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Mai 2014
Verfährt die Literaturgeschichte ungerecht? Die „vergessenen“, „untergegangenen“, „wiederzuentdeckenden“ Dichter sind ein moralisch besetztes Lieblingsthema der Zeitschrift die horen und fast schon eine Tradition. Zwar scheitern die Rettungsversuche in der Regel, doch sie werden periodisch wiederholt, aus Mitleid oder einem vagen Gerechtigkeitsdenken folgend; jeder kennt solche Beispiele auch von anderen Publikationsorganen. Weshalb sind so bedeutende Lyrikerinnen wie Elisabeth Langgässer und Gertrud Kolmar weithin vergessen und bleiben es trotz aller Bemühungen auch, während die Jahre den Gedichten Gottfried Benns und Bertolt Brechts nichts anhaben konnten?
Die Ursachen für das Verschwinden eines Dichters aus dem Bewusstsein der Leser und in der Folge aus der Literaturgeschichte sind vielseitig und nur schwer herauszufinden. Hat sich ein Autor zu heftig oder aber gar nicht auf den Zeitgeschmack eingelassen? Sind seine Texte zu hermetisch oder zu trivial? Gibt es nicht auch zu Recht Vergessene, für die man sich besser nicht engagiert? Und natürlich kennt man unterschiedliche Grade der Vergessenheit. Manche Dichter waren einst sehr berühmt, andere kannte schon zu Lebzeiten kaum einer. Sind DDR- Autoren als Sonderfälle anzusehen und mit ihrem Staat untergegangen? Wann ist überhaupt ein Schriftsteller vergessen? Wenn seine Bücher gänzlich verschollen sind, oder wenn er noch tausend, noch hundert, noch einen Leser im Land hat?
Den vorliegenden 253. Band der horen kann ich rundum empfehlen. Er versammelt 24 Beiträge von lebenden Schriftstellern, die sich vermeintlich oder wirklich vergessenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts widmen. Eingangs bemüht sich Kathrin Schmidt um Immanuel Weißglas, der 1920 im bukowinischen Czernowitz geboren wurde und 1979 in Bukarest starb. „Der Nobiskrug“ heißt sein bekanntester Gedichtband. Weißglas war Jude und Klassenkamerad von Paul Celan. Sein Gedicht „ER“ aus dem Jahr 1944 gilt als Vorläufer, ja als Vorlage von Celans berühmter „Todesfuge“. Manche bezichtigten Celan sogar des Plagiats, was gar nicht so abwegig ist. So heißt es bei Weißglas: „Wir heben Gräber in die Luft und siedeln / Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort. / Wir schaufeln fleißig und die andern fiedeln …“ Und die letzte Strophe lautet: „Er spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet, / In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar. Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet: / Da weit der Tod ein deutscher Meister war.“
An den jüdischen Arzt und Romancier Ernst Weiß erinnert Herbert Wiesner. Weiß war ein aus Prag stammender, zeitweise mit Kafka befreundeter, heute wenig gelesener Autor großer Romane der Moderne wie „Die Galeere“, „Georg Letham, Arzt und Mörder“ und „Der Augenzeuge“. Freilich erschien 1982 bei Suhrkamp eine 16-bändige Taschenbuchausgabe seiner Gesammelten Werke; ein wirklich Vergessener ist Weiß also kaum.
Außer einem Roman, Erzählungen, Reisebeschreibungen, Essays und Buchbesprechungen hat Oskar Loerke zu Lebzeiten sieben umfangreiche Gedichtbücher veröffentlicht. Der letzte Band heißt, für ihn bezeichnend, „Der Wald der Welt“ (1936) und ist erfüllt von einem überzeitlichen, fast religiösen Empfinden: „Jeder Baum ist Gott im Schlummer: / Alles Glück hängt jedem an. / Überall der ganze Kummer, / Der auf Erden werden kann.“ Über den großen, kaum noch gelesenen Naturmagier schreibt in den horen einfühlsam der Lyriker Lutz Seiler. Er bewundert an Loerkes Stil Rhythmus und Klang, „ein Fließen, Fallen, Steigen, schwer zu verorten; das Bild einer unaufhörlichen, pulsierenden Bewegung.“
Von ganz anderer Art war die 1885 in Halle geborene Ina Seidel, der Tilman Krause einen noblen Aufsatz widmet: „In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen und auch noch darüber hinaus zählte Ina Seidel unbestritten zu den beliebtesten und auflagenstärksten Autoren hierzulande.“ Sie sei eine sehr gute Erzählerin gewesen, etwa mit ihrem berühmtesten Werk, dem Entwicklungsroman „Das Wunschkind“ (1930). Vor allem Frauen fühlten sich von ihr angesprochen; sie galt das „Dichterin der Mutterschaft“ und einer spezifisch deutschen Innerlichkeit, die heutige Frauen von einer Lektüre eher abschrecken dürfte.
Noch 1954 pries der Literaturpapst Friedrich Sieburg Ina Seidels Roman „Das unverwesliche Erbe“ in den höchsten Tönen. Heute hat sie keine Leser mehr. Ihr jäher Absturz dürfte auch mit ihrem Eintreten für Hitler und den Nationalsozialismus zusammenhängen, das sie spätestens mit den 60er Jahren ins Zwielicht rückte. Allerdings gehörte Seidel, so Krause, auch zu den Wenigen, die ihren Irrtum nach 1945 offen eingestanden haben. Das protestantisch geprägte deutsche Bildungsbürgertum, das sich einst von ihr vertreten fühlte, existiert nicht mehr.
Hervorgehoben sei noch der Aufsatz des Leipziger Lyrikers Thomas Kunst über den sagenumwobenen Paul Zech, der gewiss ein Hochstapler, (Bücher-)Dieb, Plagiator und anderes mehr war, aber auch – was oft vergessen wird – einer der wortgewaltigsten Poeten seiner Zeit, sowohl mit seinem expressionistischen Frühwerk als auch mit seinen späteren Texten, die im argentinischen Exil entstanden, wo er 1946 starb. Seine freien Übertragungen, besser: Nachdichtungen der „Lasterhaften Balladen und Lieder des Francois Villon“ haben ihn, mit Klaus Kinskis Hilfe, wenigstens postum zum Erfolgsautor gemacht. Dabei stammen so berühmte Verse wie „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ gar nicht von Villon, sondern von Zech, der sie eingeschmuggelt hat. Es ist Thomas Kunst zu danken, dass er so viele Gedichte Zechs zitiert, um deren poetische Kraft zu demonstrieren. Ein spätes beginnt so: „Der Nebel fällt. Die Welt wird wieder klein. / Die Wälder rücken auch zusammen. / Bald wird um uns nur Dunkel sein / Der Raum, woher wir alle stammen.“
Der jüngste, 254. Band der horen steht unter dem etwas aufwendigen Titel „Mit dieser Welt muss aufgeräumt werden. August 1914: Autoren blicken auf die Städte Europas“. Er wurde zusammengestellt vom „Netzwerk der Literaturhäuser“, finanziert von der „Kulturstiftung des Bundes“ und umfasst 400 Seiten – keine lebendige, abwechslungsreiche Zeitschrift, sondern ein fetter Sammelband. 26 Autoren haben in ihrer Stadt die Zeitungen von Juli und August 1914 durchsucht und sich von dem vorgefundenen Material, auch von Büchern, zu umfangreichen Erzählungen, Essays und Betrachtungen anregen lassen.
In Köln, Hamburg, München, Berlin, Leipzig, Rostock, auch in Brüssel, Dijon, Helsinki, Moskau: überall die gleiche Kriegsbegeisterung … und was sonst noch so alles in den Zeitungen steht, Hochzeiten, Tanzvergnügen, Mode und Morde: In dieser Häufung ein wenig langatmig, auch inflationär, als hätte man in den vergangenen Monaten nicht schon genug zu lesen und zu sehen bekommen über das Jahr 1914 und den fatalen Kriegsbeginn. Dieser dicke Band hat etwas Einlullendes und Bestätigendes; träge plätschern die Sätze dahin.
Dabei sind die Texte fast alle von guter Qualität. Der virtuoseste stammt von Marcel Beyer, der eine höchst sensible und elegante Prosa schreibt und seine Aufmerksamkeit besonders auf Fotos richtet. Ihn beflügelt die Vorstellung, auf einem alten Paris-Bild mit einem Mal Apollinaire, Valery oder gar Marcel Proust unter den Passanten zu entdecken, ähnlich wie man den jungen Adolf Hitler am 2. August 1914 in München auf einem Foto inmitten einer Menschenmenge vor der Feldherrnhalle erkannt zu haben meint.
Im hinteren Teil des Bandes tauchen auch Klatsch- und Liebesgeschichten auf, etwa aus Venedig. Julya Rabinowich aus Wien widmet sich einer einzigen Person, Alma Mahler-Werfel, die gerade eine heftige Affäre mit Oskar Kokoschka hinter sich und eine neue Ehe mit Walter Gropius vor sich hat. Sie interessierte sich, liest man, nur für Genies, die sie „an ihren künstlerischen Höhepunkt“ treiben konnte. „Ich bilde mir manchmal ein“, schrieb Alma Mahler später, sich selbst stark überschätzend, „ich habe diesen ganzen Weltbrand entfacht, um irgendeine Entwicklung oder Bereicherung zu erfahren – und wäre es auch der Tod.“
Auch die in Salzburg erscheinende Zeitschrift Literatur und Kritik beschäftigt sich in ihrer Märzausgabe mit dem Krieg, der 1914 begann, doch es geht hier nicht um den mörderischen Stellungskampf im Westen, etwa vor Verdun, sondern um den als „vergessen“ deklarierten Krieg, der im Osten Europas geführt wurde, wobei die Soldaten des österreichischen Kaisers auf jene des russischen Zaren trafen. Die Schauplätze liegen in Galizien, den Waldkarpaten oder Wolhynien, in einem weithin unbekannten Winkel, wo Polen, Weißrussland und die Ukraine aufeinander stoßen.
Martin Pollack, der das Dossier zusammengestellt hat, merkt an, dass der Erste Weltkrieg in diesen Ländern, die uns aktuell so beschäftigen, kaum Interesse weckt, obwohl er gerade von Weißrussland und der Ukraine einen hohen Blutzoll forderte. Vermutlich werde die Erinnerung an ihn vom Zweiten Weltkrieg überlagert und verdrängt, ebenso von den polnisch-ukrainischen und den polnisch-sowjetischen Kämpfen der Jahre nach 1918. Fast übergangslos wurden Dörfer geplündert und niedergebrannt, und oft waren es die Juden, die zwischen die Fronten gerieten und als „Verräter“ abgeschlachtet wurden.
Über ein „verpasstes Rendezvous“ im Jahr 1914 berichtet auf höchst luzide Art Andreas Isenschmid im Aprilheft der Akzente. Als nämlich Georg Lukács um 1914 in Heidelberg seine berühmte „Theorie des Romans“ mit Notizen über Dostojewski begann, tat der ihm unbekannte Marcel Proust in Paris genau das gleiche: Er las Dostojewski und gab ihm eine zentrale Rolle in seiner „Recherche“, die den modernen Roman revolutionieren sollte. Ihre temporäre Geistesverwandtschaft fand freilich 1917, als Lukács Kommunist wurde, ihr Ende.
die horen: Ausgabe 253, 2014
(Wallstein Verlag, Geiststraße 11, 37073 Göttingen), 14,- €.
die horen: Ausgabe 254, 2014
(Wallstein Verlag, Geiststraße 11, 37073 Göttingen), 16,50 €.
Literatur und Kritik: Nr. 481/482, März 2014
(Ernest Thun-Straße 11, 5020 Salzburg), 10,- €.
Akzente: Heft 2 / April 2014
(Postfach 86 04 20, 81631 München), 7,90 €.
Michael Buselmeier 14.05.2014
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Michael Buselmeier
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