POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
Mai 2010
 
Zeitschriftenlese  –  März 2010
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch

Die in Bonn in der Regel halb­jährlich er­scheinende, über­wiegend von Stu­denten gemachte Zeit­schrift für Germa­nistik und Literatur mit dem kargen Titel Kritische Ausgabe konnte gelegent­lich mit interes­santen Themen­heften auf­warten; zuletzt ging es um die leicht aus­ufernde Europa­frage. Im Zentrum der jüngsten Kritischen Ausgabe steht die Familie, ein stets aktueller, beinahe jeden betref­fender Gegenstand, der rhetorische Pflicht­übungen ausschließt und in der Literatur schon immer eine besondere Rolle gespielt hat. Von den 68ern ein­seitig als „Zwangs­zusammen­hang“ denun­ziert, be­währt sich die Familie besonders in krisen­haften Zeiten als Schutz bietender Rück­zugs­ort.
  In etwa der Hälfte der rund 200 Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm geht es, wie Mareike Bohnen akribisch auflistet, um Familien­strukturen. Im Mittelpunkt von etwa 50 Märchen stehen familiäre Konflikte. In Hänsel und Gretel, Aschenputtel, Schnee­wittchen, Frau Holle (um nur einige der bekanntesten zu nennen) herrschen Neid und Missgunst, Diebstahl und Betrug, Miss­handlungen und Mordversuche. Meist sind es die Eltern, genauer ein Elternteil, die böse Mutter oder Stiefmutter, die ein oder mehrere Kinder erniedrigen und quälen, ja ihnen nach dem Leben trachten. In dem Märchen Die sechs Schwäne versteckt ein Vater deshalb seine Kinder vorsorglich vor seiner neuen Frau.
  Die Familie besteht in Grimms Märchen meist nur aus zwei Gene­rationen. Das weitgehende Ausblenden der Großeltern spiegelt, so Mareike Bohnen, den historischen Umstand, „dass die Drei­genera­tionen­familie eine relativ junge Erscheinung ist.“ Gerade bei armen Bauern und Hand­werkern gab es eine hohe Mütter­sterb­lichkeit. Um die Versor­gung der Kinder zu garantieren, mussten die Väter erneut heiraten, was nicht selten zu harten Konflikten mit der Stief­mutter und deren Kindern führte. Im Märchen freilich wird das unsoziale Verhalten am Ende bestraft und die Ordnung der Familie wieder­hergestellt.
  Texte des beginnenden 20. Jahrhunderts, etwa Hermann Hesses Erzählung Kinderseele (1919), zeigen eine zunehmende Krisen­anfäl­ligkeit der Familie. Die Allmacht des Vaters zwingt den Sohn förmlich zur Auf­lehnung gegen die patriarchale Autorität. In Peter Weiss' Abschied von den Eltern (1961) berichtet der Ich-Erzähler schonungs­los von einer Kindheit und Jugend, die – so Steffen Groscurth – „geprägt war von Kühle und Ent­zweiung, von Distanz und Schweigen – die Geschichte einer Ich-Findung als Geschichte einer entfrem­deten Familie.“
  Peter Weiss' auto­biographische Schriften Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt hat der heute weltweit bekannte Erzähler W.G. Sebald, der im Dezember 2001 starb, besonders geschätzt. So berichtet es jedenfalls Florian Radvan, der ab 1994 bei Sebald im englischen Norwich Kompa­ratistik studierte (eben­falls in der Kritischen Ausgabe). Wie Weiss war auch Sebald ein Ausge­wanderter; beide debütierten als Schriftsteller erst spät, in ihrem fünften Lebensjahrzehnt. Für den Grenzgänger Sebald habe die Aus­einandersetzung mit der deutschen Vergangenheit mit der Lektüre von Peter Weiss' Auschwitz-Stück Die Ermittlung begonnen.

Über Ezra Pound und die Wiederbelebung des Sozial­faschismus in Italien referiert souverän, mit einem Schuss Ironie Carlos Widmann (im Januarheft des Merkur). Der Lebenslauf von Amerikas bedeutendstem Lyriker seit Walt Whitman ist eng mit der italienischen Geschichte des vergan­genen Jahr­hunderts verflochten, und so überrascht es auch nicht, dass es derzeit in Rom und einem Dutzend weiterer Städte eine „Casa Pound“ gibt – eine Bildungs­einrichtung nicht etwa der ameri­kanischen Regierung, sondern der Neo­faschisten, eine Mischung aus Jugendzentrum, Kulturinstitut und Kaderschmiede. In Rom handelt es sich sogar um eine Hausbesetzung, eine „rechte“, sechs Stockwerke hoch. An die 30 obdachlose Familien sind in der Casa Pound kostenlos einquartiert. Das macht bei der Bevölkerung Eindruck.
  Der Namenspatron Pound war 1945 für seine politischen Ansichten vier Wochen in einen grell beleuchteten Maschen­drahtkäfig, eine Art Guantánamo, gesperrt worden, anschließend zwölf Jahre in ein ameri­kanisches Irrenhaus. Nicht sein Lebenswerk, die bildungs­schweren Cantos, sondern sein Lebensirrtum hat zu seiner Verwendung als Ikone geführt. Nicht der Poet wurde geehrt, sondern – so Carlos Widmann – „der exzentrische Amerikaner, der vor 80 Jahren auf Mussolini hereinfiel und dem Duce die Treue hielt über den Tod hinaus.“
  Wobei noch zu bedenken wäre, dass die Urfaschisten zunächst abtrünnige Sozialisten und Anarcho-Syndikalisten waren und Mussolini den bayerischen Minister­präsidenten Kurt Eisner bewundert haben soll. Auch Pound hatte einen Draht zur Münchner Räterepublik. Seine geld­politischen Ideen vom Zinswucher, dieser „Sünde wider die Natur“, waren von Silvio Gesell inspiriert, einem sozial­romantischen Wirtschafts­theoretiker, der im Rätekabinett kurz­zeitig als Volks­kommissar der Finanzen saß.

Schon immer war Raoul Schrott – habili­tierter Philologe, Romancier, Lyriker, Essayist, Übersetzer der Ilias, Anthologist der Weltpoesie und einiges mehr – am „Heiligen“ interessiert. In seinem Gedichtband Weißbuch (2004) tragen allein 20 Gedichte den etwas lehrhaften Titel Über das Heilige, das Schrott nicht eng religiös einge­bunden sieht; es wird eher in der Erschei­nung des Unge­wöhn­lichen und Fremden erfahrbar, in der Stille einer Tempel­ruine, in den Wundern der Natur, in den mehr­deutigen Beispielen der Poesie und nicht zuletzt in der geliebten Frau.
  Nun jedoch, in der jüngsten Ausgabe von Lettre International, geht es Schrott, in einem kenntnis­reichen, dialektisch schillernden, zugleich sehr konzisen Essay, um etwas zumindest auf den ersten Blick anderes, nämlich um die „Politik“ des Heiligen, beginnend mit der Papstwahl, bei der sich ein rein weltlicher Vorgang, eine geheime Mehrheits­entscheidung, in etwas Sakrales transformiere. Ein Mensch bekomme einen neuen Namen und werde zum Heiligen, zum Stellvertreter Christi auf Erden gekürt. Das Heilige erhalte qua Amt eine politische Wirkungsmacht, die auf die Realität zurückstrahle.
  Parallelen weiß Schrott in unserer Gesellschaft reichlich auszumachen, etwa bei der Vergabe des Nobelpreises, wobei der oder die Auserwählte eine plötzliche Verwandlung erfahre, die das Leben verändere. Wie der Papst seinen Namen, büßen die Stars des Schaugeschäfts oft den Vornamen ein, um „die göttliche Garbo“ oder „die Callas“ zu werden, angebetet und leicht verletzbar. In den Bann einer höheren Macht gestellt zu werden, bedeute eben nicht nur, von ihr zu profitieren, sondern ihr auch ausgeliefert zu sein, in manchen Fällen sogar zu ihrem „Sündenbock“, ihrem „Strohmann zu werden.
  Über das Konfes­sionelle hinaus leite das Heilige, so Schrott, auch „politische Visionen“ ein; es werde ideologisiert. Als Ideal aufgefasst, lasse sich dies noch „Utopie“ nennen, in die Wirklichkeit übertragen, gerate es zum Totali­tarismus: „Die im Heiligen angelegten Para­doxien, einmal in die Realität umgesetzt, haben eben jene unumschränkte Gewalt zur Folge, die das Göttliche seit jeher gekenn­zeichnet hat. Seine Struk­turen gelten für jedweden Fundamentalismus, ob islamisch oder evangelikal, faschistisch, kommunis­tisch oder kapitalistisch. Sie zeigen, dass das Prinzip des Heiligen im Grunde konfes­sionsfrei ist.“
  Ihm gegenüber sei es der Kunst in den letzten Jahr­hunderten gelungen, sich von der Religion abzulösen; speziell die Poesie habe es gelernt, mit den „Paradoxien des Heiligen“ zu spielen. Mit ihren Wort­gefügen, ihren Meta­phern habe sie dazu beigetragen, das „heilige Denken“ zu überwinden. Dagegen erscheinen die Götter in ihrer rigiden Ein­deutig­keit zugleich schrecklich und banal.

Haben wir Älteren nicht fast alle noch eine Geschichte von oder über Charles Bukowski parat, den Outsider, der in den 50er und 60er Jahren in einer lausigen Bude in Los Angeles ein paar wirklich starke Gedichte und provo­kante Storys geschrieben hat, die ihn auch in seinem Geburts­land populär gemacht haben – ein Lieblings­autor der mili­tanten Sponti-Szene, geboren 1920 in Andernach als Sohn einer deutschen Mutter und eines Amerikaners.
  Ich weiß noch, dass mir am 9. März 1994, dem Todestag des Dichters, ein Penner auf der Straße in Heidel­berg zurief: „He, haste nich ne Mark für mich, wo Bukowski gestorben ist?“ 16 Jahre vorher, bei unserer einzigen Begeg­nung, war „Hank“, wie ihn seine Freunde nannten, über den so viele Säufer­geschichten im Umlauf waren, magenleidend; er sprach sanft und trank nur Tee mit Honig (obwohl er das später im Buch über seine Deutschland­reise ganz anders dargestellt hat). In der neuesten Ausgabe von Volltext berichtet Carl Weissner, enger Freund und deutscher Über­setzer Bukowskis, über dessen Beerdigung – eine unerwartete Begeg­nung mit der Vergangen­heit. Denn Weissner, der inzwischen auch 70 Jahre alt geworden ist, spricht noch immer im sub­kultu­rellen Idiom der 70er Jahre, das ebenso locker wie verkrampft klingt, und tischt uns noch einmal die Legende vom unermüdlich saufenden Genie auf.
  Die Beerdigung fand übrigens im Green Hills Memorial Park in L.A. statt, drei buddhistische Mönche hatte man für die Trauer­zeremonie engagiert, der Mime Sean Penn und der Verleger John Martin, der viel für Bukowski und sein Werk getan hat, fungierten als Sargträger … Man sollte seine Bücher wieder lesen.
  Werden im Jahr 2050 Apple, Ama­zon und Google die Verlage abge­schafft haben, fragt der Medien­philosoph Frank Hartmann (ebenfalls in Volltext). Dann werden vielleicht die Autoren den Hauptteil der Erlöse aus dem Verkauf ihrer Werke kassieren und nicht die Verleger und Buchhändler, die nach Hartmanns Ansicht eh zu wenig für die Bücher tun und lieber Fördermittel abgreifen. Hartmann beschreibt den „Kulturwandel“, der mit der Medien­revolution seit dem 18. Jahrhundert einhergeht: das Aufkommen von Wörterbüchern und Enzyklopädien, die Schnell­druckpresse, Photographie und Phonographie, Kino und Fernsehen, mit denen die „post­typo­gra­phische Medien­kultur“ beginnt. In der sich formierenden „Netzkultur“ werden Tugen­den des bürger­lichen Indivi­duums immer weniger prämiert. Jeder kann nun, echt demo­kratisch, seine Texte im Internet publizieren für ein weltweites Publikum.

Kritische Ausgabe: Nr. 18, 2010   externer Link
Institut für Germanistik, Universität Bonn, Am Hof 1d, 53113 Bonn, 5,- €

Merkur: Heft 1, Januar 2010  externer Link
Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, 12,- €

Lettre International: Nr. 88, 2010   externer Link
Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin, 11,- €

Volltext: Heft 2, 2010   externer Link
Porzellangasse 11/69, A-1090 Wien, 2,90 €

Michael Buselmeier    12.05.2010       

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese Mai 2010

Michael Buselmeier
Lyrik
Prosa
Reden und Texte
Gedichtkommentar