Chaussee über eine Art Heimvorteil: Der Initiator und Inspirator von Dada, der 1886 in Pirmasens geborene Hugo Ball, hat im Pfälzer Wald seine ersten Gedichte geschrieben und dürfte sie auch im pfälzischen Tonfall seinen Freunden vorgetragen haben. Man greift nicht gelangweilt nach einem Thema, das gerade in Mode ist, sondern weiß genau, womit man es zu tun hat.
Eröffnet wird das Heft mit den Original-Typoskripten einiger Lautgedichte Hugo Balls, und man erkennt sogleich: Dada – das war die Befreiung des Wortmaterials vom Sinn („gadji beri bimba“). Es folgt ein einführender, klar strukturierter Aufsatz von Eckhard Faul, der seit 2008 die Pirmasenser Hugo Ball-Sammlung betreut, über „die Erfindung von Dada“ vor 100 Jahren. Zum ersten Mal wird das Wort Dada im Mai 1916 in einem Text von Hugo Ball genannt. Woher er das Wort hat, sagt er nicht, erklärt jedoch: „Dada heißt im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen“, kurz ein „kindliches Lallwort ohne Bedeutung.“
Ball hatte sich im Studium in Heidelberg mit Nietzsche beschäftigt und eine Dissertation über ihn begonnen, er hatte in Berlin die Schauspielschule von Max Reinhardt besucht und war Dramaturg an den Münchner Kammerspielen. Er hatte auch Kontakt zu expressionistischen Schriftstellern und eben solche publizierte Gedichte in deren Zeitschrift Die Aktion: „Aus unsrem Ohr lustwandeln Eiterströme. / Das Auge rankt sich wüst um das Monokel. / An einem Drahtseil leckt ein schlichter Böhme. / Ein Schwein steht segnend auf dem Marmorsockel.“
1915 emigrierten Ball und seine Freundin Emmy Hennings als Kriegsgegner nach Zürich. Dort eröffneten sie am 5. Februar 1916 zusammen mit Hans Arp, Marcel Janco, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck das „Cabaret Voltaire“. Hier trägt Ball, körpergepanzert, in einem „kubistischen Anzug“, am 23. Juni 1916, rezitativartig, im Kirchenstil, seine Lautgedichte vor. Kurz darauf erscheint das erste dadaistische Manifest, in dem auch der Begriff Weltkrieg fällt: „Dada Weltkrieg und kein Ende.“ Und im März 1917 eröffnen Ball und Tzara in der Züricher Bahnhofstraße die „Galerie Dada“. Sie schließt ihre Tore bereits Mai. Hugo Ball reist ab ins Tessin. Der Abschied von Dada ist endgültig, und Ball wendet sich anderen (katholischen) Dingen zu.
In dem bunt aufgemachten Chaussee-Heft erfährt man auch etwas über die Hugo Ball-Gesellschaft, die Hugo Ball-Sammlung der Stadt Pirmasens, über den Hugo Ball-Almanach und den begehrten Hugo Ball-Preis. Wolfgang Hörner stellt den wortgewaltigen, jedoch kaum gelesenen Johann Fischart als Prä-Dadaisten aus der Renaissance neu zur Diskussion; er wurde 1546 in Straßburg geboren und starb wohl 1591 in Forbach bei Saarbrücken. Ausführlich, mit zahlreichen neo-dadaistischen Lautgedichten, wird an den 2013 in Landau gestorbenen Werner Laubscher erinnert, zugleich Dichter, Maler und Komponist, der – wäre es nach Verdienst gegangen – den Hugo Ball-Preis hätte erhalten müssen.
Die Zeitschrift Der Literaturbote, die im 31. Jahrgang in Frankfurt erscheint, verabschiedet ihren langjährigen Redakteur Harry Oberländer, der zugleich Leiter des Hessischen Literaturbüros war und als solcher für zahlreiche brillante Lesungen und wilde Debatten im Mousonturm zuständig, in den sogenannten Ruhestand. Den 1950 geborenen Dichter Oberländer kann man freilich nicht so einfach zur Ruhe schicken. Sein Freund Wilhelm Genazino ruft ihm nach, er sei „ein heiterer und humorvoller Mann geblieben“, obwohl er „keine Sekunde lang“ vergessen habe, „dass wir den Zufall und das Glück brauchen, um den Drohungen des Scheiterns und der Selbstverfehlung aus dem Weg zu gehen.“
Sinn und Form: 4 und 5, 2016
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,– €.
Volltext: Nr. 2, 2016
(Goldschlagstraße 78/22, 1150 Wien), 5,90 €.
Chaussee: Heft 37, 2016
(Postfach 2860, 67616 Kaiserslautern), 5,- €.
Der Literaturbote: Nr. 121, 2016
(Waldschmidtstraße 4, 60316 Frankfurt), 5,- €.
|
|
|
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar
|
|