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Mai 2016
Die österreichische Zeitschrift mit dem betont kargen Titel Literatur und Kritik erschien zum ersten Mal im April 1966, also vor genau 50 Jahren, herausgegeben von Gerhard Fritsch, Rudolf Henz und Paul Kruntorad mit der Absicht, zwischen ost- und westeuropäischen Ländern zu vermitteln. Man druckte etwa Gedichte des polnischen Lyrikers Zbigniew Herbert, Prosa des Tschechen Bohumil Hrabal oder auch einen Essay von Vaclav Havel.
Vor 25 Jahren, im März 1991, nach der großen Wende, war die Zeit gekommen für eine redaktionelle Verjüngung und eine partielle Neuorientierung. Der streitbare Karl-Markus Gauß übernahm die Herausgeberschaft, und die südosteuropäischen Länder rückten ganz ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auf besonderes Interesse stieß bei den Lesern die jedes Heft einleitende Rubrik der „Kulturbriefe“. Die Buchbesprechungen waren und sind vorrangig der österreichischen Gegenwartsliteratur gewidmet.
Die jüngste Ausgabe von Literatur und Kritik beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Dichtung der Ukraine. Das geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem die dramatischen Ereignisse auf dem Kiewer Majdanplatz schon ein wenig vergessen zu sein scheinen, das hektische Interesse der Medien zumindest abgeklungen ist und andere Konflikte wie der Krieg in Syrien oder die Flüchtlingswelle in den Vordergrund drängen. „Wie ist die Stimmung in der Ukraine?“ lautet die Kernfrage des Heftes, das Martin Pollack und Stefaniya Ptashnyk zusammengestellt haben. Das Land, heißt es dort, erfahre einen gewaltigen Umbruch, es lebe „im Frieden und im Krieg zugleich.“ Auf jeden Fall sei in den letzten zwei Jahren in Form der Majdan-Lyrik eine eigene Kriegsliteratur entstanden.
Die meist jungen Dichter, die vorgestellt werden, bemühen sich dann auch – so schwer das sein mag – das traumatisierende politische Geschehen im Land, das im Herbst 2013 begann, zu verstehen und zu dokumentieren. Die Texte sind hoch emotional und moralisch aufgeladen, sie ergreifen spontan Partei für die Betroffenen, die Kriegsopfer in der Ostukraine, versuchen, ihnen und ihrem Schmerz eine Stimme zu geben: „Als es die Stadt nicht mehr gab / begann der Kampf um den Friedhof / das Osterfest nahte, und die Holzkreuze / ließen ihre Papierblumen sprießen / auf frischen Gräbern.“ Natürlich geraten Gedichte, die unter solchen Umständen entstehen, nicht immer besonders kunstvoll, eher schlicht und alltagsnahe in ihrer Sprachführung. Viele Autoren wirken verwirrt, müssen erst mal begreifen, was um sie passiert. Nicht selten tauchen religiöse Motive auf: „Sie kennt kein Gebet. / Sie bewegt nur die Lippen. / Auf die tränennassen Wimpern / fällt der Schnee – oder Staub. / Sie spricht: Gott … und dann / nur verworrene Worte.“
Die Frühjahrsausgabe der kleinen saarländischen Zeitschrift streckenlaeufer eröffnet ein bislang unveröffentlichter autobiographischer Text von Klaus Theweleit, verfasst während einer Zugfahrt nach Saarbrücken. Er sei, sagt er darin, 1942 in Ostpreußen geboren, nach der Vertreibung in Schleswig-Holstein aufgewachsen, „in einem fast bücherlosen Haus“, als fünftes Kind einer Eisenbahnerfamilie. Das erste und lange Zeit einzige Buch, das ihm in die Hände fiel, war ein dicker Band mit dem Titel „Der Heldenkampf der Deutschen“, das sein Lieblingsbuch wurde. Es ging darin um die deutsch-germanische Geschichte, um glorreiche Siege über die Römer, um Siegfried, Karl den Großen und Barbarossa, um Ludendorff und Hindenburg, dessen Foto schon in Ostpreußen über Vaters Schreibtisch hing, zusammen mit dem Adolf Hitlers.
Theweleit und seine fünf Geschwister waren eigentlich dafür geboren, „deutsche Helden“ zu werden, konnten jedoch, nach dem Krieg aufwachsend, diese Laufbahn nicht mehr einschlagen. Nicht einmal zu einer Offizierskarriere bei der Bundeswehr reichte es zum Kummer des ständig polternden Vaters, der im Text des Sohnes mit Verachtung nur „der Alte“ genannt wird. Zu Vorbildern werden nun Elvis, Charlie Parker und Billie Holiday. Die „deutschen“ Helden scheinen fast verschwunden, kehren allenfalls in Video-Spielen und Kino-Filmen zurück, die ihren Ursprung in realen Kriegen haben.
Aber es gibt auch noch „den aus eigener Machtvollkommenheit agierenden Helden“; gemeint ist eine Killerfigur wie der Norweger Anders Behring Breivik, der „böse Held“, über den Theweleit unter dem Titel „Das Lachen der Täter“ 2015 ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht hat. Es handelt sich bei Breivik um einen speziellen Typus, der Gewaltverbrechen begeht und dabei lacht. Im Zentrum steht, wie auch in früheren Arbeiten des Freiburger Autors, der „fragmentierte Körper“ des Täters, der Spannungsausgleich nur im Akt der Gewalt findet. Vermutlich wurde Breivik als Kind geschlagen (was früher üblich war) oder allein gelassen und stellte sich erst über Gewaltanwendung wieder her. Erst das Töten macht ihn heil und glücklich; es ist für ihn eine Erleichterung und zugleich „christliche Weltpolitik“. Für seine Opfer ist der zum Mörder erzogene, stets männliche (Nazi-)Täter ohne jede Empfindung.
Auch in der Wiener Zeitschrift Wespennest, in einem ausführlichen Gespräch mit Carl Henrik Fredriksson und Andrea Zederbauer, geht Klaus Theweleit davon aus, dass zumindest die ab den 70er Jahren Geborenen kaum noch Schläge bezogen haben. Den Grund dafür, dass sie nicht so rebellisch wurden wie die 68er, sieht er schlicht darin, dass sie weniger gequält wurden und daher nicht unbedingt gegen die Autoritäten rebellieren mussten.
Der französische Schriftsteller Pierre Drieu la Rochelle präsentiert sich auf Fotos stets mit aristokratischer Lässigkeit, als Dandy, Frauenfreund und Katzenliebhaber, die Zigarette im Mundwinkel. Seine Biographie ist voller Widersprüche: In jüngeren Jahren hatte er Kontakte zu Juden, stand den Surrealisten nahe, war befreundet mit Louis Aragon und erwärmte sich sogar ein wenig für den Kommunismus. Später wurde er zum harten Antisemiten, der all seine Hoffnung auf Adolf Hitler setzte und Frankreichs Dekadenz beklagte. Im März 1945 beging er mit 52 Jahren Selbstmord durch Gas.
Im ersten Jahresheft der Zeitschrift Volltext wagt sich Thomas Laux an ein Porträt des in jeder Hinsicht schwer einzuschätzenden Drieu la Rochelle, der ins gleiche politische Lager wie Knut Hamsun oder Louis-Ferdinand Céline gehört und für „aktive Kollaboration“ steht. Er kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg selbstverständlich auf Seiten Francos. 1940 wurde er von nazideutschen Gnaden Leiter der Monatsschrift La Nouvelle Revue francais – eine intellektuelle Machtposition. Auch in seinem Tagebuch kommentiert er das aktuelle Kriegsgeschehen. Er gefällt sich in der Rolle des überzeugten Europäers, der entschieden einem Ende der Nationalstaaten das Wort redet, wobei Kollaboration und Faschismus für Drieu Mittel der europäischen Integration sind. Sein Hass auf die Demokratie war so stark, dass er nach der deutschen Niederlage in Stalingrad nun den Triumph des Kommunismus herbeisehnte.
Drieu la Rochelle gilt bei französischen Intellektuellen bis heute als „großartiger Schriftsteller, ein Stilist ersten Ranges“, so André Malraux, „ein glänzender Essayist.“ Drieu war vor allem ein autobiographischer Autor, den Themen außerhalb seiner selbst nicht interessierten. Seine Erlebnisse an der Front des Ersten Weltkriegs hat er indes in seinen Büchern verarbeitet. 2012 wurde eine repräsentative Auswahl seiner Werke in die renommierte Klassikerausgabe „La Pléiade“ aufgenommen.
Über das Leben eines „Kulturvermittlers“ ganz anderer Art zwischen Deutschland und Frankreich spricht Heinz-Norbert Jocks in Lettre International mit dem Schriftsteller, Übersetzer und einstigen Gymnasiallehrer Georges-Arthur Goldschmidt. Der wurde 1928 bei Hamburg als Sohn einer protestantischen Juristenfamilie jüdischer Herkunft geboren, floh 1938 ohne seine Eltern als Waisenkind nach Frankreich und wuchs schwer traumatisiert in einem katholischen Kinderheim in den Savoyer Alpen auf, wo er überlebte. Er studierte in Paris Germanistik, wurde Studienrat, schrieb autobiographisch geprägte Prosabücher, die viel Anerkennung fanden (etwa „Die Absonderung“ von 1991), und übertrug nach und nach große deutsche Texte von Friedrich Nietzsche über Sigmund Freud bis Peter Handke ins Französische.
In seinen Büchern umschreibt und wiederholt Goldschmidt die vor allem körperlich einschneidenden Erfahrungen seiner Internats-Kindheit (auch hier: Prügel) und „die Schuldgefühle eines den Antisemitismus Überlebenden.“ Und mit einer gewissen Bescheidenheit meint er zu erkennen: Vielleicht fehlten ihm ja der Erzählstoff oder die Genialität eines Peter Handke, um sich voll dem Schreiben zu widmen. „Schon als kleiner Junge war ich von einer ungeheuren Angst vor dem Leben geplagt. Ich bin nicht groß genug, um, aus mir heraustretend, mich von meiner Lebensgeschichte zu lösen. Ich habe es auch nicht gewollt.“
Deshalb habe er in späteren Jahren fast ausschließlich Handkes Bücher übersetzt, fast so, als hätte er sie selbst geschrieben: „Wir verstanden uns auf Anhieb wie Kinder unterhalb der Wörter. Zwischen uns herrschte unmittelbar ein völliges Einverständnis.“ Und er vergleicht Handke sogar mit Jesus in „seiner Barmherzigkeit, seiner Güte und Mordlust.“
Literatur und Kritik, Märzheft 2016
(Ernest Thun-Straße 11, A-5020 Salzburg), 10,– €.
Streckenlaeufer, Ausgabe Frühjahr 2016
(Nahestraße 19, 66113 Saarbrücken), 5,– €.
Wespennest, Nr. 170, Mai 2016
(Rembrandtstraße 31/4, A-1020 Wien), 12.– €.
Volltext, Nr. 1, 2016
(Goldschlagstraße 78/22, A-1150 Wien), 5,90 €.
Lettre International, Nr. 112, Frühjahr 2016
(Erkelenzdamm 59/61, 10999 Berlin), 13,90 €.
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Michael Buselmeier
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