Andreas Maier – Die Universität | |
Roman | Suhrkamp 2018 | Dietmar Jacobsen 11.08.2018 |
Michael Opitz' Biographie des Dichters Wolfgang Hilbig
Ortsumgehung heißt das Projekt, das Andreas Maier seit 2009 verfolgt. Nach vier Romanen, die den Ruf des im hessischen Bad Nauheim Geborenen begründeten, tragen die bisher sechs Bände dieses auf insgesamt elf Teile angelegten Großunternehmens zwar ebenfalls die Genrebezeichnung „Roman“ im Titel, konfrontieren den Leser aber mit so viel nachprüfbarer Lebenswirklichkeit, dass man eigentlich von einer entfiktionalisierten Fiktion sprechen müsste, wenn das nicht einen Widerspruch in sich darstellen würde.
Udo Kawasser – Ache | |
Sonderzahl Verlag 2018 | Christian Lorenz Müller 21.07.2018 |
Udo Kawasser fasst einen ganzen Gebirgsfluss auf neunzig Seiten
Sommers sehnt sich der Mensch ans Wasser. Deshalb zwängt er sich ins Flugzeug, um sich im Süden mit tausenden anderen Urlaubern an einer trüben Bucht zu versammeln. Er könnte sich stattdessen auch aufs Fahrrad setzen und an den nächsten Bach, den nächsten Fluss pedalen – so wie Udo Kawasser das tut. Der Wiener Autor hat das Gewässer seiner Kindheit und Jugend, die Bregenzer Ache, über zwei Jahre hinweg immer und immer wieder aufgesucht.
Christoph Linher – Ungemach | |
Roman | Müry Salzmann 2017 | Christian L. Müller 02.02.2018 |
Christoph Linher wagt sich an ein Paradoxon: Er schreibt einen Roman über das Verstummen
„Die Wolken“, heißt es zu Beginn dieses Buchs, „hingen wie geschichteter Schiefer.“ Dann zieht Nebel auf. Er verschluckt Fernach, das Bergdorf, in dem der Ich-Erzähler eben angekommen ist. In einem Brief hat ihm eine Großtante, von deren Existenz er bislang nichts gewusst hat, an ihr Sterbebett gebeten. Er ist ihrer Aufforderung wohl nur deshalb gefolgt, weil er nach dem Ende seiner Ehe beruflich in Schwierigkeiten geraten ist und das Haus der Tante ihm nach ihrem Tode zufallen soll.
Michael Opitz | Wolfgang Hilbig – Eine Biographie | |
Biografie | Fischer 2017 | Michael Buselmeier 16.01.2018 |
Michael Opitz' Biographie des Dichters Wolfgang Hilbig
Der Berliner Literaturwissenschaftler Michael Opitz hat die erste große Biographie des in vieler Hinsicht rätselhaften Dichters Wolfgang Hilbig vorgelegt, zehn Jahre nach dessen Tod – im Ganzen ein souverän und kenntnisreich geschriebenes Buch aus der Perspektive eines in der DDR aufgewachsenen Forschers; ein im Westen Sozialisierter hätte vermutlich andere Akzente gesetzt. Opitz hat dafür die 46 Archivkästen des Nachlasses und die Hilbig-Sammlung der Berliner Akademie der Künste durchforstet, zahlreiche bislang unveröffentlichte Manuskripte und Briefe ausgewertet.
Juli Zeh – Leere Herzen | |
Roman | Luchterhand 2017 | Dietmar Jacobsen 07.01.2018 |
Zehs neuer Roman Leere Herzen spielt in einer Zukunft, in der Gleichgültigkeit und politisches Desinteresse unsere Demokratie unterhöhlt haben
Sie heißen Britta und Richard, Knut und Janina. Zwei befreundete Paare in der nahen Zukunft, deren Kinder in dieselbe Schule gehen. Man wohnt in Braunschweig, weil mittelgroße Städte inzwischen der Renner sind – nicht mehr der Prenzlauer Berg in Berlin und auch nicht mehr das Land im viel Platz bietenden Nordosten Deutschlands, das der Schauplatz von Zehs letztem Roman Unterleuten (2015) war.
Mascha Dabić – Reibungsverluste | |
Roman | Edition Atelier, 2017 | Christian L. Müller 19.08.2017 |
Was genau passiert beim Dolmetschen?
Mascha Dabić gibt in ihrem Debütroman kluge Antworten.
Julian Barnes – Der Lärm der Zeit | |
Roman | Kiepenheuer & Witsch 2017 | Dietmar Jacobsen 16.06.2017 |
In seinem Roman Der Lärm der Zeit erkundet Julian Barnes am Beispiel des Komponisten Dmitri Schostakowitsch das Verhältnis von Geist und Macht in Diktaturen
Zehn Nächte lang wartet der Komponist Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) im Mai 1937 darauf, von den Schergen des sowjetischen Geheimdienstes verhaftet zu werden. Es ist die Zeit der großen Säuberungen und Stalin hat eine Aufführung von Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk anderthalb Jahre vorher bereits in der Pause verlassen: Anlass genug für willfährige Kritiker, in den darauffolgenden Monaten über das in aller Welt gefeierte Werk herzufallen und dessen Schöpfer Formalismus und Volksfremdheit vorzuwerfen.
Tilman Rammstedt – Morgen mehr | |
Roman | Hanser 2016 | Dietmar Jacobsen 18.12.2016 |
Tilman Rammstedts Roman Morgen mehr betreibt eine Menge Aufwand, um zwei Menschen zusammenzubringen
Tilman Rammstedts Publikationsliste ist – sagen wir es freundlich – übersichtlich. Der 1975 in Bielefeld geborene und heute in Berlin lebende Autor wirft weiß Gott nicht jedes Jahr einen neuen Fünfhundertseiter auf den Markt. Seit seinem letzten Roman, Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters, sind 4 Jahre vergangen. Seit seinem bisher erfolgreichsten, Der Kaiser von China (gleich zwei Großpreise beim Bachmann-Wettlesen 2008), schon acht.
Kurt Drawert – Der Körper meiner Zeit | |
Gedicht | C.H. Beck 2016 | Martian Weber 11.12.2016 |
„Schreiben ist immer eine psychophysische Durchdringung von Stoff (...). Man muss etwas zulassen können, was andere blockieren, zensieren, verdrängen. Nur so entstehen literarische Texte, die neue Räume eröffnen, überraschend, irritierend, denkwürdig – also des Denkens würdig – sind“, sagte Kurt Drawert in einem Interview mit Barbara Zeizinger auf die Frage, ob er bestimmte Erwartungen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seiner Darmstädter Textwerkstatt hätte (Bawülon 4/2015, Pop Verlag). Es ist eine klare Absage an Harmlosigkeiten, vor allem aber ist es ein Bekenntnis zur schonungslosen Aufrichtigkeit mit sich selbst.
Que Du Luu – Im Jahr des Affe | |
Königskinder Verlag 2016 | Ralf Willms 24.11.2016 |
Zu den Hauptleistungen des Buches „Im Jahr des Affen“ gehört, dass – bei allen graduellen und fundamentalen Unterschieden – sehr genau und weitgehend ein Gefühl dafür entwickelt werden kann, mittels Einsicht und Erkenntnis, womit das Leben eines „Flüchtlings“ – ein Un-Wort, wie Ulrich Siebgeber feststellte, wofür schon das Suffix „ling“ sorgt – befasst ist.
Peter Richter – Dresden revisited | |
Luchterhand 2016 | Dietmar Jacobsen 11.11.2016 |
Peter Richter nimmt in Dresden revisited seine Leser mit in eine Stadt, die er vor einem Vierteljahrhundert verlassen, aber nie aus Augen und Sinn verloren hat
Dresden, die stolze Residenzstadt an der Elbe. Von Canaletto und Caspar David Friedrich gemalt.Von Erich Kästner, Heinz Czechowski, Durs Grünbein und Volker Braun bedichtet.Von Uwe Tellkamp und Ingo Schulze in jüngster Zeit zum Schauplatz großer Romane gemacht. Aber auch seit gut zwei Jahren die „umstrittenste Stadt im Lande“, wie Peter Richter, der 1973 dort geboren wurde, in seinem aktuellen Buch, Dresden revisited, schreibt.
David Vann – Aquarium | |
Roman | Suhrkamp 2016 | Dietmar Jacobsen 21.08.2016 |
In seinem neuen Roman Aquarium erzählt David Vann zum ersten Mal eine Geschichte, die gut ausgeht – auch wenn er sich dazu mächtig verrenken muss
Die zwölfjährige Caitlin Thompson geht jeden Tag nach Schulschluss in Seattles Aquarium. Nach Hause – Caitlin wohnt mit ihrer alleinstehenden Mutter Sheri in einem Vorort der Stadt im Nordwesten der USA – ist es weit, und so nutzt das Mädchen die Zeit, bis die im Containerhafen arbeitende Mutter sie endlich abholen kommt, um in die fantastische Welt von Wesen einzudringen, die mit ihrer bunten Vielgestaltigkeit eine Art Gegenpol zu der von Caitlin Tag für Tag erlebten Tristesse darstellen.
Ioana Orleanu –n Limesland | |
Erzählungen | tredition 2015 | Dietmar Jacobsen 26.06.2016 |
In ihrer Erzählung Limesland wirft Ioana Orleanu einen desillusionierten Blick auf das Rumänien nach Ceauçescu und dem gescheiterten sozialistischen Experiment
George Voinea ist ermordet worden. Die rechte Hand des nach der Wende in Rumänien kometenhaft aufgestiegenen Medienmoguls und Finanzmagnaten Horatiu Ploaie lebt nicht mehr. Eigentlich war der Mann schon seit geraumer Zeit von der Bildfläche verschwunden. Ein geplatzter Investmentfonds, dem die Ersparnisse von Hunderttausenden zum Opfer fielen, hatte ihn, bevor ein Gericht ihn endgültig verurteilen konnte, zur Flucht ins Ausland gezwungen.
Saša Stanišić – Fallensteller | |
Erzählungen | Luchterhand 2016 | Dietmar Jacobsen 28.05.2016 |
In den zwölf Texten seines ersten Erzählbandes knüpft Saša Stanišić nahtlos an die Erfolge seiner bisherigen zwei Romane an
Für seinen letzten Roman, Vor dem Fest, erhielt Saša Stanišić 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse. Die Jury bescheinigte dem 1978 in Bosnien-Herzegowina geborenen und seit 1992 in Deutschland lebenden Autor damals, „ein Dorf aus Sprache“ erfunden zu haben, „ein Kaleidoskop, einen Kosmos aus vielen Stimmen, Klangfarben, Jargons, die Welt in nuce, magisch zusammengehalten von einem kollektiven Erzähler“. Und in der Tat: Stanišić brachte mit diesem Buch über einen kleinen uckermärkischen Flecken namens Fürstenfelde einen völlig neuen Ton in die deutsche Gegenwartsliteratur.
Vendela Vida – Des Tauchers leere Kleider | |
Roman | Aufbau 2016 | Carola Gruber 29.04.2016 |
Vendela Vidas Roman Des Tauchers leere Kleider erzählt von einer rasanten Selbstflucht und -suche
Eine US-Amerikanerin kommt in Casablanca an und wird im Hotel bestohlen: Noch bevor sie ihr Zimmer erreicht, ist sie ihren Rucksack mitsamt Pass, Laptop und Reiseführer los. Der Dieb ist auf einer Videoaufzeichnung des Hotels zu sehen, und nach kurzen Ermittlungen erhält die Frau von der Polizei einen Rucksack »zurück« – allerdings nicht ihren eigenen. Ausgestattet mit fremdem Pass und fremder Kreditkarte nimmt sie eine neue Identität an.
Ilija Trojanow – Macht und Widerstand | |
Roman | Fischer 2015 | Dietmar Jacobsen 23.04.2016 |
Mit Macht und Widerstand kehrt Ilija Trojanow nach Bulgarien, ins Land seiner Vorfahren, zurück und fragt danach, was sich dort seit 1989 verändert hat
Die beiden Helden, deren Schicksale Ilija Trojanow in seinem aktuellen Roman miteinander verknüpft, heißen Konstantin und Metodi. Als Knaben die Schulbank miteinander teilend, macht das Leben die Männer in späteren Jahren zu unerbittlichen Feinden. Aus Metodi wird ein opportunistischer Geheimdienstmann im Bulgarien Todor Žiwkows.Weitere Kritik von Dietmar Jacobsen zu Ilija Trojanows: Eistau ►
Ewart Reder – Reise zum Anfang der Erde | |
Roman | Axel Dielmann 2016 | Gerrit Pithan 23.04.2016 |
Ewart Reders neues Buch, sein zweiter Roman, hat Züge einer Utopie, wenn es auch nur in einer nahen Zukunft spielt. Es geht um eine Selbsthilfekommune mit dem Namen Zusammen=Arbeit, in der die Menschen gegen eine Welt des zügellosen, globalen Kapitalismus unter chinesischer Vorherrschaft kämpfen. Die Kommune setzt sich für den Erhalt der Wälder Schleswig-Holsteins ein, die von der kompletten Abholzung bedroht sind.
Jürgen Brôcan – Holzäpfel, Schädelflüchter | |
Lyrik | Rugerup | Horlemann 2015 | Susanne Stephan 16.04.2016 |
Jürgen Brôcan ist ein renommierter Lyriker, ein gefragter und preisgekrönter Übersetzer und Neu-Übersetzer – so übertrug er für Hanser in den letzten Jahren die Grasblätter von Walt Whitman sowie Der Scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne –, er ist Herausgeber der Literaturzeitschrift offenes feld und neuerdings auch Verleger der edition offenes feld, aus deren Programm Bent Emil Johnsons Das Fest der Wörter / Aus dem Sumpf (aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler) in die Lyrikempfehlungen 2016 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde.
Matthias Kehle – Die letzte Nacht | |
Erzählungen | Lindemanns Verlag 2015 | Hans-Dieter Fronz 09.04.2016 |
Das Buch ist die Einlösung eines Versprechens. Als er wieder einmal die Gräber von Angehörigen auf dem Friedhof in Ettlingen bei Karlsruhe besuchte, fragte sich der Lyriker und Erzähler Matthias Kehle, was er über die Verstorbenen eigentlich wisse – was von ihrem Leben geblieben sei. Außer materiellen Hinterlassenschaften wenig bis nichts, wurde ihm dabei deutlich. Ein guter Grund für den heiligen Vorsatz, ihre Geschichte(n) zu erzählen.
Michael Zeller – Falschspieler | |
Roman | Brockmeyer Verlag 2016 | Michael Buselmeier 04.04.2016 |
Michael Zellers Roman Falschspieler über einen Literaturskandal der 50er Jahre
Michael Zellers neuer Roman „Falschspieler“ hat einen frühen Skandal zum Gegenstand, der den sich gerade etablierenden Literaturbetrieb der Bundesrepublik erschütterte. Im Jahr 1952 erschien unter dem Namen „George Forestier“ (im Roman „Leon Desmoulins“) der Gedichtband „Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße“, der allseits Begeisterung auslöste.
Jakob Hein – Kaltes Wasser | |
Roman | Galiani 2016 | Dietmar Jacobsen 13.03.2016 |
In seinem neuen Roman Kaltes Wasser erzählt Jakob Hein die Geschichte eines ostdeutschen Felix Krull
Friedrich Bender geht noch zur Schule, als die Wende über Ostdeutschland hereinbricht. Doch im Gegensatz zu seinen Eltern – einem Professor für Marxismus-Leninismus und einer Kaderleiterin im VEB Berlin Chemie – paralysieren ihn die Ereignisse keineswegs. Im Gegenteil: Sie kommen seinem Talent entgegen, sich nicht von den Verhältnissen unterbuttern zu lassen, sondern sich die Dinge so zurechtzulegen, wie er sie gerne hätte.Weitere Kritiken von Dietmar Jacobsen zu Jakob Hein: Wurst und Wahn ►
Vladimir Sorokin – Telluria | |
Roman | Kiepenheuer & Witsch 2015 | Dietmar Jacobsen 02.03.2016 |
Vladimir Sorokin zeichnet in den 50 Kapiteln seines neuen Romans Telluria das Bild einer Welt, die nur noch im Vollrausch zu ertragen ist
Gleich ein ganzes Übersetzerkollektiv – sechs Damen und zwei Herren, die unter dem anspielungsreichen Teamnamen „Hammer und Nagel“ auftreten – hat es gebraucht, um das neue Buch von Vladimir Sorokin, Telluria, ins Deutsche zu übertragen.Weitere Kritiken von Dietmar Jacobsen zu Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks ►
Lydia Haider | Kongregation | |
müry salzmann 2015 | Christian L. Müller 28.02.2016 |
Und es begab sich aber zu der Zeit, irgendwo auf einem Dorf in Österreich, umgeben von ödem Gelände, dass Gott sieben jener Jungen strafte, die sich gegen das Althergebrachte erhoben hatten mit lästerlichen Reden, losen Sitten und einer Verachtung des Kreuzes und der Kirche, die es bis dahin nicht gegeben hatte in diesem Landstrich. Jedem Rechtschaffenen war klar, dass Simon nicht im Sägewerk zu Bretterlänge zerschnitten, Franz nicht durch Bierflaschensplitter inwendig verblutet und Thomas nicht im Taufbecken ertrunken war, weil es sich um Unfälle handelte, wie Polizei und Staatsanwalt das wissen wollte ...
Friederike Mayröcker – fleurs | |
Suhrkamp 2016 | Ralf Willms 21.02.2016 |
Auch im Band fleurs, der eine Trilogie abschließt, sucht das Schreiben Friederike Mayröckers dem „unmittelbaren Leben“ so nah wie möglich zu kommen, ohne es sein zu können. Daraus ergibt sich der Sehnsuchtsraum, der „unbehebbar“ ist. Sich schreibend „dem Leben“ zu nähern, hat seine Vorteile: es wird ungleich intensiver, was womöglich flüchtig war; Innehalten und Durchdringung scheinen das Leben momentweise geradezu anzuhalten, es scheint endlich zu bleiben bzw. ist nun, an einem einzigen „Punkt“, vielfach ausdehnbar; der kognitive Prozess des Formulierens resp. Erkennens leistet, wozu „unmittelbares Erleben“ bekanntlich nicht imstande ist.
Serhij Zhadan – Mesopotamien | |
Roman | Suhrkamp, 2015 | Dietmar Jacobsen 09.01.2016 |
In 9 Erzählungen und einem 30-teiligen Gedichtzyklus nähert sich Serhij Zhadans neues Buch auf poetische Weise der ostukrainischen Stadt Charkiw
Schon die Form, die der in Charkiw lebende 41-jährige ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan für sein neues Buch, Mesopotamien, gewählt hat, ist ungewöhnlich. In neun Erzählungen – alle tragen den Vornamen ihrer jeweiligen Hauptfigur im Titel –, locker miteinander verbunden durch das in ihnen auftretende Personal und den Handlungsort, Zhadans ostukrainische Heimatstadt, und 30 unter der Überschrift „Erläuterungen und Verallgemeinerungen“ subsummierten Gedichten versucht der Autor ein poetisches Porträt der zweitgrößten Stadt der Ukraine.Weitere Kritiken von Dietmar Jacobsen zu Serhij Zhadan:
Die Erfindung des Jazz im Donbass ►
Hymne der demokratischen Jugend ►
Shūsaku Endō – Schweigen | |
Roman | Septime Verlag 2015 | Christian L. Müller 16.12.2015 |
Ein Klassiker der japanischen Literatur als Lektüreempfehlung für Donald Trump
Sehr geehrter Herr Trump,Sie fordern, die Grenzen Ihres Landes für Muslime zu schließen. Amerika sei in einer Notsituation und müsse sich deshalb an Politikern wie dem allseits verehrten Franklin D. Roosevelt orientieren, der während des Zweiten Weltkriegs sämtliche Japaner, die sich auf dem Territorium der USA befunden hätten, vorsorglich in Lager gesteckt habe.
Frank Schulz – Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen | |
Roman | Galiani 2015 | >Dietmar Jacobsen 13.10.2015 |
In seinem zweiten Abenteuer lässt Frank Schulz seinen Hamburger Detektiv Onno Viets als Personenschützer auf Mittelmeerkreuzfahrt gehen
Er hat sich eine posttraumatische Belastungsstörung weggeholt bei seinem ersten Fall, der ihn 2012 mit einer Hamburger Kiezgröße namens Tibor Tetropov und dessen stets gewaltbereitem Bodyguard konfrontierte, wobei der Showdown an Bord des Alsterdampfers „Saselbek“ ihm fast die Lichter ausblies. Onno Viets und der Irre vom Kiez fanden Kritik und Publikum damals dermaßen gut, dass sich augenblicklich eine „Liga zur Beförderung der Lektüre Frank Schulz'scher Schriften in Mittel- und Süddeutschland“ gründete.
Arno Geiger – Selbstporträt mit Flusspferd | |
Roman | Hanser 2015 | Dietmar Jacobsen 03.08.2015 |
In Arno Geigers neuem Roman Selbstporträt mit Flusspferd sucht ein junger Mann seinen Platz in der Welt
Man schreibt den Sommer 2004. Athen richtet die 28. Olympischen Spiele der Neuzeit aus. In New York wird der Grundstein für das „One World Trade Centre“ auf Ground Zero gelegt und in Deutschland beginnen die Menschen, an den Montagen wieder auf die Straße zu gehen – diesmal gegen die Hartz-IV-Gesetze der Regierung Schröder.
Marko Pogačar – Schwarzes Land | |
Gedichte | Edition Korrespondenzen 2015 | Ewart Reder 24.07.2015 |
Gedichte wie Atemzüge sind das, als wäre Sprache für Marko Pogačar, was Luft für uns ist. Er kann nicht wählen, ob er diese Verse macht. Gespielt wird nicht mit der Sprache. Und es ist Veranlagungssache, ob die Bilder, die Dinge einem so nahe kommen, dass der Notausgang Poesie heißt.
Brooke Davis – Noch so eine Tatsache über die Welt | |
Roman | Antje Kunstmann 2015 | Dietmar Jacobsen 09.07.2015 |
In ihrem Romandebüt lässt die australische Autorin Brooke Davis ein siebenjähriges Mädchen und zwei Oldies über das Leben,die Liebe und den Tod nachdenken
Millicent Bird, genannt Millie, ist sieben Jahre alt, als sie plötzlich allein im Leben dasteht. Ohne Vater und Mutter mitten in der Damenwäscheabteilung eines Warenhauses in der australischen Kleinstadt Warwickvale. Sie solle hier warten, bis sie wiederkommt, hat ihr die Mutter aufgetragen. Aber die durch den Tod ihres Mannes offensichtlich stark verwirrte Frau kommt nicht wieder. Nicht nach einer Stunde, nicht nach zwei und nicht bis zum Ende des Tages. Millie nennt ihn den „ersten Tag des Wartens“.
Marcus Roloff – reinzeichnung | |
Gedichte | Das Wunderhorn 2015 | Dirk Uwe Hansen 28.06.2015 |
Mit „Reinzeichnung“ erscheint nun Marcus Roloffs vierter Gedichtband. Und wieder ist meine erste Reaktion auf die Gedichte dieses Autors eine zunächst weitgehend unreflektierte reine Freude. Denn Roloffs Gedichte sind schön. Das allerdings ist keine hinreichende Charakterisierung, denn selbst wenn es gelingt eine zumindest vorläufig funktionierende Übereinkunft darüber zu erzielen, was ein Gedicht sei, so werden wir uns auf eine allgemeingültige Definition von Schönheit wohl nicht so schnell einigen können. So leicht kann ich es mir also nicht machen.
Marianne Bunes – Mutterwut | |
Roman | Ulrike Helmer Verlag 2015 | Ralf Willms 09.05.2015 |
Wer das Buch „Mutterwut“ von Marianne Bunes umfänglich und in seiner ganzen Tiefe versteht, so dachte ich bald, versteht, bei aller Spezifik des Vorliegenden, auch Grundlegendes zur „Geschichte der Mentalität“ in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar aus der Zeit von vor 1945 bis heute hin. Im Zentrum des Buches steht Maria H., von „Sprachverlust“ getroffen, dergestalt, dass sich ihr Sprachvermögen fortan auf die Wörter beschränkt: „Ja“, „danke“ und „gut“.
Thomas Kapielski – Je dickens, destojewski | |
Roman | Suhrkamp 2014 | Dietmar Jacobsen 04.05.2015 |
Thomas Kapielskis erster Roman hat Volumen, birst vor Witz und enthält jede Menge Nachdenkliches
Ernst Wuboldt lebt in Berlin-Spandau. Zunächst allein, dann für eine Weile beweibt, schließlich wieder einsam. Was ja das Schicksal vieler Zeitgenossen sein soll. Freilich: Wuboldt selbst kann nichts für die Kapriolen, die sein Leben schlägt. Dahinter nämlich steckt „der Pohle“.
Mooses Mentula: Nordlicht – Südlicht | |
Roman | Weidle Verlag | Sophie Sumburane 10.03.2015 |
„Hör mal, du Südlicht, beantworte mir eine Frage! Wenn ein Mann allein im Wald ist, ohne dass Frauen in der Nähe sind, hat er dann trotzdem in allem Unrecht?“, fragt der offensichtlich angetrunkene Mann im ersten Satz des Romans Nordlicht – Südlicht den frisch in den Norden gezogenen Lehrer Jyri.
Michel Houellebecq – Unterwerfung | |
Roman | Dumont 2015 | Dietmar Jacobsen 19.02.2015 |
In Michel Houellebecqs neuem Roman Unterwerfung wird Frankreich über Nacht zu einem islamischen Staat
Am Tag des brutalen Anschlags auf die Redaktion des Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ in Paris kam auch der neue Roman von Michel Houellebecq, Soumission, in die französischen Buchhandlungen. Die deutsche Übersetzung mit dem Titel Unterwerfung folgte dem Original auf dem Fuße.
David Vann – Goat Mountain | |
Roman | Suhrkamp 2014 | Dietmar Jacobsen 05.02.2015 |
In Goat Mountain erzählt David Vann von einem Jagdausflug, der drei Männer und einen Jungen an die Grenzen des Menschseins führt
Ein Medea-Roman sei sein nächstes Projekt, hat David Vann kürzlich in einem Interview bekannt. Medea, die griechische Sagengestalt, die aus Liebe schuldig wird und deren Rache die eigenen Kinder zum Opfer fallen. Hundertfach literarisch bearbeitet von Euripides bis Christa Wolf, von Ovid bis Jean Anouilh, von Seneca bis Nino Haratischwili.
Michael Köhlmeier – Zwei Herren am Strand | |
Roman | Carl Hanser 2014 | Dietmar Jacobsen 09.01.2015 |
In Michael Köhlmeiers Roman Zwei Herren am Strand schließen Winston Churchill und Charlie Chaplin einen Bund gegen das Böse in der Welt
So richtig gepasst haben sie nicht zueinander: der Staatsmann und der Leinwandstar. Auf der einen Seite Winston Churchill (1874–1965) – schwer, rund, hamsterbackig, auf Bildern gelegentlich verschmitzt, öfter aber bedrohlich wirkend. Ihm gegenüber Charlie Chaplin (1889–1977), schmal mit auch im Alter noch voll wirkendem weißen Haar, zappelig und stets in Rollen schlüpfend, ein ewiges Kind, dem man Unglücklichsein und Melancholie nicht zutraut.
E. Drewermann – Dass auch der Allerniedrigste mein Bruder sei | |
Patmos 2003 / 2012 | Ralf Willms 04.01.2015 |
Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit
Ein Buch zu besprechen, das bereits rund 16 Jahre vorliegt, macht dann Sinn, wenn 2 Kriterien gegeben sind: 1. die Erkenntnisse in dem Text – unabhängig davon, ob er gelesen wird oder nicht – von bleibendem Interesse sind, 2. Wesentliches noch nicht dazu gesagt wurde.
Hedda Rossa – Spiegelblut | |
Roman | tredition 2011 | Ralf Willms 16.12.2014 |
Zugegeben: Hätte mir jemand gesagt, einen Roman aus dem Bereich „Fantasy“ oder „Thriller“ zu rezensieren, dazu von einer 15-jährigen Autorin, ich glaube nicht, dass sich mein Gesicht, was nichts Schlimmes bedeuten muss, nur einen Millimeter geregt hätte. Bei strenger Auswahl der Lektüre, kam ich „irgendwie zu dem Buch“ (durch Titel, Klappentext, Facebook-
Abasse Ndione – Die Piroge | |
Roman | Transit 2014 | Dietmar Jacobsen 05.12.2014 |
Abasse Ndiones Roman Die Piroge erzählt vom Schicksal jener vielen Afrikaner, die für das kalte Paradies Europa ihr Leben riskieren
Jedes Jahr machen sich Tausende junge Afrikaner auf den Weg nach Europa. Auf immer gefährlicheren Routen und der Willkür skrupelloser Schlepperbanden ausgesetzt, wagen sie ihr Leben, um der in ihren Heimatländern herrschenden Hoffnungslosigkeit zu entkommen. Hungersnöte, religiöse Konflikte, der Klimawandel und die wirtschaftliche Unterentwicklung auf dem schwarzen Kontinent sind allerdings nicht allein schuld daran, dass man lieber auf überladenen Booten in den Tod fährt als hilflos mit anzusehen, wie die eigene Familie verelendet.
Hedda Rossa – Spiegelblut | |
Suhrkamp 2014 | Ralf Willms 04.12.2014 |
„weiszt du mein liebster Freund ich verschlafe himmelwärts meine Tage und Nächte und ich habe Angst dasz dies die Ankündigung des nahen Todes sei ich meine dasz er sich in meinen Träumen ankündigt [...] im Grunde war es so dasz sie, die Mutter, immer meine Gedanken erriet ja, sie im vorhinein wuszte, noch ehe ich selber sie wuszte [...]“
Diese Zeilen spannen, wenigstens biografisch, den zeitlichen Rahmen auf: das Ende, den Anfang. Notate zur verstorbenen Mutter nehmen im Verhältnis zu études – dem ersten Band des als Trilogie angelegten Unternehmens – zu, wie überhaupt Herkunfts-
Chaim Noll – Lesung in Münster | |
Roman | Verbrecher Verlag 2014 | Dominik Irtenkauf 29.11.2014 |
Der deutsch-israelische Autor Chaim Noll macht einen Tag vor seinem Rückflug nach Israel Station in Münster im Franz-
Marica Bodrožić – Mein weißer Frieden | |
Roman | Luchterhand 2014 | Ewart Reder 26.11.2014 |
Dieses Buch tut gut. Es gibt Bücher, die schlägt man gleich nach der ersten Bekanntschaft mit dem Gefühl auf, einen Freund zu haben. Was ist los in einem solchen Fall? Ist alles nur ein triviales Missverständnis? Findet man da lediglich die eigenen Gedanken bestätigt?
Kann sein, und bei dem allgemeinen Gedankenmangel ist auch ein solches Glück verdient. Aber es gibt noch viel mehr, an dem wir Mangel leiden. Großregionen unserer Realität kommen im Alltagsdiskurs nicht vor, werden ignoriert, was im Ergebnis heißt: geleugnet. Glücksbringer sind Bücher, die von diesen Realitäten sprechen.
Gerhard Falkner – Ignatien | |
>Elegien | starfruit 2014 | Jan Wilm 19.11.2014 |
Ein Glück, sagt die Sprache, ein Glück, dass Versprechen gesprochen, aber auch gebrochen werden. Ein Glück, aus dem Versprechen – ganz einfach – wird ein Versprecher. Denn sonst, sagt die Sprache, denn sonst, wäre ich umsonst auf der Welt, würde ich nicht gesprochen von der Alchemie dieses Dichters, wäre stumm, es gäbe mich gar nicht. Gerhard Falkners 1989 geäußertes Versprechen, keinen eigenen Gedichtband mehr zu veröffentlichen, hat sich als Versprecher gezeigt, der bald eingelöst wurde, das Versprechen ist lange gebrochen, Falkner legt weiterhin Gedichtbände vor.
Max Frisch – Aus dem Berliner Journal | |
Journal | Suhrkamp 2014 | Dietmar Jacobsen 13.10.2014 |
Nachdem es 20 Jahre lang gesperrt war, ist das Berliner Journal von Max Frisch jetzt erstmals auszugsweise zugänglich
Dass das Tagebuchschreiben zu den bevorzugten Ausdrucksformen von Max Frisch (1911–1990) gehörte, weiß man. Und herumgesprochen dürfte sich inzwischen auch haben, dass man, schlägt man eines seiner Tagebücher auf, nicht erwarten darf, auf eine Sammlung von Notizen zu stoßen, in und mit denen der Schriftsteller die alltäglichen Wechsefälle seines Lebens festhielt.
Peter Handke – Versuch über den Pilznarren | |
Suhrkamp 2013 | Sophie Sumburane 09.10.2014 |
Der österreichische Schriftsteller Peter Handke schreibt seine Werke nicht in der Hoffnung, möglichst häufig besprochen zu werden. Seine Texte finden ihre Leser nach fast 50-jähriger Karriere ohne sie zu suchen, trotzdem taucht jede seiner neuen Veröffentlichungen in den Feuilletons auf, finden sich immer neue Rezipienten für seine oft als Selbstreflexionen angelegten Texte.
Oleg Jurjew – Halbinsel Judatin | |
Roman | Jung und Jung 2014 | Christian L. Müller 16.09.2014 |
Wie lange Elke Erb wohl gebraucht hat, um dieses phantastische Buch aus dem Russischen ins Deutsche zu bringen? Allein schon für die Lektüre waren in meinem Fall mehrere Wochen nötig. Zunächst nämlich erwies sich meine gewohnte Lesegeschwindigkeit als viel zu schnell für diesen Text; es wollte und wollte kein klares Bild entstehen. Erst, als ich mein tägliches Lesepensum auf wenige Seiten reduzierte, tat sich die extreme Tiefenschärfe von Oleg Jurjews Roman vor mir auf: seine Sprache ist nichts anderes als ein poetisches Mikroskop.
Francisca Ricinski – Als käme noch jemand | |
Lyrische Prosa & Erzählcollagen | Pop-Verlag 2013 | Christoph Leisten 13.08.2014 |
Dass ein Übermaß an Saturiertheit jedwedem künstlerischen Gelingen im Wege steht, ist nicht erst seit gestern bekannt. Vor diesem Hintergrund erscheint es als geradezu überfällig, wenn die Feuilletons unserer Tage ihr Augenmerk vermehrt auf jene Autorinnen und Autoren zu richten beginnen, denen solche Saturiertheit schon aufgrund der eigenen Lebensgeschichte oftmals verwehrt ist, weil sie aus anderen Sprach- und Kulturräumen stammen und erst im Laufe ihres – nicht selten auch gesellschaftlich sehr bewegten – Lebens im deutschsprachigen Raum heimisch geworden sind.
Peter Wawerzinek – Schluckspecht | |
Roman | Galiani 2014 | Dietmar Jacobsen 22.07.2014 |
Peter Wawerzineks neuer Roman Schluckspecht ist eine Trinkerbiografie, in die der Autor viel Selbsterlebtes gepackt hat
Peter Wawerzineks Roman-Ich wächst bei seiner Tante Luci und deren Mann, Onkelonkel genannt, auf. Als nicht geplante Folge einer kurzlebigen Schauspieler-
Hans-Ulrich Treichel – Frühe Störung | |
Roman | Suhrkamp 2014 | Dietmar Jacobsen 30.06.2014 |
In Hans-Ulrich Treichels neuem Roman Frühe Störung arbeitet sich der Held an seiner Mutter ab
Dem Protagonisten seines neuen Romans Frühe Störung hat Hans-Ulrich Treichel keinen Nach-, dafür aber gleich zwei Vornamen verpasst. Franz heißt er nach dem Großvater und Walter nach dem ersten Mann der Mutter, einem Modeschmuck-
Sylvia Geist – Gordisches Paradies | |
Gedichte | Hanser Berlin 2014 | Henning Ziebritzki 2.06.2014 |
Sylvia Geist hat für ihren neuen Gedichtband einen Titel gewählt, dessen Metaphorik sich unvergeßlich ins Gedächtnis brennt: Gordisches Paradies. Der Titel kombiniert die religiöse Vorstellung des Garten Eden, in dem der Mensch, wie in einem Kunstwerk, gleichursprünglich in Übereinstimmung mit sich, mit Gott und mit dem anderen lebt, mit dem Bild der entschlossenen Geste des energisch handelnden Alexander, der die unlösbar verknoteten Seile am Wagen des Gordios mit seinem Schwert durchtrennt.
Alek Popovs – Schneeweißchen und Partisanenrot | |
Roman | Residenz Verlag 2014 | Dietmar Jacobsen 12.06.2014 |
Alek Popovs Roman Schneeweißchen und Partisanenrot persifliert die sozialistische Heldenliteratur
Medved – „der Bär“ – nennt sich der Anführer eines Partisanenhäufchens, das in den bulgarischen Wäldern den Kampf gegen den Faschismus aufgenommen hat. Man schreibt das Jahr 1943 und Bulgarien befindet sich seit knapp zwei Jahren auf der Seite der Achsenmächte. Allerdings ist der Sofioter Kurs umstritten und die Deutschen haben einige Mühe, ihre neuen Bündnispartner auf Linie zu bringen.
Sylvain Tesson – In den Wäldern Sibiriens | |
Tagebuch aus der Einsamkeit | Albrecht Knaus 2014 | Christian L. Müller 28.05.2014 |
Was würden Sie mitnehmen, wenn Sie sich für sechs Monate in eine einsame Blockhütte zurückziehen könnten? Sylvain Tesson entscheidet sich für Grundnahrungsmittel und Werkzeug sowie für viel Lektüre und viel Tabasco, bevor er sich mitten im Winter in ein Naturreservat am sibirischen Baikalsee bringen lässt. Ganz auf sich gestellt, will der gebürtige Pariser dort herausfinden, ob er „ein Innenleben hat“.
Adrian Kasnitz – Sag Bonjour aus Prinzip | |
Gedichte | Corvinus Presse 2013 | Stefen Heuer 24.05.2014 |
Aus dem Urlaub kann man die unterschiedlichsten Dinge mitbringen: Devotionalien wie Muscheln, getrocknete Seesterne und formschönes Strandgut, verwahrloste Katzen, die eine oder andere Geschlechtskrankheit, leicht modifizierte Diesel-Shirts, auf denen der Indianer ein Stirnband trägt, sowie geschmacklose Souvenirs für die bucklige Verwandtschaft.
Friederike Mayröcker – études | |
Suhrkamp 2013 | Ralf Willms 09.04.2014 |
„Es sollte sich das Wahnwitzige zeigen, auf das kommt's mir besonders an. Das war schon in ›Brütt‹ so und in meinen letzten Büchern. Es geht um den Wahnwitz der Sprache, der Leser kann einem jetzt schon leidtun.“ Dies äußerte Friederike Mayröcker 2013 vor Erscheinen ihres Buches études in einem Interview, das mit ihrer Äußerung „Ich bin ja eigentlich gegen den Tod“ übertitelt wurde. Was ist dran, an ihrer ersten Aussage, ist das Buch tatsächlich schwer zu lesen oder, wie ich kürzlich hörte – pikanterweise von einem Deutschlehrer für Oberstufe –, gar „im Grunde unverständlich“?
Terézia Mora | Das Ungeheuer | |
Roman | Luchterhand 2013 | Ewart Reder 04.04.2014 |
Man soll ja einen Roman nicht wegen seines Themas lesen. Das beleidigt ihn, falls er was taugt. Aber jede Regel (falls sie was taugt) hat ihre Ausnahme. Terézia Moras Roman „Das Ungeheuer“ habe ich wegen seines Themas gelesen: Depression. Ich finde es mutig, darüber zu sprechen. Ausführlich. Schlimm ist manche Depression vor allem, weil kein Mitmensch sie wahrhaben will oder gar als eine besondere Herausforderung anerkennt.
Rüdiger Görner – Klam | |
Roman | Sonderzahl 2013 | Christian Lorenz Müller 01.04.2014 |
Wer Sybille Lewitscharoffs Dresdner Rede ganz gelesen hat, wird vielleicht bemerkt haben, dass es ihr nicht wirklich darum geht, moderne medizinische Reproduktionsmethoden in die Nähe jener nationalsozialistischen Einrichtungen zu rücken, in denen für rassisch reinen Nachwuchs gesorgt werden sollte.
Emrah Serbes – junge verlierer | |
Erzählungen | Binooki 2014 | Gerrit Wustmann 27.03.2014 |
Kultautor – darf man solche inflationsverseuchten Labels überhaupt noch benutzen? Ja, wenn sie zutreffen, und das ist bei Emrah Serbes der Fall. Nicht erst seit er – gerade erst von Ankara nach Istanbul gezogen – im Sommer 2013 aktiv bei den Gezi-
Walter Klier – Leutnant Pepi zieht in den Krieg | |
Roman | Limbus 2014 | Gabriele Weingartner 21.03.2014 |
Josef Prochaska, 1914 ausgezogen in den später so genannten Ersten Weltkrieg und 1918 gesund, wenngleich nicht unverwundet, heimgekehrt, war der Großvater des österreichischen Autors Walter Klier. Seine Tagebücher und Feldpostbriefe stehen im Zentrum von Kliers Roman „Leutnant Pepi zieht in den Krieg“, ein Titel, dessen fröhliche Harmlosigkeit nur über die ersten Monate nach der Einberufung des jungen Offiziers etwas aussagt.
Enno Stahl – Diskurspogo (Dialog) | |
Über Literatur und Gesellschaft | Verbrecher Verlag 2013 | Dominik Irtenkauf 11.03.2014 |
Enno Stahl im Mail-Dialog mit Dominik Irtenkauf
2013 veröffentlicht Enno Stahl im Verbrecher Verlag sein Buch Diskurspogo. Über Literatur und Gesellschaft, in dem er in verschiedenen Kapiteln der Frage des Sozialen in zeitgenössischer Literatur nachgeht. Tiefgreifende Veränderungen des sozialen Rückhalts in der bundesdeutschen Gesellschaft wie die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse, eine tiefe Abhängigkeit der Politik vom Lobbyismus und von Partikularinteressen, Privatisierung von Sozialsystemen und ungezügelter Konsumismus werden laut Stahls Analyse nur marginal in zeitgenössischer Literatur thematisch aufgegriffen.In mehreren E-Mails wird versucht, an die Positionen des Buchs von Enno Stahl anzuknüpfen, den Horizont aber auch weiter zu spannen.
Sven Regener – Magical Mystery | |
Roman | Galiani 2013 | Dietmar Jacobsen 29.02.2014 |
In seinem neuen Roman Magical Mystery nimmt uns Sven Regener mit in die Rave-Clubs der Republik – am Steuer des Tourbusses: Karl Schmidt
Man schreibt die Mitte der neunziger Jahre. Der „DDR-Kram“ ist bereits Geschichte und ohnehin hat sich Karl Schmidt – die Hauptfigur im neuen Roman von Sven Regener – nie sonderlich für all das interessiert. Ja, schlimmer noch: In der Nacht der Maueröffnung musste sein Freund Frank Lehmann Schmidt ins Berliner Urban-
Corinna T. Sievers – Maria Rosenblatt | |
Roman | Edition Nautilus 2013 | Carola Gruber 19.02.2014 |
Wenn sich das eigene Leben dem Abgrund nähert, ist es Zeit für etwas Mascara und Puder. Für ein neues Kleid. Für einen Schnaps oder auch zwei, oder drei. Für eine Affäre. Für Sex im Swinger-Club. Und vielleicht ist jetzt auch der richtige Zeitpunkt, Beweismittel zu unterschlagen – um jemanden zu decken, gegen den man selbst ermittelt.
John Greening –To the War Poets Carol Ann Dufy (Ed.) – 1914 Poetry Remembers |
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Anthologie | Faber & Faber | Carcanet 2013 | Susanne Stephan 13.02.2014 |
Zwei englische Gedichtbände zum 1. Weltkrieg
„In Flanders fields the poppies blow / Between the crosses, row on row ...“, so beginnt eines der berühmtesten englischsprachigen Gedichte aus dem 1. Weltkrieg, das der kanadische Arzt John McCrae wohl an einem Tag, dem 3. Mai 1915, unter dem Eindruck der zweiten Flandernschlacht notiert hat. Seine Mohnblumen, Symbol des Bluts der Gefallenen, wurden zum Ursprung des „Poppy Appeals“ in Großbritannien, des alljährlich im Herbst stattfindenden Straßenverkaufs von kleinen Mohnblumen-Ansteckern zugunsten von Kriegsversehrten und Veteranen.
Andreas Maier – Die Straße | |
Roman | Suhrkamp 2013 | Dietmar Jacobsen 18.01.2014 |
Andreas Maier legt mit Die Straße den dritten Band seines literarischen Lebensprojektes vor
Seit 2010 dürfen die Leser von Andreas Maier an dessen Lebensprojekt mit dem Arbeitstitel „Ortsumgehung“ teilnehmen. Es begann mit dem Prolog über einen kauzigen Verwandten des Autors – Onkel J. (Suhrkamp 2010) –, wurde fortgeführt mit den Romanen Das Zimmer (Suhrkamp 2010) und Das Haus (Suhrkamp 2011), beide Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts spielend, und hat nun mit Die Straße die späten Siebziger erreicht und damit eine Zeit im Leben der introvertierten Hauptfigur, in der sich die Sexualität als eine zweite, dunkel-
Gerrit Wustmann – Istanbul Bootleg | |
Gedichte | binooki 2013 | Stefan Heuer 04.01.2014 |
Man kann nicht überall sein! Gleichzeitig ohnehin nicht, das ist klar, aber auch nicht hintereinander weg. Immer wird es Orte geben, an denen man gerne mal wäre, wohin einen der Weg aber irgendwie nicht führt. So war ich schon etliche Male in der Türkei, nie aber in den dortigen Metropolen; nicht in Ankara, und auch nicht in Istanbul. Einmal war ich schon so gut wie da, ein Freund hatte Karten für den Auftritt von Kraftwerk beim „Rock Istanbul“ im Juni 2005 besorgt, aber da zog ich es dann doch vor, krank zu werden und meine Karte abzutreten.
TEXT + KRITIK, Ausgabe 198 | Gerhard Falkner | |
et+k 2013 | Joshua Groß 02.01.2014 |
Wenn einem lebenden Schriftsteller eine Ausgabe von »TEXT + KRITIK« gewidmet wird, ist das so etwas wie ein wohlüberlegtes Kreditieren. Es besteht dann nämlich Konsens über die Bedeutung des Schriftstellers oder der Schriftstellerin, die eine »wissenschaftliche Analyse und kritische Auseinandersetzung« nötig machen. In letzter Zeit befanden sich unter den Auserwählten z.B. Daniel Kehlmann, Reinhard Jirgl, Rainald Goetz oder Uwe Timm.
Barbara Zeizinger – Weitwinkel nah | |
Gedichte | POP-Verlag 2013 | Gabriele Frings 28.12.2013 |
Die ganze Welt im Blick, zumindest ihre Oberfläche – im Zeitalter von google maps und google earth kein Problem mehr. Doch was befindet sich hinter der Oberfläche? Wo ist der Mensch? Welche Informationen bekommen wir über seine Verortung, sein Behaustsein?
Reinhard Jirgl – Nichts von euch auf Erden | |
Roman | Hanser 2013 | Peggy Neidel 21.12.2013 |
Jirgls Dystopie über Gier, Krieg, Unterdrückung, Leben und Tod ist stilistisch als auch inhaltlich ausufernd. Der Autor changiert blitzschnell zwischen Geschichte, Realität, einer möglichen Zukunft (Terraforming auf dem Mars erforscht bereits die NASA) und düsterer Endzeitvision, durchzogen von zahlreichen Bibelzitaten und philosophischen Überlegungen.
A. J. Weigoni – Dichterloh | |
Gedichte | Lyrikedition 2005 | Ulrich Bergmann 13.12.2013 |
Liebevolle Bemerkungen zu den „Dichterloh“-Gedichten von A. J. Weigoni
Lieber Magister Tvitteraturae Hagedorn, berichten Sie Weigoni, Ihrem quasi Alter Ego, ich habe das Kompositum in vier Akten gelesen, mich durchgeflœzt durch die schwierigen Wœrter seines Gedichtbands DICHTERLOH, wie es meinem Namen geziemt, und gleich beim hors d'œvre Filetstuecke zu Tage gefœrdert: Schon das Motto von Orson Welles gefællt mir – wehtuende und befreiende Wahrheit. Das „Start-Up“ (p. 7) verspricht viel, und mehr als das wird eingehalten.
Daniel Kehlmann – F | |
Roman | Rowohlt 2013 | Dietmar Jacobsen 09.12.2013 |
Geschickt vermischt Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman F die Lebensgeschichten dreier Brüder zu einem Panorama unserer Zeit
Es weht ein Hauch von Mario und der Zauberer durch das erste Kapitel von Daniel Kehlmanns neuem Roman F. Der „große Lindemann“ ist in der Stadt. Man schreibt das Jahr 1984 und Arthur Friedland, ein Schriftsteller ohne Ehrgeiz und Verlag, nimmt seine drei Söhne – Martin, den Ältesten aus erster Ehe, und die Zwillinge Iwan und Eric – mit in die Nachmittagsvorstellung des Hypnotiseurs, der auf Plakaten verspricht, seinen Zuschauern ihre Träume fürchten zu lehren.
Natan Zach – Verlorener Kontinent | |
Gedichte | Suhrkamp 2013 | Antonín Dick 22.11.2013 |
»Turgenjew schläft.« Ließe man diesen banalen Satz beim Nachmittagstee des Dichters Natan Zach in ein zufälliges Schweigen fallen, könnte es geschehen, daß schon am Abend ein sehr bitterer Turgenjew-Song im Radio ertönt. Der Israeli ist Gelegenheitsdichter und präsentiert Alltagserlebnisse, gewichtige wie unscheinbare, die zumeist einer Logik folgen: Desillusionierung.
Jayne-Ann Igel – Umtriebe | |
Gutleut Verlag 2013 | Róža Domašcyna 22.11.2013 |
Dieser Band ist mit geschärften Sinnen geschrieben. Es ist Prosa, lyrische Prosa, auch schon mal mit Binnenreimen im dichten, verdichteten Text. Tagebucheintragungen, wie es Jayne-Ann Igel im Nachspruch sagt. In der Tat scheint einiges an Material dem Tagebuch entnommen, und das findet sich nicht nur in den politischen Gedichten. Die Dichterin erzählt Geschichten, die vom Glück handeln, und vom Schmerz.
Theo Breuer – Das gewonnene Alphabet | |
Gedichte | Pop Verlag 2012 | Christoph Leisten 14.11.2013 |
Die virulente Lyriklandschaft im deutschsprachigen Raum krankt mitunter daran, dass sie Dichter hervorbringt, die sich für Universalgenies halten. Statt sich mit der Gewissheit zufriedenzugeben, eine Stimme lyrischen Sprechens zu repräsentieren, diese zu kultivieren, weiterzuentwickeln, sie zu pflegen und daran zu arbeiten, scheinen solche Dichter mit dem Irrglauben zu liebäugeln, ihrer persönlichen Poesie könne es gelingen, die Sprache neu zu erfinden.
Michael Buselmeier – Der Untergang von Heidelberg | |
Roman | Das Wunderhorn 2013 | Michael Braun 25.10.2013 |
Die Wiederbegegnung mit einem einst geliebten Buch kann ernüchternd sein, desillusionierend, ein peinliches Erlebnis ästhetischer Entzauberung, das man lieber vermieden hätte. Das ganze Setting des Buches wirkt dann plötzlich verstaubt, lächerlich kleingeistig und obsolet und nichts mehr erinnert an die ästhetische Erschütterung, die einst die Lektüre ausgelöst hatte.
Lyrilk von Seyed Ali Salehi, Shams Langrudi, Vahe Armen | |
Gedichte | Sujet Verlag 2013 | Gerrit Wustmann 22.10.2013 |
Neue Übersetzungen iranischer Lyrik
Noch immer gibt es in der iranischen Lyrik viel zu entdecken, zumal nur wenig ins Deutsche übersetzt wird. Der Bremer Sujet Verlag, der eigentlich auf Literatur von Schriftstellern im Exil spezialisiert ist, hat pünktlich zur Frankfurter Buchmesse die ersten drei Bände der Edition Moderne Iranische Lyrik veröffentlicht, um der iranischen Gegenwartslyrik in deutscher Sprache ein Forum zu bieten.
Hendrik Rost – Licht für andere Augen | |
Gedichte | Wallstein 2013 | Sylvia Geist 20.10.2013 |
In Zusammenhang mit Hendrik Rosts Dichtung ist oft von Kontemplation gesprochen worden – ein Prädikat, das gut angewendet war auf Texte, die sich durch die Haltung des ruhigen, distanzierten Anschauens und durch einen genauen Blick auszeichneten. In den neuen Gedichten findet man Rosts unverkennbar klaren Ton wieder, immer noch kommt er ohne den Reim aus, die Verse atmen ein freies, die philosophischen, literatur- oder naturwissenschaftlich angereicherten Denkanordnungen abfederndes Parlando.
Tina Stroheker– Luftpost für eine Stelzengängerin | |
Notate | Klöpfer & Meyer 2013 | Christian L. Müller 10.10.2013 |
Was Stroheker Notate nennt, wirkt wie ein Film, der aus mal chronologisch geordneten, mal aus rückblendenhaft wirkenden Standbildern besteht. Mit einer Tiefenschärfe, zu der wohl nur Lyriker fähig sind, zoomt die Dichterin sprachlich an einzelne Szenen und Begebenheiten heran: Ein Wiedersehen am Bahnhof; Geschenke, die als „Vorspiel zum Vorspiel“ getauscht werden; ein Ausflug ins Grüne.
Sascha Reh – Gibraltar | |
Roman | Schöffling & Co. 2013 | Dietmar Jacobsen 28.09.2013 |
In seinem zweiten Roman Gibraltar zieht Sascha Reh alle Register, um unserer kriselnden Gegenwart den Spiegel vorzuhalten
So viele ernsthafte Auseinandersetzungen mit der die Welt seit einem Jahrfünft beutelnden Banken- und Finanzkrise gibt es gar nicht in der deutschen Gegenwartsliteratur. Wenn ich es richtig sehe, war Bodo Kirchhoff der Erste, der sich des Desasters annahm. Von dessen Roman Erinnerungen an meinen Porsche (Hoffmann und Campe 2009) spricht allerdings inzwischen niemand mehr – und das zurecht.
Hans Blumenberg – Sprachsituation und immanente Poetik | |
Aufsätze | Reclam 1986/2012 | Franz Hofner 25.09.2013 |
Lyrischer Sprachgebrauch, so Blumenberg, entspringt dem Wunsch nach Aufsprengen der Funktionsrichtung moderner Sprache, einem Verweigern gegen die auf Eindeutigkeit gerichtete Tendenz des alltäglichen Sprachgebrauchs. Poesie ist nicht ein Restbestand aus »im säkularen Verfall« abgelegten Sprachelementen, wie es zuletzt Schattner in seiner ›Geistersprache‹ (Hanser, 2012) glauben machen wollte.
Florian Voß – In Flip-Flops nach Armageddon | |
Gedichte | Verlagshaus J. Frank 2013 | Jan Kuhlbrodt 21.09.2013 |
Mit In Flip Flops nach Armageddon legt Florian Voß also seinen neuen Gedichtband vor, den zweiten im Verlagshaus J. Frank. Und dieser Band ist bevölkert mit allem, was die zeitgenössische, medial gefilterte Hölle bevölkern könnte. Mir sind einige Verse aus Voss' in der Lyrikedition erschienen Bänden noch im Kopf, Verse wie diese ...
Ljudmila Ulitzkaja – Das grüne Zelt | |
Roman | Hanser 2012 | Dietmar Jacobsen 08.08.2013 |
Mit Das grüne Zelt legt Ljudmila Ulitzkaja einen opulenten Gesellschaftsroman vor, der ein halbes Jahrhundert Revue passieren lässt
Drei Männer – Ilja, Sanja und Micha – und drei Frauen – Olga, Galja und Tamara – spielen die Hauptrollen in Ljudmila Ulitzkajas großem Gesellschaftsroman Das grüne Zelt. Der Zeitraum, über den sich die Handlung erstreckt, nimmt fast ein halbes Jahrhundert ein. Stalins Tod im März 1953 bildet den Auftakt des Buches.
Carl-Christian Elze – ich lebe in einem wasserturm am meer was albern ist | |
Gedichte | Luxbooks 2013 | xArmin Steigenberger 01.08.2013 |
Als ich Carl-Christian Elzes neuen Gedichtband, bei luxbooks erschienen, zum ersten Mal las, war ich schon vom furiosen Einstieg sehr angetan. Das Buch formuliert implizit eine gewisse Angstfreiheit vor Pathos, traut sich, Ich zu sagen, hat keine Scheu davor, sich persönlich zu offenbaren, macht sich dabei aber eben nicht unfreiwillig zum Kasper wie so manches Buch, dem man einen deutlichen selbsttherapeutischen Impetus anmerkt. Nicht so bei Elzes Wasserturm.
Carl Einstein – Bebuquin (1912) | |
Roman | Reclam | Ulrich Bergmann 27.07.2013 |
Dieser ›Roman‹ auf 48 Reclam-Seiten liest sich teils wie ein Supplement von Nietzsches „Zarathustra“, gewendet ins Absurde, Expressive, Expressionistische. Teils philosophierende Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen, Seinsgrübelei mit metaphysischen Versuchsballons, teils Axiome und Gedankenspiele in Münchhausenscher Manier – und das alles ohne sinnvolle Handlung.
Olga Martynova – Mörikes Schlüsselbein | |
Roman | Droschl 2013 | Peggy Neidel 14.07.2013 |
Ernsthaft und verspielt: Olga Martynovas Roman „Mörikes Schlüsselbein“
In seinem Essay „Über das Marionettentheater“ schreibt Kleist, wolle der Tänzer überzeugend sein, müsse er einen gewissen Punkt im Körper finden und jenem von dort ausgehenden Impuls folgen. Dann würde alles ganz leicht, der Künstler schwebe anmutig über die Bühne. Die russisch-
Serhij Zhadan – Die Erfindung des Jazz im Donbas | |
Roman | Suhrkamp, 2013 | Dietmar Jacobsen 29.06.2013 |
In Serhij Zhadans Roman Die Erfindung des Jazz im Donbass geht es um mehr als eine Tankstelle in der ostukrainischen Steppe
ermann heißt der Held in Serhij Zhadans neuem Roman Die Erfindung des Jazz im Donbass. Und Hermann – oder Harry, wie ihn seine Freunde, ein bunter Trupp von merkwürdigen Zeitgenossen, nennen – hat ein Problem mit seinem Bruder Juri. Der ist nämlich klammheimlich Richtung Westeuropa verschwunden und hat sein „Business“, eine Tankstelle in den Weiten der Ostukraine, zusammen mit zwei Angestellten sowie der Buchhalterin Olga einfach zurückgelassen.weiterlesen ►
Weitere Kritik zu Serhij Zhadan: Hymne der demokratischen Jugend ►
Saskia Hennig von Lange – Alles, was draußen ist | |
Novelle | Jung und Jung, 2013 | Carolin Callies 31.05.2013 |
Ein überfülltes Anatomiemuseum und seine unheimlichen Präparate sind die Hauptfiguren der Novelle „Alles, was draußen ist“ von Saskia Hennig von Lange. Dieser Ort als Sammlung von toten Menschenteilen taugt für das absolute memento mori und der Leser legt nach der Lektüre schon mal die Sanduhr zurecht.
Kurt Drawert – Schreiben. Vom Leben der Texte | |
C. H. Beck, 2012 | Andreas Heidtmann 20.05.2013 |
Es gilt inzwischen als Fauxpas, sich zur Literatur in einer Weise zu äußern, die über das Niveau einer Talk-Show hinausreicht. Nachdenklichkeit im Facebookzeitalter provoziert Befremden. Vielleicht war die Literatur immer schon befremdend, doch im heutigen Medienvarietee wird sie, sofern nicht gänzlich ignoriert, zur Zumutung. Kurt Drawert und sein neues Buch „Schreiben. Vom Leben der Texte“ sind in diesem Sinne Zumutung, zumal der Autor sich auch auf Podien differenziert äußert und die Präzision der Plauderei vorzieht.
Alexander Kluge – Das fünfte Buch | |
Roman | Suhrkamp 2012 | Michael Buselmeier 14.05.2013 |
Der präzise Beobachter, Sammler und Denker Alexander Kluge schreibt keine Romane. Er trägt kleine Geschichten zusammen, die er auf der Rückseite der großen Geschichte vorfindet, Bruchstücke, die er ausgräbt und zum Sprechen bringt. Oft sind es nur Momentaufnahmen, Zeitungsmeldungen oder ironische Kommentare, lakonisch, aber nicht kühl, eher heiter und mit einer funkelnden Pointe aufs Papier gesetzt.
Hannes Stein – Der Komet | |
Roman | Galiani 2013 | Christian L. Müller 05.05.2013 |
Wie Europa aussehen würde, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten, wissen wir spätestens seit Robert Harris' Bestseller Vaterland: In diesem Buch hat Hitler den Kontinent auf eine Art und Weise umgestaltetet, die uns wohlige Schauder des Schreckens über den Rücken jagt: Bequem im Lesesessel ausgestreckt, glauben wir glücklich davongekommen zu sein, weil die Geschichte in der Realität einen anderen, besseren Verlauf genommen hat.
Dominik Dombrowski – Finissage | |
Gedichte | parasitenpresse 2013 | Mario Osterland 24.04.2013 |
Das Wort „Finissage“ ist im Französischen nicht gebräuchlich. Stattdessen sagt man lieber „Dévernissage“, was nach einem missglückten, bisweilen lächerlichen Euphemismus klingt; wie etwa „Mindereinnahmen“ statt „Verluste“. Dominik Dombrowski sind solche Ausweichmanöver fremd. Er nennt die Dinge beim Namen, um die es in seinem Gedichtband geht. Es sind die letzten Dinge, die einem im Leben erwarten: Alter, Krankheit und Tod – aber auch das Erinnern, das Versöhnen, das Vergessen.
Robert Wohlleben (Hrg.) – Antreten zum Dichten! | |
Gedichte | Reinecke und Voß, 2013 | Dirk Uwe Hansen 01.05.2013 |
Eine Dachkammer in Berlin, Pariser Straße, Hinterhaus an einem späten Abend im späten 19. Jahrhundert. 6 Männer im Alter von 20-40 sitzen auf Klappstühlen, einer von ihnen hat einen Bleistift in der Hand, die anderen Hefte, Blätter, Geschriebenes. Die Zigarren qualmen.
Das „Regiment Sassenbach“, so benannt nach dem Verleger, der die Werke der hier Versammelten drucken ließ, ist in der Wohnung des Dichters Arno Holz angetreten. Angetreten zum Dichten.
Viktor Pelewin – Tolstois Albtraum | |
Roman | Luchterhand 2013 | Jens Kassner 19.04.2013 |
Leichenfledderei sei das gegenwärtig am höchsten geachtete Genre, weil es als direktes Pendant zur Erdölförderung angesehen werden könne. So erklärt Ariel Edmundowitsch Brahman seine Arbeitsweise und ergänzt: „Früher dachte man, bloß die Tschekisten hätten die Dinosaurier beerbt. Aber dann hat die kulturelle Öffentlichkeit auch was gefunden, wo sie bohren kann. Also werden jetzt sämtliche lieben Verstorbenen eingespannt.“
Annika Scheffel – Bevor alles verschwindet | |
Roman | Suhrkamp 2013 | Dietmar Jacobsen 18.04.2013 |
In Annika Scheffels zweitem Roman Bevor alles verschwindet wehrt sich ein kleiner Ort gegen den Untergang
Ein Dorf soll verschwinden. Der Ort, in dem Jula und Jules, Mona und Marie, die alte Greta und Martin Wacholder, der Bürgermeister, ihr ganzes Leben verbracht haben, ist einer Freizeitoase im Weg. Einem Erholungsgebiet rund um einen Stausee, der mit seinen Wassermassen bald alles bedecken wird: die örtliche Kneipe, „Tore“ genannt, das Haus des Bürgermeisters mit seiner weißen Aufgangstreppe samt den Löwenskulpturen, den Friedhof und die kleine Kapelle darin.
Jürgen Buchmann – Lüneburger Trilogie | |
Trilogie | Freiraum Verlag 2013 | Jan Kuhlbrodt 13.04.2013 |
Nun legte also im Januar 2013 der Greifswalder Verlag Freiraum mit der Lüneburger Trilogie ein weiteres Buch mit Texten Buchmanns vor. Wie schon die anderen Bücher des Autors keine dicke Schwarte sondern eine kleine Publikation von knapp einhundert Seiten. Sie enthält die Teile Einschiffung nach Cythera, Phantastische Topografie der Hansestadt Lüneburg und Logbuch vom Meer der Finsternis.
Michael Köhlmeier – Die Abenteuer des Joel Spazierer | |
Roman | Hanser Verlag 2013 | Dietmar Jacobsen 26.03.2013 |
In seinem neuen großen Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer erzählt Michael Köhlmeier die letzten 60 Jahre als Schelmenroman
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Weitere Rezensionen zu Michael Köhlmeier: Michael Köhlmeier: Madalyn (Dietmar Jacobsen) ►
Michael Köhlmeier: Idylle mit ertrinkendem Hund (Dietmar Jacobsen) ►
Jonas Lüscher – Frühling der Barbaren | |
Novelle | C.H. Beck 2013 | Christian L. Müller 12.03.2013 |
Jonas Lüschers beeindruckende Debütnovelle
Mögen auch anderswo die Börsenkurse abstürzen und ganze Volkswirtschaften kollabieren, einen Ort gibt es auf diesem Planeten, der selbst dann noch eine Oase genannt werden kann, wenn die Welt längst wüst und leer geworden ist. Die Rede ist von der Schweiz, die der 1976 geborene Autor dieses bemerkenswerten Debüts zur Heimat hat. Böse Zungen behaupten allerdings, dass die Einwohner der Eidgenossenschaft sich in politischen Zweifelsfällen stets auf ihre immerwährende Neutralität berufen.
Franz Hessel – Pariser Romanze | |
Papiere eines Verschollenen | Lilienfeld Verlag 2012 | Jan Kuhlbrodt 23.02.2013 |
Dieser Tage jährt sich die Machtergreifung durch die NSDAP in Deutschland zum 80. Mal, Hitlers Ernennung zum Reichskanzler durch Hindenburg und die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch den Deutschen Reichstag. Ein Prozess strebte seiner Vollendung zu, der in der Pervertierung des Nationalstaatsgedankens im deutschen Kaiserreich schon angelegt war.
Techno der Jaguare – Manana Tandaschwili, Jost Gippert (Hg.) | |
Erzählerinnen aus Georgien | FVA 2013 | Dietmar Jacobsen 22.02.2013 |
Sieben georgische Gegenwartsautorinnen brechen auf in eine neue Welt
Als die junge Tino in Maka Mikeladzes Erzählung Eine mit Buch und ihre erlesene Leserschaft eines Morgens aufwacht, ist ihr ein Buch aus dem Kopf gewachsen: „Sie zog daran. Es saß fest ... Sie kämmte die Blätter nach links. Mehr Blätter auf der einen Seite, auf der anderen weniger. Das stand ihr gut.“ Als „Neuausgabe ihrer selbst“ macht sie sich auf den Weg zu ihren täglichen Geschäften – und ist natürlich gespannt darauf, was drinsteht in „ihrem“ Buch.
Sylvia Plath – Die Glasglocke | |
Roman | Suhrkamp 2013 | Michael Braun 11.02.2013 |
Als „Lady Lazarus“ hat sich diese Dichterin porträtiert, als eine im Unglück „lächelnde Frau“, die in die Hölle des Schmerzes geht, ohne jedoch – wie der biblische Lazarus – wiedererweckt zu werden zu einem neuen, befreiten Leben. Sylvia Plath, die Dichterin aus Neuengland, ist seit ihrem Freitod am 11. Februar 1963 zur Ikone des Feminismus geworden, von der Nachwelt zurechtgeschminkt zur visionären Schmerzensfrau, verehrungswürdig vor allem als ein Opfer ihres berühmten Manns, des englischen Dichterkönigs Ted Hughes.
>Ein Bild von einem Gedicht – Alle Poetryletter. Julietta Fix (Hg.) | |
Gedichte / Grafik | Fixpoetry Verlag | Mario Osterland 24.01.2013 |
Der Poetryletter des Literaturportals fixpoetry.com ist im Laufe der letzten fünf Jahre zu einer kleinen Institution geworden. Alle zwei Wochen wird hier ein Gedicht grafisch aufbereitet bzw. mit einer Illustration versehen präsentiert. Nun erscheinen die hochwertig gearbeiteten Briefe erstmals in Buchform.
Markus Hallinger – Das Eigene | |
Gedichte | Lyrikedition 2012 | Armin Steigenberger 21.01.2013 |
Markus Hallingers Gedichte: Erdig, unverstellt, grobschlächtig, unbehauen. Naturgewalten funkeln zwischen den Versen. Daneben auch andere Töne. Lakonisch und ohne Aufheben kommen die Gedichte zum Punkt. Diese Dichtung ist anders. Sie ist besonders. Sie ist eigen.
weiterlesen ►
Siehe auch: Markus Hallinger – Das Eigene (Kritik von Jan Kuhlbrodt: From outer space ►
Lütfiye Güzel – Let's Go Güzel | |
Gedichte | Dialog Edition 2012 | Gerrit Wustmann 19.01.2012 |
Glaubt man den Massenmedien, dann ist Duisburg-Marxloh ein Fanal für all das, wovor Sarrazin und artverwandte Überfremdungsapokalyptiker sich fürchten, in aller Regel ohne je persönlich dort gewesen zu sein. Und da die braune Suppe Auflage bringt, wird sie in großen Kellen immer wieder ausgekippt. Ein paar Meter Luftlinie von Marxloh entfernt liegt Hamborn, Geburtsort von Lütfiye Güzel, um ihre offizielle Vita zu zitieren: „1972 als Poetin auf die Welt gekommen & so weiter“.
Poesiealbum 304 – Udo Tiffert | |
Gedichte | Märkischer Verlag 2013 | Jens Kassner 12.01.2012 |
Das Nest heißt tatsächlich Neusorge. Es liegt direkt an der Neiße, Polen ist in Sichtweite. Laut Wikipedia gibt es 154 Einwohner. Dass einer davon Udo Tiffert heißt, steht (noch) nicht in der Web-Enzyklopädie. Ist aber so. Bisher wird als bedeutende Persönlichkeit nur der 1799 geborene Historienmaler Adolf Zimmermann angegeben
>Burkhard Spinnen – Nevena | |
Roman | Schöfling & Co., 2012 | Dietmar Jacobsen 05.01.2012 |
In seinem neuen Roman Nevena erzählt Burkhard Spinnen von der Liebe in den Zeiten von Cyberspace und sozialen Netzen
Eigentlich ist Patrick Ehling ein ziemlich normaler Junge. Und zu normalen jungen Männern um die 16/17 Jahre gehört heutzutage offenbar, dass sie einen Teil ihrer Zeit in Welten verbringen, die ihnen Abenteuer bieten, welche ihre durchrationalisierte Lebensumgebung schon lange nicht mehr im Angebot hat.
Werner Dürrson – Denkmal fürs Wasser | |
Gedichte | Klöpfer & Mayer, 2012 | Christian L. Müller 04.01.2012 |
Das Tiefseeblau auf dem Schutzumschlag dieses Buches ist in Bewegung, feine Strudellinien ziehen den Blick des Betrachters auf ein Zentrum hin, und doch gibt es für das Wasser nichts Zentrales, es ist ein Stoff, der trotz seiner Fügsamkeit keine Grenzen und schon gar keine Hierarchien kennt. Sein Wesen ist der Wandel, der ständige Wechsel von einem Aggregatszustand in den anderen.
Axel Kutsch (Hrsg.) – Versnetze_fünf | |
Gedichte, Anthologie | Landpresse 2012 | Theo Breuer 31.12.2012 |
Vom Lesen in Versnetze_fünf
Unbeugsam scheint der Überlesenswille des urigen Lyrikvölkchens im bildwild zerklüfteten deutschen Sprachraum angesichts der weiterhin ansteigenden Buchflut zu sein, in der sich Millionen Versfüße tummeln. Ach Gott, schon wieder Gedichte, hör ich Peer Quer, den feinen kleinen Freund, Mrs Columbo ins Öhrchen flüstern, als er Versnetze_fünf auf dem Tisch liegen sieht.
Markus Hallinger – Das Eigene | |
Gedichte | Lyrikedition 2012 | Jan Kuhlbrodt 17.12.2012 |
Natürlich spielt der Titel des Gedichtbandes von Markus Hallinger »Das Eigene« darauf an, dass das, was jemand sein Eigenes nennt, den anderen das Fremde ist. Und aus dieser Vorstellung speist sich auch mein Interesse an diesem Band, denn er führt mich in Gegenden, die ich nur vom Hörensagen kenne.
Tom Schulz – Innere Musik | |
Gedichte | Berlin Verlag 2012 | Peggy Neidel 13.12.2012 |
Der Lyriker Tom Schulz lauscht seiner inneren Musik, umkreist transzendente Begriffsklopper und trifft zwischendurch abgeranzte Freundinnen auf dem Raucherbalkon
Wie man überlebt. In einer kalten, prosaischen Zeit, in der man „den Schauer in den Unterführungen“ spürt und wie sich „die Welt um das Herzzentrum schließt“. In seinem neuen Gedichtband Innere Musik ölt Tom Schulz den „metallisch klappernden Briefkasten“ mit der „Süße des Nabels“, beschäftigt sich thematisch vorwiegend mit Gedichten des Barock, auch der Romantik.
Stephan Thome – Fliehkräfte | |
Roman | Suhrkamp 2012 | Dietmar Jacobsen 11.12.2012 |
Stephan Thomes neuer Roman Fliehkräfte ist Roadmovie und Gesellschaftsanalyse zugleich
Hartmut Hainbach heißt der Protagonist in Stephan Thomes neuem, nach Grenzgang (Suhrkamp 2009) zweitem Roman Fliehkräfte. Der Mann ist Philosophieprofessor, Spezialist in Sachen Sprechakttheorie, kennt sich im Werk von John Searle freilich deutlich besser aus als im eigenen Leben.
Theo Breuer – Das gewonnene Alphabet | |
Gedichte | Pop Verlag 2012 | Christine Kappe 29.11.2012 |
Wortkräuter zur Gesundung in Theo Breuers Gedichtbuch Das gewonnene Alphabet
Das gewonnene Alphabet von Theo Breuer unterhält nicht nur, und damit meine ich: breitet sein Wortnetz tragfähig unter mir aus, sondern verwirbelt mir zugleich die Sinne: Auf dem Bett liegend, habe ich diesen Rhythmus im Ohr, von welchem Gedicht mag er herkommen – di richi dir sprichi ist dis gidicht?
Ewart Reder – Die Liebeslektion | |
Roman | Horlemann 2012 | Gerrit Pithan 27.11.2012 |
Es handelt sich um einen Roman, der in einer hessischen Gesamtschule spielt. Bei dieser ersten Erkenntnis möchte man erschrocken innehalten, denn man erwartet und befürchtet entweder eine trübselige Sozialreportage im Gewand einer Erzählung oder sentimental verklärte Erinnerungen an die Schulzeit.
Arthur Missa – Formenverfu(e)ger | |
Stücke aus Prosa | Verlegenheits-Verlag / ed.cetera 2008 / 2012 | Mario Osterland 23.11.2012 |
„Es handelt sich um das Skizzenbuch eines werdenden Autors“, heißt es auf den Seiten des jungen Leipziger Verlags ed.cetera zu Formenverfu(e)ger. Angesichts dessen möchte man dem werdenden Autor Arthur Missa drei Dinge wünschen: 1. Das Erreichen seiner Ziele. 2. Die Überwindung dieses skizzenhaften Debuts. 3. Gelassenheit hinsichtlich des Literaturbetriebs. Aber der Reihe nach, von hinten nach vorn.
Michael G. Fritz – Adriana läßt grüßen | |
Roman | Mitteldeutscher Verlag 2012 | Dietmar Jacobsen 19.11.2012 |
In Michael G. Fritz' neuem Roman Adriana läßt grüßen sucht einer das große Glück und findet sich selbst
Es beginnt mit einer Verwechslung. Boris Helmer, per Bahn unterwegs von Köln nach Berlin, hält plötzlich einen Koffer in der Hand, der ihm gar nicht gehört. Aber weil er fast nichts dazutun musste, damit das Gepäckstück in seinen Besitz überwechselte, nimmt er das unverhoffte Abenteuer als einen Wink des Schicksals und macht sich mit der fremden Habe auf den Heimweg. Um alsbald festzustellen, dass der Koffer nur Fotografien enthält, die einen säuberlich in Alben einsortiert, die anderen lose durcheinander. Und alle Fotos zeigen ein und dieselbe Frau: Adriana.
Alfred Gelbmann – Trümmerbruch | |
Roman | Kyrene 2012 | Christian Teissl 16.11.2012 |
„Seht, wie die Hände in Freiheit leben, ohne an ihre Funktion zu denken, ohne sie mit einem Geheimnis zu belasten – seht, wie sie ruhen mit leicht gebogenen Fingern, als ob sie sich irgendeinem Traum überließen, oder betrachtet sie in der eleganten Lebhaftigkeit der reinen Gebärden ...“, heißt es im „Lob der Hand“ des französischen Kunsthistorikers Henri Focillon.
Robert Schleif – Völkerschlacht bei Leipzig 1813 | |
Skatspiel | Verlag E.A. Seemann 2012 | Mario Osterland 14.11.2012 |
In Zeiten, in denen sich der klassische Buchmarkt im wirtschaftlichen Sinkflug befindet, versuchen Verlage immer häufiger ihr Programm durch so genannte Nonbooks für ein breites Publikum attraktiv zu halten. Von den teilweise grotesken Auswüchsen dieser Entwicklung kann man sich jährlich auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt überzeugen.
Adrian Kasnitz – Wodka und Oliven | |
Roman | Ch. Schroer 2012 | Mario Osterland 11.11.2012 |
Nicht umsonst Was bleibt von den Orten der Erinnerungen, wenn sie nicht mehr existieren? Es bleibt die Sprache und das Erzählen, das die Erinnerungen aufrecht erhält. Zugegeben, diese Erkenntnis ist nicht gerade eine neue, an Aktualität verliert sie aber kaum. In Zeiten, in denen der Familienroman Konjunktur hat, erst recht nicht. Zwar ist das Prosadebut von Adrian Kasnitz sicher keine klassische Familiensaga, doch im Zentrum von Wodka und Oliven stehen die Lebensläufe zweier Familien und das Erzählen ihrer Schicksale durch den Protagonisten Moritz.
40 % Paradies – Gedichte des Lyrikkollektivs G13 | |
Anthologie | Luxbooks 2012 | Jan Kuhlbrodt 09.11.2012 |
Nicht umsonst Sicher habe ich Vorlieben, aber die stelle ich erst einmal hinten an, und wenn im Verlaufe dieser Besprechung ein Text zitiert wird oder ein Name fällt, so steht er im Grunde für die Einzigartigkeit aller im Buch vorkommender Texte und Autoren. Außerdem empfehle ich allen, sich den Spaß zu gönnen und dieses Buch zu lesen, auch jenen die dafür ihre Folianten mit Inhalten gediegener Klassizität für einen Moment aus der Hand legen müssen. Machen sie das, wohnen sie einer Eruption bei, die nicht so häufig vorkommt, und zum Glück hier dokumentiert wurde, und sie erhaschen einen Fetzen Utopie!
Hartmut Abendschein – Dranmor | |
Erzählung | Athena-Verlag 2012 | Peggy Neidel 02.11.2012 |
Kunstvoll erzählt Hartmut Abendscheins „Dranmor“ vom Schriftstellerwahnsinn
Nicht umsonst beginnt die Erzählung mit einem Zitat aus Alice im Wunderland. Es geht um Fieberträume, gespaltene Persönlichkeiten, Pilze in Wänden und sprechende Schnapsfläschchen. Verrückt. Oder doch nur der ganz normale Wahnsinn im Leben eines Schriftstellers. Der Ich-Erzähler ohne Namen wohnt in der Schweiz. Sein Hausmeisterjob erfüllt ihn wenig, aber man schlägt sich so durch. Nachdem er wiederholt auf einen lästigen Pilzschwamm im Gebäude hinwies, wird ihm die Stelle gekündigt, ein Jugendfreund taucht auf und der Name eines vergessenen Berner Dichters fällt.
Anke Feuchtenberger – Die Spaziergängerin | |
Graphic Novel | Reprodukt 2012 | Mario OSterland 30.10.2012 |
Der Flaneur galt und gilt immer noch als eine der Symbolfiguren der klassischen Moderne. Aufreizend langsam bewegte er sich durch die Passagen der modernen Großstädte, las in ihnen wie in einem offenen Buch und ließ alle anderen um sich herum wissen, dass er sich dafür alle Zeit der Welt lassen kann.
Kathrin Passig, Sascha Lobo – Internet. Segen oder Fluch | |
Sachbuch | Rowohlt Berlin 2012 | Andreas Heidtmann 26.10.2012 |
Kathrin Passig und Sascha Lobo schreiben über das Netz
Möchte man sich fundiert über das Internet und dessen Entwicklung informieren, muss man – so überraschend es klingt – zum Buch greifen. Was im Netz selbst über das Medium zu lesen ist, hat in der Regel den Charakter einer News à la Macht-das-Internet-Dumm?, dazu viel Bruchstückhaftes aus Blogs oder schlecht Recherchiertes aus der Tastatur von Hobbyredakteuren. Halbwegs Intelligentes findet man allenfalls als Zitat aus Printmedien, als trauten die Internettheoretiker ihrem eigenen Medium nicht so recht.
Karen Duve – Grrrimm (Grimm) | |
Galiani Berlin 2012 | Peggy Neidel 23.10.2012 |
Nicht immer märchenhaft: Karen Duve schreibt die Grimms neu
Irgendwie sind alle verdorben. Der Vater der „Froschbraut“ ist ein Gangster, der mit seiner Tochter im Luxushaus lebt und einen autoritären Erziehungsstil pflegt. Der Zwerg ist ein raffgieriger und hinterhältiger Kleinwüchsiger, der in „Zwergenidyll“ seine Körpergröße mit ausgeprägtem Dominanzverhalten kompensiert. Rotkäppchens Familie in „Grrrimm“ ist gewaltbereit und asozial.
Das halbvolle Glas – Erich Loest Lesebuch | |
Lesebuch | Plöttner 2012 | Richard Albrecht 14.10.2012 |
Subjektkritische Annäherungen an das Erich-Loest-Lesebuch
Aufs Leipziger Erich-Loest-Lesebuch war ich wochenlang gespannt. Nun liegt's nach Wochen endlich (auch mir hier im deutsch-
Dato Barbakadse – Wesentliche Züge | |
Gedichte | Mischwesen Autorenverlag 2011 | Matthias Fallenstein 12.10.2012 |
Seit mehreren Jahren versucht der georgische Dichter Dato Barbakadse auch im deutschsprachigen Raum Gehör zu finden. Seine Beziehung zur deutschen Sprache und Literatur ist mehrfach geknüpft: er hat an der Westfälischen Universität in Münster studiert, und er hat das Verdienst, eine großange.legte Reihe mit Übersetzungen deutschsprachiger Lyrik ins Georgische geplant und zum Teil schon verwirklicht zu haben ...
Poesie Agenda 2013 | |
Anthologie/Kalender | orte-Verlag 2013 | Andreas Noga 10.10.2012 |
Als ich dreizehn war, arbeitete der Schweizer Schriftsteller und Verleger Werner Bucher zusammen mit Jürgen Stelling an der ersten Ausgabe des Lyrik-Taschenkalenders „Poesie Agenda“. Vor wenigen Tagen ist für das Jahr 2013 die inzwischen 30. Ausgabe erschienen. Heute kümmern sich Werner Bucher, Jolanda Fäh und Virgilio Masciadri als hauptverantwortliche Redakteure um die Zusammenstellung des Kalenders, für den sie 180 Gedichte sowie zahlreiche Cartoons, Fotos und Zeitungsschnipsel zusammengetragen haben.
Constantin Göttfert – Satus Katze | |
Roman | CH Beck 2012 | Lorenz Müller 04.10.2012 |
Constantin Göttferts Debütroman
Waren Sie schon einmal in Finnland? Wenn nicht, haben Sie vielleicht ähnlich klischeebehaftete Vorstellungen vom europäischen Norden wie der Rezensent: Ob der vielen Wälder und Seen leben die Menschen dort oben sehr gesund und naturverbunden; sie sammeln Pilze und Beeren, gehen Wandern oder Langlaufen und entspannen sich in der Sauna.
Sibylle Berg– Vielen Dank für das Leben | |
Roman | Hanser 2012 | Dietmar Jacobsen 02.10.2012 |
Mit Vielen Dank für das Leben hat Sibylle Berg wieder einen richtig zornigen Roman geschrieben
Na endlich! Nach dem etwas berguntypischen „Liebesroman“ Der Mann schläft (Hanser 2009) – Dem nur noch ein Happy End gefehlt hätte! – hat sich die 1962 in Weimar geborene Autorin wieder auf ihre Stärken besonnen. Und die liegen weiß Gott nicht darin, eine romantische Zweierbeziehung zu besingen, selbst wenn der männliche Part von einem Schnarchsack gespielt wird, der sich meistens in der Horizontalen aufhält und maskulines Imponiergehabe nicht zu kennen scheint.
Ragufeng – Schadt, Kathrin / Ingenlath, Christian (Hg.) | |
Anthologie | tauland-Verlag 2012 | Peter Bernholt 21.09.2012 |
Blütenlese aus zwei Jahren pussy-Salo
Seit einiger Zeit schleicht ein Kätzchen durch Berlin Schöneberg und lockt Künstler aus allen Bereichen an. Im pussy-Salon überlassen die Veranstalter Kathrin Schadt und Christian Ingenlath diesen Künstlern die Bühne. Jeder Abend steht unter einem anderen Motto. Immer mit dabei: Die Katze. Jetzt erscheint im tauland-verlag ihre erste Salon-Anthologie.
J.M. Coetzee – Die Kindheit Jesu | |
Roman | S. Fischer 2013 | Gisela Trahms 15.09.2012 |
Manche Bücher sind Lebensbegleiter, ihren Autoren möchte man gern begegnen. Das ist nicht bloße Neugier. Für leidenschaftliche Leser bilden jene wenigen Autoren ein Mysterium, an dem sie once in a lifetime teilhaben möchten. Und wenn ein solcher Autor J.M. Coetzee heißt, in Australien lebt, nicht mehr jung ist, die Öffentlichkeit scheut, jedoch tatsächlich nach Frankfurt kommt, kann das für die Leserin nur bedeuten: Karte ergattern, hinfahren.
Poesiealbum 301 – Elke Erb | |
Lyrik | Märkischer Verlag Wilhelmshorst 2012 | Redaktion 15.08.2012 |
Einen schönen konzisen Überblick über Elke Erbs dichterisches Schaffen bietet das Poesiealbum 301, herausgegeben von Richard Pietraß. Die Spanne reicht von frühen Gedichten wie Ein Lamm weidete und Das Flachland vor Leipzig bis hin zu Ist-Sätze aus dem Jahr 2009.
Georg Heym – Ich bin von dem grauen Elend zerfressen | |
Gedichte | Lyrikedition 2012 | Jan Kuhlbrodt 27.07.2012 |
Wäre man böse, könnte man sagen, dass Georg Heym, wäre er nicht 1912 beim Eislaufen eingebrochen und ertrunken, vielleicht ein paar Jahre später vor Verdun gefallen oder am deutschen Kampfgas erstickt wäre, das der Wind vom Westen zurückgetrieben hatte, den verursachern direkt in die Lunge, aber das ist Spekulation.
Tobias Falberg – Plastiniertes Gelände | |
Gedichte | Edition Art Science 2012 | Armin Steigenberger 24.07.2012 |
Mit Tobias Falberg ist ein Autor am Start, der längst mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Umso mehr erstaunt es, dass erst jetzt sein erster Gedichtband erschienen ist, der das Beste seiner Dichtungen aus den letzten eineinhalb Jahrzehnten versammelt – in einer gelungenen Mischung mit Frottagen von Hans-Peter Stark. Ein fulminantes Debüt, erschienen in der kleinen Wiener Edition Art Science.
Alfonz – Der Comicreporter | |
Comic | Edition Alfons 2012 | Mario Osterland 15.07.2012 |
Bekanntlich ist ja die Graphic Novel daran schuld, dass sich immer mehr Literaturleser für die Form des Comics interessieren. Als Vermittlerin zwischen Literatur und Bildgeschichte macht sie auch in Deutschland seit einigen Jahren einen guten Job. Hat man sich jedoch einmal auf den Trip ins Paralleluniversum Comic eingelassen, könnte man dies auch schnell wieder bereuen.
Tamta Melaschwili – Abzählen | |
Roman | Unionsverlag 2012 | Dietmar Jacobsen 12.07.2012 |
Mit Abzählen ist der georgischen Erzählerin Tamta Melaschwili ein eindrucksvolles Romandebüt gelungen
Drei Tage dehnen sich zur Unendlichkeit – Mittwoch, Donnerstag, Freitag. Drei Tage im Krieg, die scheinbar immer wieder von Neuem beginnen. Erst ganz am Ende von Tamta Melaschwilis Romandebüt Abzählen bricht der Samstag an. Aber er bringt nicht den ersehnten Frieden, sondern die Trauer um ein Mädchen, das den Leser auf den vergangenen 90 Seiten so mutig wie naiv, gewitzt und tollkühn in ihre Welt hineingezogen hat.
Aloysius Bertrand – Gaspard de la Nuit | |
Verlag Reinecke & Voß | Mario Osterland 07.07.2012 |
Natürlich ist Jan Kuhlbrodt absolut im Recht, wenn er Aloysius Bertrands Gaspard de la Nuit als unermessliche Entdeckung feiert (poetenladen.de 21.4.2012). Denn der Wert dieser Sammlung von Prosagedichten wurde über 150 Jahre massiv unterschätzt. 1842 und somit ein Jahr nach dem Tod des Autors erstmals erschienen, gilt Bertrands Werk heute als ein Schlüsseltext der Moderne in Frankreich.
weiterlesen ►
Siehe auch: Jan Kuhlbrodt: Eine Entdeckung: die Prosadichtungen von Aloysius Bertrand ►
Dagmara Kraus | kummerang | |
Gedichte | kookbooks 2012 | Gisela Trahms 04.07.2012 |
Eine Begegnung mit der Lyrikerin Dagmara Kraus und ihrem Debüt kummerang
Wer Kraus' Gedichten zum ersten Mal begegnet, ist geneigt, sie ihres Vokabulars wegen für unübersetzbar zu halten. Das Gedicht „genfer see“ etwa leitet erwartungsgemäß den Blick übers Wasser, über Schiffe und Möwen. Doch nicht von Booten ist die Rede, sondern von „pardune“, „bilge“, „tartane“, „schlenge“ – keine Neologismen, sondern maritimes Fachvokabular, wie die Landratte googelnd entschlüsselt.
Miron Białoszewski – Wir Seesterne | |
Gedichte | Reinecke & Voß | Armin Steigenberger 30.06.2012 |
Der engagierte Leipziger Kleinverlag Reinecke & Voß legte jüngst einen zweisprachigen Sammelband mit Gedichten des in Deutschland weitgehend unbekannten Miron Białoszewski vor, in der Übersetzung von Dagmara Kraus.
Als ich las, dass Miron Białoszewski kein polnischer Gegenwartsdichter ist, dessen „jungen“ Tonfall ich zuletzt in der EDIT 57 kennenlernte, war ich nicht wenig überrascht.
Oleg Jurjew – In zwei Spiegeln | |
Gedichte | Jung und Jung, 2012 | Jan Kuhlbrodt 27.06.2012 |
Er schreibe Gedichte, um zu erfahren, wovon sie handeln, steht auf dem Schutzumschlag. Jurjew ist ein russischer Jude, der seit zwanzig Jahren mit seiner Familie in Frankfurt am Main lebt. Woraus, bitte schön, schöpft der Kerl. Vor der russischen Sprache jedenfalls ist er nicht geflohen. Auch nicht vor der Kultur, und nicht vor ihren plebejischen Ausläufern. Zu gern scheint er mir die russischen Trink- und Ganovenlieder zu singen.
Max Sessner – Warum gerade heute | |
Gedichte | Droschl 2012 | Frank Schmitter 24.06.2012 |
Der Augsburger Max Sessner ist im Lyrikbetrieb von zurückhaltender Präsenz. Er schwebt nicht auf den Luftkissen von Stipendien, Preisen und Auszeichnungen. Er hat keine wichtigen Fürsprecher und tingelt nicht von Lyrikfestival zu Lyrikfestival. Max Sessner verdient seit vielen Jahren sein Brot als Buchhändler und schreibt Gedichte. Punkt. Nun ist bei Droschl der Band Warum gerade heute erschienen, nach Küchen und Züge (2005) der zweite in dem renommierten österreichischen Literaturverlag.
Valeri Scherstjanoi – Mein Futurismus | |
Essays | Matthes & Seitz Berlin 2011 | Jan Kuhlbrodt 19.06.2012 |
Vorab: Ich hatte mir vorgenommen, das Buch innerhalb von zwei, drei Tagen zu lesen, zumal ja die Fußballeuropameisterschaft lief, konnte mich aber, da ich am späten Vormittag angefangen hatte, bis zum Abend nicht von den Texten losreißen und verpasste zwei Spiele. Einzig das umfangreiche und auch äußerst .erhellende Nachwort von Michael Lentz sparte ich mir für den nächsten Tag auf; denn ich war inzwischen einfach zu müde und bedauerte das sehr. Hin und wieder hadere ich damit, ein physisches Wesen zu sein, aber da kann man wohl nichts machen.
Norbert Lange – Das Schiefe, das Harte und das Gemalene | |
Gedichte | luxbooks 2012 | Jan Kuhlbrodt 15.06.2012 |
Nicht dass die Zeit mir lang geworden wäre, nach dem Debutband Rauhfasern, der seinerzeit in der Lyrikedition 2000 erschienen ist, es gab ja hin und wieder etwas über den Autor zu vermelden. Den sehr schönen Essayband beispielsweise, der bei Reinecke und Voss erschien, und der „Das Geschriebene mit der Schreibhand“ hieß, und die bei Luxbooks erschienenen Übersetzungen von Prufer und vor allem Oppen.
Dietmar Ebert (Hrsg.) – Studien zu Imre Kertész | |
Studien | Edition Azur 2010 | André Schinkel 05.06.2012 |
Das Grauen fordert zur Dokumentation heraus, es beeinflusst in sarkastischer Weise seit jeher die Werke bedeutender Künstler. Was den Schrecken der Konzentrationslager betrifft – er hat den Anstoß für eine ganze Reihe aufrüttelnder Bücher geliefert.
George Oppen – Die Rohstoffe | |
Gedichte | luxbooks | Jan Kuhlbrodt 02.06.2012 |
Wir kommen langsam ans Ende mit der Durchsicht der Schätze des Frühjahrs. Und weiß Gott waren da Schätze darunter. Sie lagen wie Braunkohle kurz unter der Oberfläche und ihre Gruben sind weithin sichtbar für jeden. Im Grunde brauchte man nur zugreifen und hielt ein Buch in der Hand, dessen Lektüre sich lohnte. Es wäre müßig; Namen zu nennen, denn die Liste ist lang. Über viele der Bücher ist bereits geschrieben worden, über viele aber auch nicht. Doch wir werden uns befleißigen, nicht allzu viele und große Lücken zu lassen.
Jürgen Buchmann – Wird in Afrika Irisch gesprochen? | |
Reinecke & Voß 2012 | Dirk Uwe Hansen 25.05.2012 |
„Was haben Ketten mit Kelten und Kanonen mit Konjugationen zu tun“, fragt der Erzähler auf Seite 26 von Buchmanns schmalen Büchlein. Um die Frage zu beantworten, muss man seine Wüsten- und Urwaldposse lesen, was schnell erledigt ist; 31 Seiten liest man, selbst wenn man sie – was dringend empfohlen sei – laut liest, recht schnell durch.
Jason – Ich habe Hitler getötet | |
Comic | Reprodukt 2012 | Mario Osterland 18.05.2012 |
Der Protagonist in Jasons neuem Comic hat einen ziemlich einfachen Job. Er tötet andere – für Geld. Und er tötet alle, die ihm aufgetragen werden. Ausnahmslos. Liebhaber, Liebhaberinnen, Kollegen, Chefs, Väter, Töchter, Adolf Hitler. Er macht kein Geheimnis aus seinem Job, ebenso wenig aus der Tatsache, dass der den Job nicht gern macht. Aber er bringt gutes Geld. 5000 pro Auftrag.
Alexej Krutschonych – Phonetik des Theaters | |
Reinecke & Voß 2011 | Jan Kuhlbrodt 15.05.2012 |
Ein persönlicher Bericht angesichts der Phonetik des Theaters von Alexej Krutschonych herausgegeben von Valeri Scherstjanoi
Es ging ein Gespenst herum in Europa, zumindest hab ich das lange Jahre so empfunden. Es war das Gespenst des Futurismus. Und in meiner Jugend, also die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts hindurch, wollte ich Futurist sein wie in meiner Kindheit Indianer.
Christine Hoba, Christian Kreis – Dummer August und Kolumbine | |
Gedichte | Fixpoetry Verlag 2012 | Jürgen Brôcan 12.05.2012 |
Dummer August und Kolumbine, das sind zwei Gestalten, die ihren Ursprung in der Commedia dell'arte haben. Die Kolumbine war die kokette Partnerin des Harlekin, und auch der Dumme August, heute vor allem als Clownsfigur mit roter Knollennase im Zirkus bekannt, geht auf Figuren jener Commedia ebenso zurück wie auf die buntgekleideten Spaßmacher der römischen Antike und mittelalterliche Hofnarren.
Wolfram Lotz – Fusseln | |
parasitenpresse 2012 | Peggy Neidel 10.04.2012 |
In seinen Theaterstücken befasst sich Wolfram Lotz, letztes Jahr mit dem begehrten Kleist-Förderpreis ausgezeichnet, überwigend mit dem Sinn unseres Daseins und was von diesem übrig bleibt. In seinem kürzlich bei der parasitenpresse erschienenen Bändchen Fusseln geht es ebenfalls um ein großes Thema. Es ist ein Text, der weder Prosa noch Lyrik zuzuordnen ist.
Jürgen Buchmann – Memoiren eines Münsterländer Mastschweins | |
freiraum-verlag 2012 | Jan Kuhlbrodt 07.05.2012 |
Durch die Augen eines sprachmächtigen Schweines kommt die Welt in ihrer sprachlichen Verfasstheit ins Schillern.
Jürgen Buchmann lässt uns an den Lehr- und Wanderjahren eines solchen Tieres, das letztlich das Tierische hin zum Humanen verlassen hat, teilhaben und lässt uns mit jenem jugendlichen Eber eine der letzten Grenzen, die zwischen Tier und Mensch, überwinden. Im Grunde löst er so ein Versprechen der Humanitas und der Aufklärung ein, nach dem letztlich jedes vernunftbegabte Wesen dem Kategorischen Imperativ unterliegt.
Irena Brežná – Die undankbare Fremde | |
Roman | Galiani 2012 | Dietmar Jacobsen 05.05.2012 |
Irena Brežná erzählt in ihrem poetischen kleinen Roman Die undankbare Fremde von Weggehen und Ankommen, Heimat und Fremde, Kälte und Geborgenheit
1968 kommt eine vierköpfige slowakische Flüchtlingsfamilie in der Schweiz an. Das gewaltsame Ende des Prager Frühlings hat sie zu Emigranten werden lassen. Nun stehen sie vor einem kompletten Neubeginn, den die Tochter, die Irena Brežná in ihrem kleinen Roman Die undankbare Fremde sprechen lässt, zunächst als einen Akt der Verstümmelung erlebt. Die vertrauten „Flügel und Dächlein“, also jene diakritischen Zeichen, die die Aussprache bzw. Betonung von Buchstaben regeln, werden ihrem Familiennamen weggenommen.
Synke Köhler – waldoffen | |
Gedichte | Lyrikedition 2000, München 2011 | Lars-Arvid Brischke 01.05.2012 |
Zum Lyrikdebüt waldoffen von Synke Köhler
Waldoffen. Seit wann ist Wald offen? Steht Wald nicht zu Recht für Geschlossenheit? Ziemlich dicht geschlossen sind die Reihen der Bäume in gesunden Wäldern. Wald ist meistens zu dicht, um offen zu sein. Wald ist oft sogar ein ziemliches Dickicht: Der sprichwörtliche Wald, den man vor lauter Bäumen nicht zu sehen bekommt
Heri Coltello – Einige Abenteuer ... | |
Roman | Salis Verlag 2012 | Jan Kuhlbrodt 29.04.2012 |
Es gibt Menschen, denen man erst ein zwei mal begegnet ist, man bezeichnet sie dennoch als Freunde, nicht nur einfach so, man empfindet gewissermaßen schon bei der ersten Begegnung so etwas wie eine tiefe Verbundenheit. Nicht dass man fortan wüsste, wie der andere konkret in bestimmten Situationen handeln würde, aber man weiß, er handelt so, dass man es gut heißen kann, er ergreift eine der Möglichkeiten im Ensemble der Möglichkeiten, die man selber auch ergriffen hätte.
Susanne Eules – ůbern růckn des atlantiks | |
Gedichte | Fixpoetry. Verlag 2012 | Jürgen Brôcan 26.04.2012 |
Die Befürworter der sprachexperimentellen Dichtung und deren Verächter stehen einander nicht selten unversöhnlich gegenüber. Daß dies nicht notwendig so sein muß, zeigen nun in schönster Weise die Gedichte von Susanne Eules, denn sie sollten diesseits und jenseits des trennenden Grabens gefallen. Eules’ Gedichte sind nämlich allemal ansprechend, weil konkret, bildhaft und inhaltsschwer ...
Wolfram Lotz – Fusseln | |
>parasitenpresse 2012 | Mario Osterland 21.04.2012 |
esondere Texte benötigen nun mal besondere Verlage und so ist es nur folgerichtig, dass die parasitenpresse als Herausgeber der „Fusseln“ von Wolfram Lotz fungiert. Seit dem Jahr 2000 gibt es den Kölner Kleinstverlag, der Kleinstbücher produziert, die fast immer als 16-seitige Hefte aus recycelten Briefumschlägen daher kommen.
Ralph Grüneberger – Bunte Pleite | |
Gedichte | Edition Ornament, quartus-Verlag | M. Biskupek / P. Gosse 21.04.2012 |
Gedichte und jener Moment, in dem der Leser auf sie trifft, verquicken sich oft eigenartig. Ich hatte eine Tour durchs Muldetal hinter mir, war von Zwickau gen Wurzen geradelt, hatte Burgen auf Felsen thronen und Dörfer in Täler gepresst gesehen, Peter Gosse: Dreizeh
Drei Begriffe sind es, die von altersher die bemerkenswürdige Kunstleistung verstehen helfen: ars – ingenium – doctrina. Diese Dreigestalt, oder Dreifaltigkeit müsse sich im Werk als beherzigt auffinden lassen.
Aloysius Bertrand – Gaspard de la Nuit | |
Verlag Reinecke & Voß | Jan Kuhlbrodt 21.04.2012 |
Die Behauptung, der Verlag Reinecke und Voß habe eine Perle der Französischen Literatur für den deutschen Leser geborgen, träfe zu kurz. Hier wird ein zentraler Text zugänglich gemacht, und einer der schönsten, die mir begegnet sind, zumindest wirkt er in der Gestalt, die Buchmann ihm gegeben hat, schier unermesslich (man verzeihe mir die Superlative, aber an dieser Stelle kann ich nicht anders, als staunen, wie ein Schuljunge).
Hanna Lemke – Geschwisterkinder | |
Erzählung | Verlag Antje Kunstmann 2012 | Dietmar Jacobsen 04.04.2012 |
In Hanna Lemkes neuer Erzählung Geschwisterkinder geht es um Nähe und Distanz, Einsamkeit und das Gefühl, im falschen Leben gelandet zu sein
Milena, genannt Milla, und Richard, genannt Ritschie, sind Geschwister. Sie jobbt in einem kleinen Spielzeugladen. Er arbeitet in der Bildredaktion einer Zeitung. Beide hatten einst hochfliegende Pläne, aber das Leben hat sie schnell dahingehend belehrt, dass Träume zwar nicht verboten sind, doch gefährlich werden können, wenn man sie mit der Realität verwechselt. Also hat man sich eingerichtet, jeder in seinem Provisorium. Man funktioniert, liebt ohne Herz, sehnt sich, ohne genau zu wissen wonach.