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Juli 2013
Es ist vermutlich das erste Mal, dass eine Literaturzeitschrift ihr Jubiläum zum Anlass nimmt, weniger auf sich und die eigenen Verdienste hinzuweisen als das Medium selbst zu würdigen und den Blick auf diese reizvoll schillernde Gattung zu lenken, die im aktuellen Literaturbetrieb immer weniger Beachtung findet. Eben dies unternehmen die seit 1955 bestehenden horen mit ihrem 250. Band. Sascha Feuchert und Jürgen Krätzer haben Autoren, Herausgeber und Kritiker eingeladen zu literaturgeschichtlicher Darstellung und persönlichem Urteil, auch angesichts bedrohlicher Entwicklungen, die sich im World Wide Web anzukünden scheinen. Haben die eh schon finanzschwachen und an schwindenden Auflagen laborierenden Kulturmagazine gegenüber den Internet-Plattformen überhaupt noch eine Überlebens- Chance?
Die 250. Ausgabe der horen ist verdienstvoll, indem sie einen Überblick über die vielen größeren und kleineren Zeitschriften wagt und die eigene Erfolgsgeschichte nur am Rand abhandelt, mit einem bis zu Schillers horen zurückblickenden Aufsatz des 2011 als Herausgeber ausgeschiedenen Johann P. Tammen. Allerdings ist dieser Band mit 320 Seiten überladen und daher oft unübersichtlich geraten, obwohl sich die knapp 60 Beiträge (bis auf den Tammens) auf das 20. Jahrhundert konzentrieren. Allein der umfangreiche Blick auf Literaturzeitschriften außerhalb des deutschen Sprachraums (darunter Weißrussland, Korea, Island…) hätte eine eigene Publikation verlangt. Auch manche Zeitschriften-Porträts und die eingestreuten Gespräche zwischen diversen Herausgebern bringen nicht viel.
Ein paar Glanzpunkte aus der bewegten Geschichte der literarischen Blätter seien erwähnt. Rolf Schneider stellt die berühmte Fackel vor, die Karl Kraus ab 1899 in Wien fast im Alleingang vollgeschrieben hat, ein monomanischer und hoch polemischer Kopf, der sein Blatt (und sich selbst) bis 1936 am Leben hielt. Auch über den Innsbrucker Brenner, in dem ab 1910 Georg Trakls Gedichte zuerst vorgestellt wurden, ist einiges zu erfahren. Reich an Neugründungen war die Phase unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Porträtiert wird die vergessene Kasseler Zeitschrift Das Karussell, die zwischen 1946 und 1948 erschien. Zwei substantielle Beiträge widmen sich dem erfolgreichen Blatt Der Monat, das 1948 von Melvin Lasky begründet wurde, ein „Fenster zu Welt“, das freilich einen scharfen antikommunistischen Kurs fuhr und mit dem Makel behaftet war, von der CIA finanziert zu sein. An die ab 1956 von V.O. Stomps, später von Horst Bingel geleitete linke Streit-Zeit-Schrift, die in einem extremen Schmalformat erschien, wird ebenso kenntnisreich erinnert wie an Alfred Anderschs Texte und Zeichen, die zwischen 1955 und 1957 im Luchterhand Verlag herauskamen.
Natürlich werden in diesem horen-Heft auch die aufregendsten Literaturblätter der letzten Jahrzehnte wie die Akzente, die manuskipte und das Schreibheft in Einzelbeiträgen gewürdigt (nicht aber Rowohlts Literaturmagazin, das frühe Kursbuch oder Lettre International). Anrührend ist Norbert Hummelts Bericht über seine ihn prägende Begegnung mit dem Castrum Peregrini. Im Jahr 1998 sei er in Amsterdam über diese Zeitschrift „gestolpert“, sie habe ihn angeregt, „wie keine sonst.“ Das 1951 von dem Emigranten Wolfgang Frommel begründete Castrum, zugleich eine Art Geheimgesellschaft in Stefan Georges Nachfolge, hat manchen deutschen Schriftsteller, der sich als Stipendiat in Amsterdam einsam fühlte, willkommen geheißen und nach genauer Prüfung sogar zur Mitarbeit eingeladen. Dass die geheimnisvolle Zeitschrift Ende 2007 eingestellt wurde, beklagt nicht nur Norbert Hummelt.
In ihrem Juniheft demonstrieren die Akzente einmal mehr eine ihrer Stärken, nämlich die Vermittlung bedeutender europäischer Literatur in Übersetzungen, einfühlsam kommentiert. So wird der große französische Poet Yves Bonnefoy, der in diesen Tagen 90 Jahre alt wurde, mit neuen Texten vorgestellt, die Elisabeth Edl und Wolfgang Matz für dieses Heft übertragen haben, Gedichte und lyrische Prosastücke, die von Bonnefoy lebenslang verfolgte Motive wie Kindheit und Traum aufgreifen, Das Kindertheater überschrieben. Da tritt etwa ein kleiner Junge auf, „in kurzer Hose, barfuß, mit rotfleckigen Knien“, der etwas in den Händen versteckt: „Das Verborgene, es sind Murmeln. Und eine davon fällt sogar hinunter, er hebt sie auf, mit einiger Mühe, wegen der anderen, die ihm ebenfalls beinah entgleiten. Doch jetzt hat er's geschafft, er richtet sich auf. Kommst du spielen? sagt er.“
Neugierde weckt ein langer, komplizierter Essay des emeritierten Romanisten Karlheinz Stierle mit dem Titel Dante, Borchardt und das Reich, dessen luzide Struktur sich hier nicht angemessen wiedergeben lässt. Der für Jahrzehnte in der Toskana wohnende Rudolf Borchardt, der „den Traum einer Vereinigung von germanischer und romanischer Welt lebte, dem die geschichtliche Verwirklichung versagt blieb“, umkreiste, so Stierle, zeitlebens Dantes große Gestalt. Höhepunkt war die 1929 abgeschlossene Übersetzung, besser: Nachdichtung von Dantes Commedia unter dem Titel Dante Deutsch. Wie Dante sich um 1300 die hochsprachliche Grundlage für sein gewaltiges Werk erst schaffen musste, habe auch Borchardt versucht, eine dem Geist Dantes verwandte Sprache zu erfinden, und zwar aus einer Weiterentwicklung des klassischen Mittelhochdeutsch der Staufferzeit – ein kühnes Programm, von dessen Gelingen Stierle auszugehen scheint. Borchardts angestrengt gereimte Terzinen sind freilich nur mühsam verständlich, so dass sich Stierle genötigt sieht, auf Hermann Gmelins Übersetzung zurückzugreifen.
Gewagt sind Stierles weitere Ausführungen. Während für Borchardt die Stadt Pisa als virtuelle „Reichshauptstadt“ galt und er selbst sich als „mittelalterlicher Pisaner“ fühlte, verdammte der Florentiner Dante Pisa als „Verräterstadt“. Allerdings habe sich Dante nach seiner Vertreibung aus Florenz vom „eifernden Lokalpolitiker“ in einen „Dichter des Reichs“, also der stauffischen Reichspolitik und damit Pisas verwandelt. Zudem habe die plastische Kunstsprache Pisas in Gestalt der Hochreliefs von Nicola und Giovanni Pisano an Kanzeln und Taufbecken Dantes dichterische Formsprache beeinflusst. In sie habe er seine Trauer über das „verratene“ und „zerrissene“ Imperium gefasst: „Italien, Sklavin, Ort des tiefsten Schmerzes, / Schiff ohne Steuermann in großen Stürmen, / Nicht Herrin von Provinzen, Haus der Schande!“
Im Jahr 1963 hat Walter Höllerer nach den Akzenten eine zweite, einflussreiche Zeitschrift, Sprache im technischen Zeitalter, begründet. Gleichzeitig hat er das „Literarische Colloquium Berlin“, getragen vom Senat, ins Leben gerufen, das rasch zu einem Kristallisationspunkt internationaler Kulturbegegnungen wurde, ein Haus für Sprache und Literatur, untergebracht in einer Gründerzeitvilla am Wannsee, geeignet als Gästehaus wie für Autorentreffen.
Die jüngste Ausgabe von Sprache im technischen Zeitalter versucht die 50jährige Geschichte des Literarischen Colloquiums einzukreisen, was nicht ganz gelingt. Roland Berbig schaut zurück auf das Gründungsjahr 1963, in dem John F. Kennedy ermordet wurde. Was literarisch geschah, wird positivistisch aufgelistet: Max Frisch trennt sich von Ingeborg Bachmann (oder umgekehrt), Paul Celan sucht in der Pariser Psychiatrie Zuflucht, Hans Mayer verlässt die DDR, Christa Wolfs Der geteilte Himmel und Günter Grass' Hundejahre erscheinen. Siegfried Unseld startet die Edition Suhrkamp undsoweiter.
Wie es bei der ersten Schreibwerkstatt des Literarischen Colloquiums zuging, skizziert etwas kurz angebunden Hans Christoph Buch. Höllerer hatte den damals 19jährigen bei einer Tagung der Gruppe 47 angesprochen und für November 1963 in die Gründerzeitvilla eingeladen. Teilnehmer der Prosawerkstatt waren u.a. Ror Wolf, Peter Bichsel, Nicolas Born und Hubert Fichte; als Lehrer fungierten Hans Werner Richter, Peter Weiss, Peter Rühmkorf und Günter Grass. Es ging primär um handwerkliche Probleme, konkret darum, wie man besser nicht schreibt.
Michael Braun zieht einige Strömungslinien von Walter Höllerers berühmten Thesen zum langen Gedicht aus dem Jahr 1965 (und auch von Helmut Heißenbüttels experimenteller Poetik) zu den avancierten Junglyrikern des 21. Jahrhunderts, die das Ich grundsätzlich in Frage stellen. Galten Höllerers Thesen bislang als poetologisches Fundament der Lyrik der Neuen Subjektivität der 70er Jahre („mehr Freizügigkeit“, „weiterer Atem“), stellt Braun sie nun in einen eher gegenläufigen Zusammenhang. „Die härteste Negationsleistung“, schrieb Höllerer, „die täglich in bezug auf uns selbst gefordert wird, ist: von uns selber zunächst abzusehen.“ Wir sparen uns also aus, wir sind keine Ich-Sager, wir folgen der „Polyperspektivität der Wahrnehmung.“ Das behaupten so ähnlich auch die jungen Berliner Textbastler und Neostrukturalisten von heute, diese „globalisierten Subjekte der Generation Internet“, und fühlen sich von Braun, der früher streng der Alltagslyrik anhing, in ihrem „multiplen Ich“ verstanden und legitimiert.
Von einem durchaus „kohärenten Ich“ zeugen die Erzählungen des großen alten Dokumentarfilmers, Journalisten und Schriftstellers Georg Stefan Troller, geboren 1921 in Wien. In der jüngsten Ausgabe von Lettre International berichtet er von einem „erloschenen Planeten“ und meint damit die Wiener Judenwelt seiner Kindheit, ihre Kultur und ihre Sprache. „Unsere Leut, unsere Sprach – was ist davon geblieben?“ 80 Jahre ist es jetzt her, dass Troller, Sohn eines mittelständischen Pelzhändlers, täglich dieses Gemisch aus Deutsch, Wienerisch, Jiddisch und Tschechisch hörte, und er erinnert sich noch genau an den besonderen Tonfall, die eigentümlichen Wörter der armen Juden, der Bettler und der Gassenjungen, die sich „Burscherln“ nannten und den jungen Troller gewöhnlich mit dem Lied „Jud, Jud, spuck in Hut, sag der Mamme, es ist gut“, begrüßten.
die horen:Nr. 250, 2013
(Böttgerweg 4a, 04425 Taucha), 16,50 €.
Akzente: Heft 3, Juni 2013
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
Sprache im technischen Zeitalter: Nr. 206, Mai 2013
(Am Sandwerder 5, 14109 Berlin), 14 €.
Lettre International: Nr. 101, Sommer 2013
(Erkelenzdamm59/61, 10999 Berlin), 13,90 €.
Michael Buselmeier 11.07.2013
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Michael Buselmeier
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