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Januar 2011
Heinrich von Kleist gilt als Autor der Plötzlichkeit, einer unbedingten Radikalität und zeitlosen Jugend. Er brach aus der Bahn des „Normalen“ aus, was ihn zum Fremdling im Leben wie in der Literatur machte – ein rätselhafter Mensch in einer unbegreiflichen Welt. Die Redaktion der Zeitschrift Literaturen, die Kleist anlässlich seines im kommenden November anstehenden 200. Todestages schon jetzt ihr jüngstes Heft widmet, nennt ihn, der ein wahres Genie und ein Geisteskrieger war, kleinmütig einen „Sonderling“, als hätte er mit ausgestopften Vögeln gehandelt oder Pfeifenköpfe gesammelt.
In seinen Werken vermochte Kleist auf artistische Weise den Eindruck der Unmittelbarkeit zu erwecken, als entstünde der Text Satz um Satz gleichsam von selbst. Durch kühne Wortumstellung und eine Verkeilung der Satzglieder gelang es ihm, den Ausdruck expressiv zu steigern. In ihrem Beitrag zu Literaturen stellt Ulrike Draesner der extremen Bildlichkeit Kleists eine eigene, poetisch stringente Sprache entgegen, eine assoziative Annäherung, die sich nur am Rand aufs Referieren des schon Bekannten einlässt. Das ist nicht ohne Risiko, denn was wissen die Leser heute noch über Kleist? Wortspielend bezeichnet Draesner den preußischen Dichter als „Fürsichpflanze“, auch als „Pionierpflanze“ (das sind Gewächse, die neue und extreme Umweltbedingungen ertragen) und endlich als „träumenden Schreibblitz“, der aufleuchtete und verlöschte mit einem Pistolenschuss in den oberen Gaumen. Zu Kleist gehören, so Draesner, „ein unruhiges Leben, drängende, scharf gedachte Prosa, Dramen, vaterländisch, komisch, subversiv.“ Ein „Meister überraschender Stürze und Sprünge“ sei er gewesen; „Lust am Lieben und Lust am Quälen“ erfülle seine Figuren; Geheimnisse, Fälschungen und Lügen streunten durch seine Texte, sogar moderne „Foltermethoden“, wobei sie die Scheinhinrichtung am Ende des Prinz von Homburg im Blick hat.
Über den geschickten Journalisten Kleist, der mit Verkürzung und Zuspitzung von Nachrichten operierte, berichtet sein Biograph Jens Bisky. Um „patriotische Gesinnungsertüchtigung“ sei es ihm mit seinen Berliner Abendblättern gegangen, die täglich von Anfang Oktober 1810 bis Ende März 1811 erschienen, unter miserablen Bedingungen, jedoch anfangs pionierhaft mit Auszügen aus den Berichten der Berliner Polizei und den neuesten Theaterkritiken versehen, bis die Zensur einschritt.
Dem verhinderten Kriegshelden widmet sich Daniela Strigl. 1799 nahm Kleist seinen Abschied als Offizier und kommandierte fortan als „Dichter mit der Keule“ seine Figuren. Er entfesselte die Amazonenkönigin Penthesilea zum „totalen Krieg“ der Bisse und Küsse; er feierte den Partisanenkrieg Hermanns des Cheruskers gegen die römischen Besatzer und die „Pflicht zum Hass“. Auch der Rosshändler Kohlhaas geht, in seinem Recht verletzt, über Leichen.
Der 100. Todestag des großen Erzählers Wilhelm Raabe wurde im vergangenen November mit wenig Aufwand begangen. Nun immerhin widmet ihm der Schriftsteller Wolfgang Hegewald in der jüngsten Ausgabe der horen eine luzide Lobrede. Darin offenbart sich Hegewald als „spät bekehrter Raabe-Enthusiast“ und nennt diesen einen „narrativen Feinmechaniker vom Rang Vladimir Nabokovs“, einen poetischen Realisten, der in seiner Modernität schon gewusst habe, dass „Prosa schreiben heiße, Details zu liebkosen.“
Der 1831 in Eschershausen im Herzogtum Braunschweig geborene Raabe schrieb in knapp 50 Jahren 86 Prosabücher, darunter über 30 Romane, beginnend mit der Chronik der Sperlingsgasse, ein Erfolgsbuch wie auch der heiter-ironische Bildungsroman Der Hungerpastor (1864). Was den Erzähler Raabe sein Leben lang beschäftigt hat, sind – so Hegewald – Stoffe und Motive wie „der Außenseiter, sein krudes Freiheitsbegehren und wie ihm das Scheitern gelingt oder der Eigensinn glückt; die in einer Biographie verspiegelte Zeit, der Widerschein der Kindheit in der Gegenwart.“ Hegewald erläutert das am Beispiel des späten Romans Stopfkuchen, der Geschichte eines störrischen Einzelgängers, Vielfraßes und Hobbydetektivs. Raabe hielt dieses Werk für sein bestes, denn hier habe er „die menschliche Kanaille am festesten gepackt.“
Auch Curzio Malaparte, Sohn einer Italienerin und eines Deutschen, hat im Lauf seines relativ kurzen Lebens viele Bücher geschrieben – Essays, Polemiken, Berichte, Erinnerungen –, gegenwärtig geblieben ist er jedoch, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, vor allem durch zwei einzigartige Werke, Kaputt und Die Haut, die auf drastische Weise von Gewalt und Grausamkeit des Krieges erzählen. War Malaparte ein engagierter Schriftsteller im Sinn von Sartre oder eher ein Enfant terrible und ein brillanter Salonlöwe? Sind seine Bücher Reportagen eines prominenten Kriegskorrespondenten oder Romane eines Ästheten?
In der jüngsten Ausgabe von Lettre International äußert sich Milan Kundera, berühmter tschechischer Romancier, der seit 1975 in Frankreich lebt, bewundernd zu Malaparte und seinen Widersprüchen (die ein wenig auch die Kunderas sein mögen). Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem der blutjunge Malaparte freiwillig auf Seiten Frankreichs teilnahm, trat er der faschistischen Partei bei. Er wurde Journalist, verstand zu glänzen und zu verführen; wurde zeitweise auf die Insel Lipari verbannt. Ab 1940 reiste er als Reporter des Corriere della Sera quer durch das von den Nazis besetzte Europa. In Kaputt berichtet er von kühlen Salon-Gesprächen mit Hans Frank, dem Generalgouverneur für Polen, und mit Heinrich Himmler, den er nackt in einer finnischen Sauna traf. Aus Finnland stammt auch das grausige Bild eines zugefrorenen Sees, aus dem zahlreiche Pferdeköpfe herausragten.
Kaputt wurde 1944 im gerade befreiten Italien veröffentlicht; Die Haut, die im Oktober 1943 mit dem Eintreffen der amerikanischen Armee in Neapel einsetzt, erschien 1949. In ihrer heterogenen und doch durchkomponierten Form ähneln sich beide Bücher, auch was die zum Teil wohl erfundenen Schreckensszenen angeht, etwa die an einer Baumreihe gekreuzigten ukrainischen Juden, die den vorbeireitenden Erzähler um den Gnadenschuss bitten. Einmal wird ein menschlicher Körper von einem Panzer überrollt, plattgewalzt und dann „wie eine Fahne geschwenkt.“
Weitere lesenswerte Beiträge in Lettre sind etwa das letzte Gespräch mit Francois Truffaut über Film und Autobiographie aus dem Jahr 1984, Sergio Benvenutos Gedanken über Rembrandts spätes Selbstporträt als grinsender Alter oder Garri Kasparows Ausführungen über Schach und Schach-Computer. Hinweisen will ich noch auf einen Text des Heinrich Böll-Biographen Christian Linder, das Tagebuch eines Ausflugs in die karge Schnee-Eifel, in das Dorf Mützenich, „eine der einsamsten Gegenden Deutschlands“. Nicht dass Linder der Legende vom idyllischen Landleben aufsitzt, doch zweifellos ist das Dasein dort ruhiger und langsamer als anderswo, und es fällt einem auch leichter, gebührend auf die Einzelheiten zu achten.
Linder stapft also durch den Wald, er riecht frisches Holz, rezitiert Landschaftsgedichte von Jürgen Becker. Er besucht das nahe Dorf Buchet, in dem Ernest Hemingway, der im September 1944 eine US-Infanterie-Division als Kriegsberichter begleitete, Station bezog und später große Töne spuckte: Einmal habe er dort „einen besonders frechen SS-Kraut umgelegt“, ein andermal will er einen sehr jungen Soldaten vom Fahrrad geschossen haben. Linder tut gut daran, ihm das nicht zu glauben. Auch der kleine Ort Winterspelt wird aufgesucht, den Alfred Andersch mit seinem gleichnamigen Roman 1974 berühmt gemacht hat. Das Buch spielt im Oktober 1944 in den „zerschossenen Wäldern“ der Schnee-Eifel, kurz vor dem Beginn der Ardennen-Offensive.
Seit 50 Jahren existieren die Grazer manuskripte, und aus diesem Anlass sind zwei umfangreiche Jubiläumsbände erschienen, insgesamt 675 Seiten. Darin kommen 145 Autoren zu Wort, mit Gedichten, Erzählungen, Romanauszügen, Essays, Notaten, Vorträgen, Rezensionen – Texte von oft hoher Qualität, ein Nebeneinander des Verschiedenen und eine verlässliche Anthologie besonders der österreichischen Gegenwartsliteratur. Die Stimmen reden durcheinander, miteinander, manchmal auch übereinander und bilden zusammen ein Ganzes, auch wenn sich ein gemeinsamer Stilwille nicht ausmachen lässt.
Fast alle bedeutenden österreichischen Schriftsteller der letzten Jahrzehnte (Peter Handke, Friederike Mayröcker, Oswald Wiener, auch schon Gestorbene wie Gert Jonke, Werner Schwab oder Wolfgang Bauer) haben früh in den manuskripten veröffentlicht, und sie sind auch in den beiden Jubiläumsbänden gegenwärtig, teils durch eigene Texte, teils durch Würdigungen ihres Werks. Nur wenige Beiträge widmen sich der Zeitschrift selbst und ihrer wechselvollen Geschichte, doch unterschwellig ist viel von der „ manuskripte-Höhle“ im Forum Stadtpark in Graz die Rede und mehr noch von dem nun 80jährigen Alfred Kolleritsch, dem Vater und weisen Herausgeber der Zeitschrift seit 50 Jahren, ein philosophisch gelassener Geist, der sich als Autor stets im Hintergrund hielt. Ob Literaturzeitschriften etwas bewirken, und wie es mit den manuskripten weitergeht, fragt Kolleritsch in seiner einleitenden „Marginalie“ und gibt darauf eine ausweichende Antwort: „Es wird sein, wie es war …“
Vielleicht ist es ja auch klug, die schrillen Kontroversen der 60er und 70er Jahre um die reaktionäre Kulturpolitik Österreichs und Kärntens nicht ein weiteres Mal aufzubereiten, zumal sich Kolleritsch und die experimentierfreudigen Seinen durchgesetzt haben und heute europaweit anerkannt sind, sondern statt dessen einfach gute Texte vorzustellen, etwa Hans Christoph Buchs Sätze über meinen Vater, Peter Hamms Essay über Fernando Pessoa und Wolfgang Matz' Laudatio auf Pierre Michon.
Literaturen: Nr. 19, 2010
(Knesebeckstraße 59-61, 10719 Berlin), 9,80 €
die horen: Nr. 240, Winter 2010
(Postfach 10 11 10, 27511 Bremerhaven), 16,50 €
Lettre International: Nr. 91, Winter 2010
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 11,- €
manuskripte: Nr. 189/190, Dezember 2010
(Sackstraße 17, 8010 Graz), 2 Bände, 24,90 €
Michael Buselmeier 19.01.2011 Druckansicht
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Michael Buselmeier
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