Mai 2010
Die in Bonn in der Regel halbjährlich erscheinende, überwiegend von Studenten gemachte Zeitschrift für Germanistik und Literatur mit dem kargen Titel Kritische Ausgabe konnte gelegentlich mit interessanten Themenheften aufwarten; zuletzt ging es um die leicht ausufernde Europafrage. Im Zentrum der jüngsten Kritischen Ausgabe steht die Familie, ein stets aktueller, beinahe jeden betreffender Gegenstand, der rhetorische Pflichtübungen ausschließt und in der Literatur schon immer eine besondere Rolle gespielt hat. Von den 68ern einseitig als „Zwangszusammenhang“ denunziert, bewährt sich die Familie besonders in krisenhaften Zeiten als Schutz bietender Rückzugsort.
In etwa der Hälfte der rund 200 Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm geht es, wie Mareike Bohnen akribisch auflistet, um Familienstrukturen. Im Mittelpunkt von etwa 50 Märchen stehen familiäre Konflikte. In Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Schneewittchen, Frau Holle (um nur einige der bekanntesten zu nennen) herrschen Neid und Missgunst, Diebstahl und Betrug, Misshandlungen und Mordversuche. Meist sind es die Eltern, genauer ein Elternteil, die böse Mutter oder Stiefmutter, die ein oder mehrere Kinder erniedrigen und quälen, ja ihnen nach dem Leben trachten. In dem Märchen Die sechs Schwäne versteckt ein Vater deshalb seine Kinder vorsorglich vor seiner neuen Frau.
Die Familie besteht in Grimms Märchen meist nur aus zwei Generationen. Das weitgehende Ausblenden der Großeltern spiegelt, so Mareike Bohnen, den historischen Umstand, „dass die Dreigenerationenfamilie eine relativ junge Erscheinung ist.“ Gerade bei armen Bauern und Handwerkern gab es eine hohe Müttersterblichkeit. Um die Versorgung der Kinder zu garantieren, mussten die Väter erneut heiraten, was nicht selten zu harten Konflikten mit der Stiefmutter und deren Kindern führte. Im Märchen freilich wird das unsoziale Verhalten am Ende bestraft und die Ordnung der Familie wiederhergestellt.
Texte des beginnenden 20. Jahrhunderts, etwa Hermann Hesses Erzählung Kinderseele (1919), zeigen eine zunehmende Krisenanfälligkeit der Familie. Die Allmacht des Vaters zwingt den Sohn förmlich zur Auflehnung gegen die patriarchale Autorität. In Peter Weiss' Abschied von den Eltern (1961) berichtet der Ich-Erzähler schonungslos von einer Kindheit und Jugend, die – so Steffen Groscurth – „geprägt war von Kühle und Entzweiung, von Distanz und Schweigen – die Geschichte einer Ich-Findung als Geschichte einer entfremdeten Familie.“
Peter Weiss' autobiographische Schriften Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt hat der heute weltweit bekannte Erzähler W.G. Sebald, der im Dezember 2001 starb, besonders geschätzt. So berichtet es jedenfalls Florian Radvan, der ab 1994 bei Sebald im englischen Norwich Komparatistik studierte (ebenfalls in der Kritischen Ausgabe). Wie Weiss war auch Sebald ein Ausgewanderter; beide debütierten als Schriftsteller erst spät, in ihrem fünften Lebensjahrzehnt. Für den Grenzgänger Sebald habe die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit mit der Lektüre von Peter Weiss' Auschwitz-Stück Die Ermittlung begonnen.
Über Ezra Pound und die Wiederbelebung des Sozialfaschismus in Italien referiert souverän, mit einem Schuss Ironie Carlos Widmann (im Januarheft des Merkur). Der Lebenslauf von Amerikas bedeutendstem Lyriker seit Walt Whitman ist eng mit der italienischen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts verflochten, und so überrascht es auch nicht, dass es derzeit in Rom und einem Dutzend weiterer Städte eine „Casa Pound“ gibt – eine Bildungseinrichtung nicht etwa der amerikanischen Regierung, sondern der Neofaschisten, eine Mischung aus Jugendzentrum, Kulturinstitut und Kaderschmiede. In Rom handelt es sich sogar um eine Hausbesetzung, eine „rechte“, sechs Stockwerke hoch. An die 30 obdachlose Familien sind in der Casa Pound kostenlos einquartiert. Das macht bei der Bevölkerung Eindruck.
Der Namenspatron Pound war 1945 für seine politischen Ansichten vier Wochen in einen grell beleuchteten Maschendrahtkäfig, eine Art Guantánamo, gesperrt worden, anschließend zwölf Jahre in ein amerikanisches Irrenhaus. Nicht sein Lebenswerk, die bildungsschweren Cantos, sondern sein Lebensirrtum hat zu seiner Verwendung als Ikone geführt. Nicht der Poet wurde geehrt, sondern – so Carlos Widmann – „der exzentrische Amerikaner, der vor 80 Jahren auf Mussolini hereinfiel und dem Duce die Treue hielt über den Tod hinaus.“
Wobei noch zu bedenken wäre, dass die Urfaschisten zunächst abtrünnige Sozialisten und Anarcho-Syndikalisten waren und Mussolini den bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner bewundert haben soll. Auch Pound hatte einen Draht zur Münchner Räterepublik. Seine geldpolitischen Ideen vom Zinswucher, dieser „Sünde wider die Natur“, waren von Silvio Gesell inspiriert, einem sozialromantischen Wirtschaftstheoretiker, der im Rätekabinett kurzzeitig als Volkskommissar der Finanzen saß.
Schon immer war Raoul Schrott – habilitierter Philologe, Romancier, Lyriker, Essayist, Übersetzer der Ilias, Anthologist der Weltpoesie und einiges mehr – am „Heiligen“ interessiert. In seinem Gedichtband Weißbuch (2004) tragen allein 20 Gedichte den etwas lehrhaften Titel Über das Heilige, das Schrott nicht eng religiös eingebunden sieht; es wird eher in der Erscheinung des Ungewöhnlichen und Fremden erfahrbar, in der Stille einer Tempelruine, in den Wundern der Natur, in den mehrdeutigen Beispielen der Poesie und nicht zuletzt in der geliebten Frau.
Nun jedoch, in der jüngsten Ausgabe von Lettre International, geht es Schrott, in einem kenntnisreichen, dialektisch schillernden, zugleich sehr konzisen Essay, um etwas zumindest auf den ersten Blick anderes, nämlich um die „Politik“ des Heiligen, beginnend mit der Papstwahl, bei der sich ein rein weltlicher Vorgang, eine geheime Mehrheitsentscheidung, in etwas Sakrales transformiere. Ein Mensch bekomme einen neuen Namen und werde zum Heiligen, zum Stellvertreter Christi auf Erden gekürt. Das Heilige erhalte qua Amt eine politische Wirkungsmacht, die auf die Realität zurückstrahle.
Parallelen weiß Schrott in unserer Gesellschaft reichlich auszumachen, etwa bei der Vergabe des Nobelpreises, wobei der oder die Auserwählte eine plötzliche Verwandlung erfahre, die das Leben verändere. Wie der Papst seinen Namen, büßen die Stars des Schaugeschäfts oft den Vornamen ein, um „die göttliche Garbo“ oder „die Callas“ zu werden, angebetet und leicht verletzbar. In den Bann einer höheren Macht gestellt zu werden, bedeute eben nicht nur, von ihr zu profitieren, sondern ihr auch ausgeliefert zu sein, in manchen Fällen sogar zu ihrem „Sündenbock“, ihrem „Strohmann zu werden.
Über das Konfessionelle hinaus leite das Heilige, so Schrott, auch „politische Visionen“ ein; es werde ideologisiert. Als Ideal aufgefasst, lasse sich dies noch „Utopie“ nennen, in die Wirklichkeit übertragen, gerate es zum Totalitarismus: „Die im Heiligen angelegten Paradoxien, einmal in die Realität umgesetzt, haben eben jene unumschränkte Gewalt zur Folge, die das Göttliche seit jeher gekennzeichnet hat. Seine Strukturen gelten für jedweden Fundamentalismus, ob islamisch oder evangelikal, faschistisch, kommunistisch oder kapitalistisch. Sie zeigen, dass das Prinzip des Heiligen im Grunde konfessionsfrei ist.“
Ihm gegenüber sei es der Kunst in den letzten Jahrhunderten gelungen, sich von der Religion abzulösen; speziell die Poesie habe es gelernt, mit den „Paradoxien des Heiligen“ zu spielen. Mit ihren Wortgefügen, ihren Metaphern habe sie dazu beigetragen, das „heilige Denken“ zu überwinden. Dagegen erscheinen die Götter in ihrer rigiden Eindeutigkeit zugleich schrecklich und banal.
Haben wir Älteren nicht fast alle noch eine Geschichte von oder über Charles Bukowski parat, den Outsider, der in den 50er und 60er Jahren in einer lausigen Bude in Los Angeles ein paar wirklich starke Gedichte und provokante Storys geschrieben hat, die ihn auch in seinem Geburtsland populär gemacht haben – ein Lieblingsautor der militanten Sponti-Szene, geboren 1920 in Andernach als Sohn einer deutschen Mutter und eines Amerikaners.
Ich weiß noch, dass mir am 9. März 1994, dem Todestag des Dichters, ein Penner auf der Straße in Heidelberg zurief: „He, haste nich ne Mark für mich, wo Bukowski gestorben ist?“ 16 Jahre vorher, bei unserer einzigen Begegnung, war „Hank“, wie ihn seine Freunde nannten, über den so viele Säufergeschichten im Umlauf waren, magenleidend; er sprach sanft und trank nur Tee mit Honig (obwohl er das später im Buch über seine Deutschlandreise ganz anders dargestellt hat).
In der neuesten Ausgabe von Volltext berichtet Carl Weissner, enger Freund und deutscher Übersetzer Bukowskis, über dessen Beerdigung – eine unerwartete Begegnung mit der Vergangenheit. Denn Weissner, der inzwischen auch 70 Jahre alt geworden ist, spricht noch immer im subkulturellen Idiom der 70er Jahre, das ebenso locker wie verkrampft klingt, und tischt uns noch einmal die Legende vom unermüdlich saufenden Genie auf.
Die Beerdigung fand übrigens im Green Hills Memorial Park in L.A. statt, drei buddhistische Mönche hatte man für die Trauerzeremonie engagiert, der Mime Sean Penn und der Verleger John Martin, der viel für Bukowski und sein Werk getan hat, fungierten als Sargträger … Man sollte seine Bücher wieder lesen.
Werden im Jahr 2050 Apple, Amazon und Google die Verlage abgeschafft haben, fragt der Medienphilosoph Frank Hartmann (ebenfalls in Volltext). Dann werden vielleicht die Autoren den Hauptteil der Erlöse aus dem Verkauf ihrer Werke kassieren und nicht die Verleger und Buchhändler, die nach Hartmanns Ansicht eh zu wenig für die Bücher tun und lieber Fördermittel abgreifen. Hartmann beschreibt den „Kulturwandel“, der mit der Medienrevolution seit dem 18. Jahrhundert einhergeht: das Aufkommen von Wörterbüchern und Enzyklopädien, die Schnelldruckpresse, Photographie und Phonographie, Kino und Fernsehen, mit denen die „posttypographische Medienkultur“ beginnt. In der sich formierenden „Netzkultur“ werden Tugenden des bürgerlichen Individuums immer weniger prämiert. Jeder kann nun, echt demokratisch, seine Texte im Internet publizieren für ein weltweites Publikum.
Kritische Ausgabe: Nr. 18, 2010
Institut für Germanistik, Universität Bonn, Am Hof 1d, 53113 Bonn, 5,- €
Merkur: Heft 1, Januar 2010
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 12,- €
Lettre International: Nr. 88, 2010
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 11,- €
Volltext: Heft 2, 2010
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien, 2,90 €
Michael Buselmeier 12.05.2010
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Mai 2010
|
Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar
|