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Günter Grass

Beim Häuten der Zwiebel

Durch die Zwiebel gesagt: sich die Hände waschen!

Günter Grass | Beim Häuten der Zwiebel
Günter Grass
Beim Häuten der Zwiebel
Steidl Verlag 2006

Zugegeben: Günter Grass war Mitglied der Waffen-SS. Das wurde zuerst am heimischen Küchentisch, dann in der FAZ und zum Glück auch noch bei Wickert, dem neuen Late-Night-Spezialisten für Gegen­warts­literatur, betont. Ja, wir wissen es alle, der Mann mit der Pfeife (wo hatte er diese übrigens als er sich so nichts sagen wollend neben Wickert in einen Sessel verkroch?) war dabei: Mit wehenden Fahnen zog es das Muttersöhnchen in den Kampf, bereit für den Endsieg sein Leben zu lassen. Aber er hat ja gar keinen Schuss abgelassen, hat ja, also die Division, also Fundsberg, war ja, also, nie gesehen. Punkt und so bleibt es dann auch.

ABER: Günter Grass hat ein neues Buch geschrieben. „Beim Häuten der Zwiebel“, bei Steidl erschienen, 479 Seiten, gebunden, 24 Euro, um bei den Fakten zu bleiben. Die erste Auflage ging zwei Wochen früher in die Buchläden als geplant und war dann auch gleich verkauft. Hofften doch nun alle auf den großen Skandal: sich einmischen in den Strudel der Feuilleton-Gespräche. Dabei sein, wenn die Ikone der bundesdeutschen Nachkriegsmoral gestürzt wird. Ihn verteidigen, sagen: Also ich habe es ja gelesen und ich muss sagen… Wer diese oder ähnliche Hoffnungen hegt, wird enttäuscht sein. Nichts weiter als eine Bemerkung ist das späte Eingeständnis. Als hätte nicht etwa ein Nobelpreisträger, sondern der alte Herr von nebenan, der für sehr viel Geld einer Agentur sein Leben diktiert, um seiner Familie ein ganz besonderes Erinnerungsstück zu hinterlassen, eine bisher unbekannte Anekdote untergemischt.

Man ist dennoch gespannt, denn soweit ist man sich bis hierhin einig: die Literatur bleibt! (Schön, wie man das einem bescheinigt, der so dasitzt, fast ängstlich und vielleicht sagen will: bin noch hier, schreib noch was, meld mich noch.) Zu Recht hat Günter Grass den Nobelpreis für seine Blechtrommel entgegen genommen, auch wenn dieser ihm vielleicht nicht zugesprochen worden wäre, hätte er früher „gebeichtet“. Zu viel Konjunktiv, um darüber weiter nachzudenken. Günter Grass schreibt seine Autobiografie. Warum? „…weil ich das letzte Wort haben will.“ Diese selbstbewusste Aussage steht am Anfang seiner Erzählung über das Erinnern und trifft den Kern vieler Autobiografien, die in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebten. Man will das letzte Wort haben. Dies nutzt man meist zum Spinnen von Legenden. Es ist wunderbar, Schilderungen alternder Schauspielerinnen des auslaufenden 19. Jahrhunderts über diese oder jene flüchtige, aber ungeheuer bedeutende Begegnung mit diesem oder jenem großartigen Menschen, der dazu auch noch prominent war, zu lesen. Bedeutung erlangen, wenn auch nur wie ein Dieter Bohlen durch einen Penisbruch auf einer Herrentoilette. Zwei Buchdeckel und die Gewissheit: ich bleibe. Für sich selbst Raum beanspruchen, den der voyeuristische Leser gern gewährt. Auch Günter Grass kennt solch bedeutende Begegnungen. Im Kriegsgefangenenlager traf er Joseph, einen Katholiken, und würfelte mit ihm um beider Zukunftspläne. Die Erinnerung an Joseph flammt beim Zwiebelhäuten wieder auf. Immer mit Betonung auf seinen festen Glauben an Gott und dem Willen zur Karriere in der Kirche. Und am Ende, wer hätte das gedacht, ist Joseph Papst geworden. Nicht nur wir sind Papst, sondern auch Günter Grass. Und die Bedeutung zwischen den Buchdeckeln…

Auf die Frage, warum er so lang geschwiegen hätte, antwortete Grass stets: aus Scham. Erst jetzt sei er eben soweit, sich von seiner Zwiebel Erinnerung die Tränen in die Augen treiben zu lassen. Zu wagen, dass am Ende, wenn alle Schichten durchdrungen sind, nichts bleibt. Nur die losen Häute, denen das Wasser fehlt, dass sie beginnen sich zu krümmen. Dies scheint ein übergroßes Wagnis zu sein, das Grass in gewohntem Ton eingeht. Er kann erzählen und es fällt leicht zuzuhören, dem ausschweifenden Erzählfluss zu lauschen, sich an Wiederholungen zu erfreuen. So wird man durch dies Buch getragen von Kapitel zu Kapitel. Keine Stelle an der man sich wund sitzt. Aber genau das ist das Problem. Günter Grass erzählt davon, wie seine Kindheit endete, wie er sich durchschlug, wie er hungerte, nach Brot, nach Kunst, nach Liebe. Er erzählt vom Kampf um den ersten Satz seiner Danziger Trilogie. Dabei gibt es durchaus schöne Anekdoten und er teilt natürlich ein grausames Schicksal mit vielen anderen, deren Kindheit nicht einfach nur abrupt endete, sondern denen man diesen Schatz unter Vorsatz gestohlen hat. Leider erzählt Grass von sich genau so: als irgendeiner. Er erzählt von einer Zeit „die jener Junge, der anscheinend ich war“ durchlebt. Mehr nicht. So wirkt vieles wie ein Abziehbild seiner Erinnerung, ein Klischee, wie man es sich vielleicht zurechtmalt, wenn man zu einer Allgemeinheit gehören will. Über Menschen nur das nötigste, das allzu bekannte, aber in steter Wiederholung: dass Ingeborg Bachmann „die Bachmann“ genannt wurde oder Paul Celan tief unglücklich war. Und immer wieder der fromme Kumpel Joseph. Häufig erzählt Grass von Begegnungen, von denen man vielleicht nicht wusste, die er aber mit Sicherheit zumindest unkommentiert hätte lassen sollen. Reihenweise entschlüsselt er seine Romanfiguren. Verweist auf diese oder jene Erzählung und teilt nebenher aus an Deutschlehrer und Germanisten, den „Fragment-Fetischisten“, so dass man schnell eine eitle Stimme hört die immer wieder betont: „… weil ich das letzte Wort haben will“.

Grass spricht von der Schwierigkeit des Erinnerns, schlägt Varianten vor, dass es immer auch anders gewesen sein kann, wird so oft betont, als wüsste der Leser nicht um Lug und Trug des eigenen Gedächtnisses. Weil er sich nicht entscheiden mag zwischen den vielen Varianten, bleibt immer noch eine Distanz. Dass er sich mit seiner Kritik an dem jugendlichen Günter zurückpfeift ist verständlich, aber Fragen, die sich heute geradezu aufzwängen, werden nicht nur nicht beantwortet, sondern auch nicht gestellt. So gibt Grass zwar den Glauben an den Endsieg zu, auch dass er nicht wahrhaben wollte, was in den Vernichtungslagern geschehen ist, aber was ist davon geblieben nach 1945? Er hat den Glauben verloren, ihm steckt der Krieg, der greifbar nahe Tod in den Knochen. „Zuviel und mehr als sich sagen ließ, war im Verlauf der Zeit geschehen, die ohne Anfang war und keinen Schlusspunkt finden konnte.“ Dass ihn dies alles antrieb politisch so aktiv zu werden, wie er es wurde, ist klar, jedoch fehlt der Übergang. Es ist doch nicht glaubhaft, dass man das Gerüst seiner Gedankenwelt herunterreißt von einem zum anderen Tag. Was hat Grass gedacht, als er zu Jazz tanzte? Welche Lieder waren ihm immer noch im Kopf? Wobei ertappt er sich bis heute? Ist das vielleicht der wahre Punkt der Scham? Sich eingestehen zu müssen, dass man dieser Junge, der den eigenen Namen trägt, wirklich ist? Immer noch ist? Das Alles bleibt offen und dabei vielleicht die einzige Chance einer Aufarbeitung noch in der Flakhelfergeneration. Stattdessen teilt Grass sein Leben in drei Abschnitte – „in den des Nichtrauchers, den des Rauchers von selbstgedrehten Zigaretten und den des Pfeifenrauchers“.

Es gibt zwei ganz außergewöhnliche Textstellen. Wenn er über den Tod seiner Mutter schreibt und über die liebe zu seiner ersten Frau Anna. Dann ist plötzlich genau das Jedermann-Sein weg. Hier rechnet er ein Menschleben einmal gegen die abstrakte Welt: „ging es immer wieder um die Opfer des Stalinismus und die geschätzte Zahl der Atomtoten von Hiroshima und Nagasaki... das Sterben meiner Mutter vollzog sich in der Stille“. So kann dann auch etwas wie Welt entstehen, ein Einblick, eine Einsicht vielleicht.

Um weiterzuerzählen fehlt es ihm am Ende an „Zwiebeln und Lust“. Hat er den Weg entblättert vor dem großen, unaufhaltbaren Erfolg. Ein Erfolg ist dieses Buch schon jetzt, wenn man Erfolg an Verkaufzahlen misst. Auch wenn man bedenkt, wie verständnisvoll wir nun alle auf Grass blicken. Nein, wir Vernunftmenschen können wirklich nicht urteilen, denn man weiß ja nie, wie man selbst gehandelt hätte. Gestehen wir dem Bedingungslosen Bedingungen ein. Der Medienhype, den Grass inszeniert hat (denn was ist ein Bruch der Rezensionssperre anderes als eine Inszenierung?) ist eine Erfolgsgeschichte auf Kosten derer, die damals schon Opfer waren. Der Schrecken, den das doppelte „S“ verursacht ist keine Hysterie, sondern bittere Wahrheit. Damit die Buchdeckel füllen, die Bedeutung konstruieren sollen, sich selbst noch einmal wichtiger nehmen als sein Werk in einer Großmenschengeste (seht her, ich gestehe es und dann noch etwas von einem ersten Stein), dafür gehört einer gerügt, gehören einem Preise aberkannt. Aber es ist ja alles läppisch. So ein einzelner Mensch, der eben versagt, der eben laufend Dummes tut, wie ein jeder. Was das für die Generation bedeutet, die ihre moralischen Pfeiler nicht auf das Erlebnis Krieg und Auschwitz stützen kann, die immer nur sagen muss: Das darf man nicht verurteilen, weiß ja nicht, wie ich selbst ... Das steht noch auf keinem Blatt. Diejenigen, denen wir glauben konnten, wenn sie sagten, dass dieses richtig und jenes falsch sei, weil sie wussten, wovon sie sprachen, wenn sie sagten, das führt dann da und da hin, haben es nicht geschafft, eine Welt zu leben, in der man offen miteinander spricht, Demokratie übt, weil nur das hilft.

Bleibt einem nur, sich noch einmal die beigefügten Zeichnungen anzuschauen, die das Häuten einer Zwiebel dokumentieren. Ob es seine war? Egal: die Augen frei wischen. Aber erst, wenn man sie richtig ausgeheult hat, vorher macht es keinen Sinn. Nur ... dann ... ist alles vorbei. War eben eine Zwiebel. Ein Fremdkörper, ein Hilfsmittel, bleibt dauerhaft kein Schmerz. Wie beunruhigt wäre man wohl, würde man ein solches Brennen in den Augen spüren und wissen, dass es nicht von einer Zwiebel kommt? Dass man sich selbst ... Jetzt aber wirklich: Hände waschen, dass sie nicht stinken.

Anne Rabe        12.09.2006

Anne Rabe
Prosa
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