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Mai 2017
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Zeitschriftenlese  –  Mai 2016
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Briefe des knapp 20jährigen Felix Hartlaub, geschrieben an die Familie aus Neapel im Frühjahr 1933, eröffnen das jüngste Heft der Zeitschrift Sinn und Form. Für manche, etwa Durs Grünbein, gilt Hartlaub als „eines der stärksten Prosa-Talente seiner Generation“, ein früh Vollendeter oder ein nicht zu Ende Geborener, jedenfalls eine Mehrfachbegabung (als Schriftsteller, Zeichner, Romanist und Historiker), ein kühler, sehr distanzierter Beobachter seiner Umgebung – vor allem durch seine „Kriegsaufzeichnungen“, die postum mehrmals publiziert wurden. Schon der Odenwald-Schüler Hartlaub sah sich in seinem „völligen Alleinsein“ als eine „Mischung von Schüchternheit und Arroganz“. Gegen Kriegsende verstand sich der besessene Tagebuch-Schreiber nur noch als „Schreibfinger, Leseauge, Sehkanal“. Seit dem 2. Mai 1945 gilt er als „verschollen“.
  Die meisten Jugendbriefe richten sich an den ihm „schlichtweg unentbehrlichen“ Vater, den Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub, der als Direktor der Mannheimer Kunsthalle in jenen Tagen gerade von den Nazis wegen „Kulturbolschewismus“ entlassen worden war. Die Eindringlichkeit, mit der Sohn Felix Neapel und Perugia beobachtet und beschreibt, weist darauf hin, dass die Briefe an den „lieben Pappi“ ihm auch als literarisches Experimentierfeld dienten.
  Naturgemäß ist viel von den Schwierigkeiten des Alltags die Rede, vom Hinschwinden des Geldes für Sprach- und Ferienkurse, vom Suchen und Finden einer Studentenbude im „ohrenbetäubenden Lärm“ Neapels, gelegen „an einer steil ansteigenden Sackgasse, bedeckt mit Abfällen, Rinnsalen aller Art.“ Hartlaub beklagt die Entwicklung der Archäologie zur „Modewissenschaft“ und zur „Favoritin des Faschismus“. Er schildert die „Groteske der Ausgräberei“, die geschwätzigen Professoren, Studentinnen, die „ohne einen Blick auf das Objekt“ eifrig mitschreiben oder sich die Nase pudern. Wo aber bleibt, fragt er, typisch deutsch, „gegenüber diesem sich täglich verbreiternden Trümmerfeld die Sinngebung, die Deutung, die Wertung, der Vergleich mit dem Heute?“ Auch in Goethes „Italienischer Reise“, die er mit sich trägt, gebe es nur „paradiesische Heiterkeit“, kein Wort jedoch „von dem schrecklichen Eindruck der in allen Farben der Nässe und Fäulnis gesprenkelten Häuserwüste.“
  Sechzehn Jahre nach seinem Unfalltod im Dezember 2001 erscheinen hier und da noch immer Erinnerungen an W. G. Sebald. Seine Bedeutung und das Ansehen seiner hoch differenzierten Gedächtnisprosa scheinen sogar noch zu wachsen. Viele Leser dürfte es faszinieren, anhand seiner Bücher zu beobachten, wie die Grenze zwischen Erfahrung und Erfindung ständig verwischt wird. Mit der Berliner Literaturwissenschaftlerin Sigrid Damm verband Sebald eine späte literarische Freundschaft, über die sie in Sinn und Form berichtet.
  „Melancholische Erinnerungen“ an Michael Parkinson und W. G. Sebald steuert der ungarische Essayist László F. Földényi bei. Als Student der Anglistik reiste er 1974 in die ostenglische Stadt Norwich. Er war verabredet mit Michael Parkinson, der an der dortigen Universität lehrte, über einen völlig unbekannten Autor promovierte und immer wieder zu endlosen Wanderungen aufbrach. „Er war der melancholischste Mensch, der mir je begegnet ist“, schreibt Földényi, ein Junggeselle, der weder Frau noch Kind hatte und selbst wie ein Kind oder wie ein alter Mann wirkte, die sich in seine Bücher verkroch.
  1975 trafen sich die beiden in Ungarn wieder und wechselten in der Folge noch eine Zeit lang Briefe, dann hörte Földényi nichts mehr von Parkinson. Doch im Frühjahr 2001 las er in Sebalds poetischem Reisebericht „Die Ringe des Saturn“, und eben dort, auf der vierten Seite, stand, dass Michael Parkinson, der „unendlich Einsame“ und „völlig Anspruchslose“, 1994 mit Ende Vierzig tot in seinem Bett aufgefunden worden sei. Er konnte also den letzten Brief seines ungarischen Freundes gar nicht mehr beantworten, meldete sich aber nun auf den ersten Seiten eines Buches, das von einem stammte, der selbst in Norwich gelehrt hatte und ihm wohl auch ein wenig ähnlich war.
  Kritische Ausgabe nennt sich eine Zeitschrift für Germanistik, die bereits im 20. Jahrgang von Studenten und Dozenten der Universität Bonn herausgegeben wird. Manche Beiträge kommen etwas holprig oder dunkel raunend daher und müssen erst aus dem Germanistischen ins Deutsche übertragen werden. Jedes Heft steht unter einem besonderen Thema; das des vorliegenden (mit der Nummer 31) lautet „Untergrund“. Damit ist eingangs der „Nationalsozialistische Untergrund“ gemeint, die „Zwickauer Zelle“, der zehn Morde angelastet werden. Elfriede Jelinek hat darüber ihren jüngsten Text „Das schweigende Mädchen“ geschrieben, Lothar Kittstein ein Drama mit dem Titel „Der weiße Wolf“, das im Schauspiel Frankfurt zur Uraufführung kam. Beide Zeitgeist-Stücke werden aufwendig interpretiert.
  Mit „Untergrund“ könnten aber auch unter der Erde oder im Innern des Menschen verborgene Schichten gemeint sein, die zu Tage gefördert werden sollten. Mit Walter Benjamins Worten: „Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muss sich verhalten wie ein Mann, der gräbt.“ Auch in W. G. Sebalds Werken ist viel vom Untergrund als freizulegendem Ort des Vergangenen zu lesen, von dem die Toten wieder zurückkehren.
  Im Gespräch mit dem 1961 geborenen Autor Enno Stahl wird die Underground-Literatur der 60er und 70er Jahre in den USA und der Bundesrepublik thematisiert, radikal abweichende Texte von Allen Ginsberg und Charles Bukowski, Rolf Dieter Brinkmann und Jörg Fauser. Auch der 1942 geborene Hamburger Daniel Dubbe, der in der Kritischen Ausgabe porträtiert und interviewt wird, zählt als Poet und Mitherausgeber der alternativen Literaturzeitschrift Boa Vista (1974 bis 1983) zur deutschen Beat-Generation, die die Position des Außenseiters pflegte und antikapitalistische Posen kultivierte, während die derzeit so beliebten Poetry Slams der reinen Unterhaltung frönen.
  Unter dem ungewöhnlichen Titel „Bildberührung, Augeneinschreibung“ berichtet Hans Jürgen Balmes in der jüngsten Ausgabe der Neuen Rundschau über die Zusammenarbeit von Thomas Kling mit seiner Frau, der Malerin Ute Langanky. Seit den 90er Jahren, somit lange vor dem frühen Tod des bedeutenden Sprach-Installateurs im April 2005, hat Balmes wiederholt tiefschürfende poetologische Arbeitsgespräche mit ihm geführt, die in Zeitschriften wie Zwischen den Zeilen und der Neuen Rundschau publiziert wurden. Sie folgten einer sprachschöpferischen Linie, berichteten von Versuchen, Sprachräume zu gestalten, von der unablässigen Suche nach dem Moment, wo – so Kling – „am wahrnehmbaren punkt meiner stirn das gedicht sich festsetzt.“
  Auf der Suche nach diesem „Moment des Gedichtanschließens“ gewann Klings Kollaboration mit Ute Langanky an Wichtigkeit. Er lernte, „wie das Auge dem Bild nachfährt und es in seine Sprache übersetzt“, so Balmes. Mit dem Band „wände machen“ beginnt 1994 bei einem gemeinsamen Aufenthalt in der Bergwelt Südtirols der Dialog. Langanky erinnert sich: „Ich hatte zu der Zeit große abstrakte Arbeiten gemacht und fragte mich, was die Schnittmenge zur Spracharbeit von Thomas sein könnte. Bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel und der Hebel umgelegt wurde – dass eben jeder seinen Zugriff auf die Welt hat und sein Feld beackert, aber wenn sich beide auf ein gemeinsames Drittes, ein gemeinsames Thema ausrichten, wird es spannend, was zwischen Bild und Wort passiert.“
  1995, nach dem Umzug auf die Raketenstation Hombroich, intensivierte sich die gemeinsame Arbeit und es kam auch zu einem neuen Verhältnis zur Fotografie. Der Zyklus „Das Haar der Berenice“ (1997) verbindet neun von Kling übersetzte Gedichte Catulls mit einer Bildfolge Langankys. Wichtig dabei sei, so die Künstlerin, dass „jeder ganz bei seiner Sache ist und seine Geschichte macht und nie das Bild das Wort illustriert oder das Wort das Bild erläutert, sondern beides besteht erst einmal ganz autonom nebeneinander.“
  Biografische Notizen zu Karl Löwith von Kay Ehling, einem 1962 geborenem Althistoriker, finden sich im Aprilheft des Merkur. Anlass ist der in diesem Jahr erschienene Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Karl Löwith aus den Jahren 1919 bis 1973. Löwiths Vater Wilhelm war ein sehr erfolgreicher, heute freilich vergessener Maler in München. Sogar Adolf Hitler besaß ein Bild dieses jüdischen Künstlers, das in seiner Wohnung am Prinzregentenplatz hing.
  Karl Löwith studierte Philosophie in Freiburg, er habilitierte sich in Marburg bei Heidegger, ging 1933 ins Exil, das ihn über Italien nach Japan und in die USA führte. 1952 entschloss er sich zur Rückkehr nach Deutschland und nahm einen Lehrstuhl in Heidelberg an. In seinem 1940 im Exil verfassten „Lebensbericht“, der erst1986 postum veröffentlicht wurde, rechnet der Skeptiker, der Nietzsches Denken nahe stand, mit seinem Lehrer Heidegger ab, der bei einem Zusammentreffen in Rom 1936 das Parteiabzeichen am Revers trug. Er konnte einen, heißt es dort, „nie anblicken, mit offenem Blick und auf längere Zeit.“ Zwang man ihn im Gespräch dazu, „so wurde sein Ausdruck verschlossen und unsicher, denn die Aufrichtigkeit im Verkehr mit anderen war ihm versagt.“ Doch habe gerade die „Totalkritik“ des Marburger Dozenten am herrschenden Kultur- und Bildungsbetrieb die jungen Studenten angezogen. In seinem Hörsaal sei, wie in Nietzsches „Götzendämmerung“, „mit dem Hammer philosophiert“ worden.
  Heidegger äußerte sich über Löwith in einem Brief von 1954 ziemlich abschätzig. Er sei „ungewöhnlich belesen und ebenso geschickt in der Auswahl und Verwendung von Zitaten“, habe auch „eine gewisse Begabung für die phänomenologische Deskription.“ Von der griechischen Philosophie wie vom Denken überhaupt habe er „keine Ahnung, vielleicht hasst er es.“ Zu einer echten Wiederannäherung von Lehrer und Schüler kam es jedenfalls nicht. Ich selbst fand Löwiths Heidelberger Vorlesungen in den 60er Jahren über Nietzsches „Ewige Wiederkehr des Gleichen“, über „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“ oder „Glauben und Wissen“ tiefgründiger und klarer als alles, was sonst noch zu hören war, fruchtbarer auch als die Veranstaltungen des anderen Heidegger-Schülers vor Ort, Hans-Georg Gadamer.

Sinn und Form: Heft 3, 2017   externer Link
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 11,– €.

Kritische Ausgabe: Nr. 31, 2016   externer Link
(Institut für Germanistik, Universität Bonn, Am Hof 1d, 53113 Bonn), 9,– €.

Neue Rundschau: Nr. 1, 2017   externer Link
(S. Fischer Verlag, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main), 15,– €.

Merkur: Aprilheft 2017   externer Link
(Mommsenstr. 27, 10629 Berlin), 12,– €.

 

 
Michael Buselmeier
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