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Mai 2015
Die großformatige Zeitschrift Lettre International, deren deutsche Ausgabe seit 1988 vierteljährlich in Berlin erscheint und von Frank Berberich herausgegeben wird, ist stets voller Überraschungen und in der hier gebotenen Kürze kaum angemessen darstellbar. Jede neue Nummer bietet geistige Abenteuer und Lesestoff für Monate. Im jüngst erschienen Frühjahrsheft geht der italienische Theoretiker Paolo Flores d'Arcais der Frage „Wer ist Charlie?“ nach. Das Massaker an den Redakteuren von Charlie Hebdo markiert für ihn „eine Epochenwende“. Es handle sich um den ersten terroristischen Anschlag auf ein Grundprinzip der Moderne, nämlich die Meinungsfreiheit.
Die Losung „Ich bin Charlie“ kursierte schon wenige Stunden nach dem Blutbad. Aber wie viele, fragt d'Arcais, „haben das Recht, sich mit ihr zu schmücken“, und wie viele sind Opportunisten, Heuchler, und missbrauchen sie nur? Denn Charlie Hebdo, das war und ist „Gotteslästerung, Verspottung des Heiligen in jedem Gewand und in jeder Verkleidung: Religion, Politik, hehre Absichten, ja selbst guter Geschmack.“ Das hat konservative Politiker und staatstragende Journalisten, Despoten und falsche Linke, Päpste und arabische Ligen, aber auch ganz normale Leute nicht davon abgehalten, umgehend Loblieder auf die schrille Satirezeitschrift anzustimmen. Die Mächtigen, die in ihren eigenen Ländern freie Journalisten verachten und oft auch verfolgen, mussten sich, zumindest für einen Tag, in die gewaltige Demonstration in Paris einreihen, obwohl sie vermutlich die Praktiken von Charlie Hebdo verabscheuten.
Unter dem Titel „Bestandsaufnahme“ versucht Régis Debray, einst Begleiter des Revolutionärs Che Guevara und etwas später außenpolitischer Berater des Staatspräsidenten Mitterand, den eigenen Lebensweg nachzuzeichnen, den widersprüchlichen „Weg eines Intellektuellen“, für dessen persönliche Triebfedern diesem „Pragmatiker der Politik“ freilich eine differenzierte Sprache weithin fehlt, so dass er in seinen Ausführungen ziemlich allgemein bleibt. Er berichtet von seinen „vielfältigen Neugierden“, von seinem „instinktiven Verlangen, zur Tat zu schreiten“, von seiner „Allergie gegen Reden ohne Tun“. Wie funktioniert „die Revolution“, fragt er (mit Lenin) früh, und wie funktioniert „der Staat“? Debray stellt sich als jemand dar, der stets bereit ist, sich „die Hände schmutzig zu machen“, und zugleich erscheint er als Außenseiter, der zwischen den Stühlen sitzt: „Es ist unbequem, ein Intellektueller zu sein, der die Intellektuellen nicht mag (weil diese, Lektionen erteilend, selten bereit sind, selber welche zu empfangen); ein Westler, der den Westen nicht mag (weil dessen Devise lautet: ›Das Individuum zuerst‹); oder ein Atheist, der die Atheisten nicht mag (weil sie nicht sehen wollen, wofür Gott der Name ist).“
Ebenfalls in Lettre erzählt der britische Schriftsteller Nicholas Shakespeare eine Episode aus dem Leben von Gabriel García Márquez, nämlich dessen Begegnung mit einer jungen brasiliaanischen Muse, die 1990 auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle stattfand und sich in der Geschichte „Dornröschens Flugzeug“ niedergeschlagen hat. „Das ist die schönste Frau, die ich in meinem Leben gesehen habe“, heißt es im Text.
Nicht lange nach Márquez' Tod im April 2014 nahm die mittlerweile 50jährige Frau und Großmutter, in London lebend, mit Shakespeare Kontakt auf, um ihm von jenem Tag zu berichten, an dem sie dem kolumbianischen Nobelpreisträger begegnet war. Sie hatte auf ihre aus Brasilien kommenden Eltern gewartet, deren Flugzeug sich verspätet hatte. Márquez, der zufällig neben ihr saß, habe sie angesprochen, sie ausgehorcht und ihre Worte „in sich aufgesogen“, aber fast nichts über sich erzählt und nicht offengelegt, wer er war. Als sie viel später die Geschichte las, bekam sie „eine Gänsehaut“. Es war ein Schock für sie, ihr Gespräch mit dem Dichter in der Erzählung wiederzufinden. „Du bist kein bisschen originell“, rief sie aus, „Du bist wie all diese verdammten Schreiberlinge. Du bist ein Vampir!“
Im Aprilheft des Merkur widmet sich ein soziologisch geschultes Autoren-Team der Universität Siegen dem Thema „Boheme vor und nach 68“. Walburga Hülk, Nicole Pöppel und Georg Stanitzek tragen einzelne Aspekte zusammen. Als ein Grund-Kriterium für die Boheme gilt die kritische Abgrenzung vom Bürgertum: „Der Bohemien ist entschieden kein Bourgeois und kein Philister – und selbstverständlich kein Beamter, kein Karrierist, keine Hausfrau, kein Mann nach der Uhr.“ Nur über Oppositionen dieser Art etablierte sich die Boheme als Milieu „existentiellen Besserwissens“. In den Jahren um 1968 spannte sich ein Bogen bohemischer Lebensweisen von „anarchistisch- libertären Kommune-, Drogen- und Aussteiger-Experimenten“ bis hin zu straff organisierten Politgruppen, die den Boheme-Begriff freilich nicht zur Selbstreflexion nutzten und längst von den Institutionen geschluckt wurden.
Zu den alternativen Lebensentwürfen zählte auch der von der Romantik inspirierte Künstlermythos, die Idee vom individuellen Schöpfer, den der Bohemien vor 1968 noch verkörperte. Für das Siegener Autorenkollektiv besteht die Problematik der Boheme nach 68 darin, „dass sie sich schon vom Ansatz her kaum mehr als separate Größe dies- oder jenseits der Gesellschaft setzen oder auch nur imaginieren kann.“ Sie muss sich vielmehr „als Boheme der Gesellschaft“ oder gar „als Teil von deren Unterhaltungsprogramm“ begreifen. Alle eigenen Themen wurden ihr entwendet.
Mit „Philistern und Spießern“ beschäftigt sich im gleichen Merkur-Heft, wohltuend locker, die Germanistin Hannelore Schlaffer: „Es waren schon immer und sind noch heute die Intellektuellen, diese nicht immer Erfolgreichen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft, die sich mit den immer erfolgreichen Fleißigen und Angepassten anlegten.“ Die Letzteren, als „Gegner des Geistes“ verdächtigt, hat das 19. Jahrhundert im Bild der mit dem Spieß bewehrten Sieben Schwaben als „Spießer“ beschrieben. Des Spießers akademischer Vorläufer ist der Philister, wie ihn Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine und mit ihnen die privilegierten deutschen Studenten als „Erzfeind“ verspotteten. So pointiert Brentano 1811: „Ein Philister ist ein steifstelliger, steifleinener oder auch lederner, scheinlebendiger Kerl, der nicht weiß, dass er gestorben ist.“
„Zu einem Haus gehört ein Hausrotschwanz“ behauptet (ebenfalls im Merkur) Günter Hack und berichtet anrührend, wie ihm dieser Vogel, „schnalzend, knicksend, seine Jungen lockend“, durch sein ganzes Leben begleitet hat, anthrazitfarben, „mit blitzenden roten Schwanzfedern.“ „Wo ein Rotschwanz lebt“, heißt es, „ist Schönheit.“ Doch Günter Hack, nicht nur Vogelliebhaber, sondern auch Kenner von Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“, bedauert sodann, dass in diesem Buch der Freiherr von Risach zwar alle möglichen Vogelarten zur Schädlingsbekämpfung in seinem Mustergarten heranzieht, den Rotschwanz jedoch, der seine perfekte Ordnung gefährdet, indem er nützliche Bienen frisst, bejagen und ausrotten lässt, was (wie auch das ständige Verriegeln der Türen in Risachs „Rosenhaus“) jeden gutwilligen Leser irritiert. Denn damit zerbricht Stifter tatsächlich sein Bild einer Harmonie zwischen Menschen und Vögeln und stellt „die innere Logik seines ganzen Romans radikal in Frage.“
Volltext heißt eine hochinformative und kompetente Literaturzeitschrift aus Wien, die viermal im Jahr in Zeitungsform erscheint. Schon im Voraus freue ich mich jedesmal auf die Kolumnen der Schriftsteller Andreas Meier und Norbert Gstrein, die hellen Witz in die oft allzu finsteren Reflexionsräume der Literatur bringen. In der aktuellen Ausgabe lässt sich Andreas Meier über den ihn begleitenden Tod im Allgemeinen und den von Udo Jürgens im Besonderen aus, während Norbert Gstrein an eine höchst peinliche Sendung im Schweizer Fernsehen erinnert, worin „die nicht nur bekannteste, sondern auch beliebteste deutsche Literaturkritikerin“, die zur Strafe ohne Namen bleibt, aber Elke Heidenreich heißt, ein falsches Heidegger-Zitat in die Welt setzte und aggressiv schreiend auf seiner Richtigkeit beharrte.
„Alles, was sie anfasst, hat Schwung und Schmiss … Sie ist die preußischste Wienerin, und sie ist die amerikanischste Emigrantin aus Hitler-Deutschland“ – so charakterisiert Ursula Krechel die Bestseller-Autorin Vicki Baum im jüngsten Volltext. Und sie tut das mit viel Sympathie und auch Bewunderung für diese Frau, die knapp 40 Bücher geschrieben hat und sich selbstironisch als „eine erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte“ bezeichnete. Schrieb sie Trivialliteratur? Und wenn schon, meint Krechel: „Was diese Autorin alles kann! Wie aus dem Handgelenk geschüttelt, entsteht ein Reigen erstaunlichster Personen.“
Geboren wurde Vicki Baum 1888 in Wien, in einer hochneurotischen jüdischen Familie; sie begriff sich selbst jedoch nicht als Jüdin. Sie flüchtet sich in die Musik, wird 1913 Harfenistin am Großherzoglichen Hoftheater zu Darmstadt, heiratet in zweiter Ehe einen Dirigenten. Sie tauscht die Harfe gegen die Schreibmaschine, wird Redakteurin der Zeitschrift Die Dame und veröffentlicht im Ullstein Verlag ihre ersten Romane, die eine hohe Auflage erreichen. Ihr umstrittener Roman „Stud. chem. Helene Willfüer“, in dem es um das Thema Abtreibung geht, wird 1928 ein Welterfolg, der nur noch von dem vielstimmigen Meisterwerk „Menschen im Hotel“ übertroffen wird, in welchem Vicki Baum der Hotelkultur ein Denkmal setzt.
1931 reist sie nach Amerika, um eine Filmversion von „Menschen im Hotel“ zu erarbeiten, den berühmten Film „Grand Hotel“ mit Greta Garbo. Sie wird mit ihrer Familie in Hollywood sesshaft, bevor dort nach 1933 Ströme von Emigranten aus Deutschland eintreffen. Sie sammelt und spendet Geld für sie. Und sie kann es sich leisten, großzügig zu sein. „Sie ist kameradschaftlich und welterfahren“ schreibt Klaus Mann in „Der Wendepunkt“. „Wir lauschen ihr mit Respekt und Dankbarkeit.“ Sie schreibt nun in englischer Sprache. 1960 stirbt Vicki Baum in Hollywood.
Lettre International: Nr. 108, Frühjahr 2015
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 13,90 €.
Merkur: Heft 791, April 2015
Nr. 1, 2015 (Porzellanstraße 11/69, A-1090 Wien), 3,90 €.
Volltext: Nr. 1, 2015
(Porzellanstraße 11/69, A-1090 Wien), 3,90 €.
Michael Buselmeier 20.05.2015
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Michael Buselmeier
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