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Januar 2013
Seit mehr als 30 Jahren berichte ich regelmäßig über literarische Zeitschriften, aber es ist nicht zu übersehen, dass ich zu den letzten Mohikanern zähle. Noch in den 80ern gab es in fast allen Rundfunkanstalten sowie in den großen Tageszeitungen eine Zeitschriftenschau; Helmut Heißenbüttel machte sie in der Frankfurter Rundschau, Ivo Frenzel in der Süddeutschen Zeitung, Josef Quack in der FAZ, sie galt als unverzichtbar – nun hat man sie auch in der FAZ abgeschafft. Das ist kurzsichtig, denn die Qualität der literarischen Journale ist nach wie vor hoch, ihre Lektüre hilfreich beim lebenslangen Lernen. Mich jedenfalls haben diese Zeitschriften wach und stets auf dem Laufenden gehalten. Sie bewahren etwas vom Geist der Poesie, sind insofern Archive der Zukunft.
Naturgemäß lassen sich nicht alle Zeitschriften adäquat darstellen; so fallen philosophische und soziologische Beiträge häufig raus. Das Literaturblatt für Baden-Württemberg bringt neben Tipps und Terminen kürzere Essays, die für jeden verständlich geschrieben sind. Im jüngsten Heft erinnert Doris Reimer an die Kinder- und Haus-Märchen der Brüder Grimm, die vor 200 Jahren, pünktlich zu Weihnachten, zum ersten Mal erschienen sind. In den folgenden Auflagen hat besonders Wilhelm Grimm Veränderungen vorgenommen, er hat die struppigen Volksmärchen Schritt um Schritt, wie es heißt, „gereinigt, gekämmt und ausstaffiert“ und so zum Welterfolg getrimmt.
Was die Beiträger angeht, so haben die Grimms, ähnlich wie Arnim und Brentano im Fall der Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn, die Namen ihrer rund 40 Helfer bis auf drei verschwiegen. Mehr als ein Drittel aller Märchen verdankt die Grimmsche Sammlung Adolf von Haxthausen. Wichtige Beiträgerinnen wie Marie Hassenpflug und Dorothea Viehmann waren keineswegs „ächt hessische Bäuerinnen“, sondern gebildete junge Frauen aus dem Bürgertum.
Das Literaturblatt erinnert ferner an Hermann Lenz, der vor hundert Jahren, am 26. Februar 1913 in Stuttgart geboren wurde, ein später Romantiker, stiller Wanderer, Verehrer Stifters und Mörikes. Lenz hat den größten Teil seines Lebens, kaum be- und wenig ge-achtet, in Stuttgart zugebracht. Bis 1971 war er Sekretär des Süddeutschen Schriftsteller- Verbands, dann verlor er sein Pöstchen, weil er den linken Mitgliedern „unzeitgemäß“ erschien, eine Kränkung, über die Lenz in seinem Roman Seltsamer Abschied berichtet. Doch zwei Jahre später hat ihm ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung über Nacht den Weg in die literarische Öffentlichkeit und zum Suhrkamp Verlag gebahnt: Peter Handke pries die Prosa des Sechzigjährigen, die „in Versunkenheit und Erinnerung“ entstehe.
Die österreichische Zeitschrift Literatur und Kritik erinnert an den Wiener Volksschauspieler, Sänger und ironisch-satirischen Dramenschreiber Johann Nestroy, der im Jahr 1862, also vor 150 Jahren gestorben ist. Zu diesem Jubiläum sind zwei neue Biographien erschienen, die sich, so Reinhard Urbach, darauf beschränken, die Fakten des Lebenslaufs zu addieren, Sozial- und Geistesgeschichte aber außen vor lassen. Nestroy hing, passend zur dunklen Seite des Biedermeier, einem souveränen Pessimismus an, er sah den Menschen „sich auf schiefer Bahn abwärts bewegen.“ Von seinen mehr als 80 „Possen mit Gesang“ sind einige lebendig geblieben, sprachwitzige Stücke wie Lumpazivagabundus, Der Talisman oder Einen Jux will er sich machen (auch wenn sie kaum noch aufgeführt werden).
Die engeren Mitarbeiter der Grazer Zeitschrift manuskripte, Freunde von Alfred Kolleritsch, der das Blatt seit 52 Jahren herausgibt, widmen einander schon immer Elogen und feiern sich wechselseitig aus Anlass ihrer jeweiligen Jubeltage, wogegen nichts einzuwenden ist. Diesmal gratuliert die Redaktion Peter Handke und Klaus Hoffer zu ihrem 70. Geburtstag. Beide zählen von Anfang an zu den prägenden Autoren der manuskripte.
Vor zehn Jahren wurde Peter Handke zum 60. Geburtstag ein ganzes Heft (Nr. 158) mit über 40 Beiträgern gewidmet; diesmal steht der weniger bekannte Klaus Hoffer im Mittelpunkt. Er hat über Kafka promoviert, war lange in seiner Geburtsstadt Graz als Lehrer tätig und hat vergleichsweise wenig veröffentlicht. Im Zentrum seines Werks steht die zweiteilige Erzählung Bei den Bieresch, die 1979 bzw. 1983 erschien und in einer mytho-poetischen Sprachwelt spielt. Gepriesen wird Hoffer auch als Übersetzer von Joseph Conrad, Raymond Carver und Nadine Gordimer.
Zu lesen sind vor allem Freundestexte, persönliche Schilderungen, wie der oder jener im Jahr 1962 mit Klaus Hoffer um den Grazer See spazierte oder bei ihm zu Hause einen Rehrücken verspeiste; lauter „Kenner und Genießer“, die im Forum Stadtpark zu Graz beisammensaßen, eine Stadt „voller experimentierender Dichter“, so der Schweizer Gast Dieter Bachmann mit Bewunderung. Es folgt eine Freundesrede von Urs Widmer zu Hoffers Geburtstag, aus der man Erhellendes über Kafkas Schloss und dessen Bezüge zu den beiden Bieresch-Romanen erfährt. Außerdem Fotos und Briefe von Vertrauten wie Elias Canetti, Paul Nizon und Peter Handke.
Die Beiträge zu Handke beginnen mit Anne Webers Rätselfragen, die alle auf den berühmten Jubilar zulaufen: „Wäre er ein Säugetier, so wäre er ein Igel. Wäre er eine Frucht, ebenfalls (Kastanie).“ Helmut Moysich beschäftigt sich mit Handkes jüngstem Buch Versuch über den Stillen Ort und arbeitet heraus, wie eindringlich der Dichter einmal mehr „vom lebensstärkenden Zauber noch der unscheinbarsten Dinge“ zu zeugen vermag.
Der aus dem Kärntner Dorf Griffen stammende Handke ist einer, dem es dort beinahe die Sprache verschlagen hätte. Gerade deshalb ist er ein Dichter geworden, der es mit der Sprache bitter ernst nimmt. Auch Josef Winkler kommt aus so einem winzigen Kärntner Bergdorf namens Kamering, wo er eine leidvolle Kindheit in Armut, Gewalt und Verlogenheit verbrachte. Zugleich aber war es für ihn, wie er nun in den horen, im Gespräch mit Adelbert Reif bekennt, „ein Luxus, in einer so bildintensiven Umgebung aufzuwachsen.“ Die Rituale der katholischen Kirche seien „eine unerschöpfliche Quelle“ für sein Schreiben; ebenso das archaische Arbeitsleben auf einem kleinen Bauernhof in den 50er und 60er Jahren, als es noch keine Landmaschinen gab und alle mittun mussten. In seinen frühen Romanen, sagt Winkler und meint die Trilogie Menschenkind, Der Ackermann aus Kärnten und Muttersprache, befinde er sich „wirklich im Sumpf und am Rand der Jauchegrube dieses Dorfes. Da bin ich in der Hölle drin und schlage mit Worten um mich.“
Nur über Stil und Form, nicht über Inhaltliches habe er, ständig lesend, den Weg zur Literatur gefunden; so habe er, der Dorfjunge, Zugang zu Jean Genet und seinen provozierenden Büchern bekommen, zu Hans Henny Jahnn, zu Thomas Bernhards und Peter Handkes frühen Werken: „Für mich ist Handke der größte europäische Schriftsteller. Ich wüsste keinen, der mit solcher Vielfalt mit der Sprache umgehen könnte.“
Ein Schriftsteller ganz anderer Art war der 2010 gestorbene Niederländer Harry Mulisch, ein eleganter, betont intellektueller Erzähler, Autor von Welterfolgen wie Das Attentat (1982) und Die Entdeckung des Himmels (1992), Aspirant auf den Nobelpreis, der in seine Prosawerke immer wieder psychologische, theologische, vor allem philosophische Diskurse aufnahm. Der Zweite Weltkrieg und seine Auswirkungen ließen ihn nicht los.
Die Zeitschrift Akzente druckt in ihrer Dezember-Ausgabe Harry Mulischs letzten, Fragment gebliebenen Text, an dem er in den Monaten vor seinem Tod gearbeitet hat, unter dem Titel Die Zeit selbst. Darin wird der Protagonist, ein niederländischer Essayist, von der Zeit zum Narren gehalten. Wegen eines um 90 Grad gedrehten Reiseweckers liest er die Zeit falsch ab und verpasst so eine Fernsehdebatte mit einem dominanten Professor über die mehr oder weniger kurze Spanne der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft, also über das Phänomen der Zeit. Die Erzählung ist geistvoll und hoch artifiziell, selbstironisch mit dem eigenen Tod spielend – ein kleines Meisterstück, selbst als Fragment.
Mit Fragmenten wird auch das 6. Jahresheft von Sinn und Form eröffnet. Geschrieben hat sie der 1929 in Paris geborene, aus Österreich stammende, in den USA und England lehrende Kulturkritiker George Steiner, einer der letzten Verteidiger des „alten Europas“ und seiner großen Geschichte. Der Text gibt vor, aphoristische Fragmente, die in leicht verkohltem Zustand auf einer Schriftrolle im antiken Herculaneum entdeckt wurden und von einem gewissen Epicharnus von Agra stammen könnten, lediglich zu ergänzen. Jedoch handeln Steiners luzide, philosophisch-pessimistische Reflexionen von uns und unserer Zeit.
Ein Aphorismus lautet: „Freundschaft Töter der Liebe.“ Steiner kommentiert: „Nichts übertrifft, eines Freundes Freund zu sein. Der Tod ist fast ein Privileg, wenn er einen Freund rettet. Umgekehrt ist der Verlust eines Freundes irreparabel.“ Doch Freundschaft könne auch als Kritik der Liebe gedeutet werden, denn „Liebende sind keine Freunde.“
„Freund Tod“ heißt ein anderer Splitter. Steiner beklagt die Langlebigkeit in den westlichen Gesellschaften. Das Elend des Alters werde zwar gelindert, aber es bleibe abstoßend: „Sehen und Hören lassen nach. Urin tropft. Glieder werden steif und schmerzen. Gebisse wackeln in sabbernden, stinkenden Mündern. Der Geist verdorrt.“ Steiner verlangt, dass wir „Art und Zeit unseres Todes selbst bestimmen“ können. „Stoische, epikureische Rechte auf einen selbst gewählten Tod“ sieht er zurückkehren. Erst dann werde der Tod tatsächlich wieder, wie bei den antiken Denkern, ein Freund sein.
Literaturblatt für Baden-Württemberg : Januar / Februar 2013
(Burgherrenstraße 95, 70469 Stuttgart), Jahresabonnement 19,80 €.
Literatur und Kritik: November 2012
(Ernest Thun-Straße 11, 5020 Salzburg), 10,- €.
manuskripte: Nr. 198, Dezember 2012
(Sackstraße 17, 8010 Graz), 11,70 €.
die horen: Nr. 248, 2012
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 14,- €.
Akzente: Heft 6, Dezember 2012
(Vilshofener Straße 10, 81679 München), 7, 90 €.
Sinn und Form: Heft 6, 2012
(Postfach 21 02 50, 10502 Berlin), 9,- €.
Michael Buselmeier 10.01.2013
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Michael Buselmeier
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