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Saskia Hennig von Lange
Alles, was draußen ist
Im Gruselkabinett des Körpers
Kritik |
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Saskia Hennig von Lange
Alles, was draußen ist
Novelle
Jung und Jung, 2013
116 Seiten, Euro 16,90
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Ein überfülltes Anatomiemuseum und seine unheimlichen Präparate sind die Hauptfiguren der Novelle „Alles, was draußen ist“ von Saskia Hennig von Lange. Dieser Ort als Sammlung von toten Menschenteilen taugt für das absolute memento mori und der Leser legt nach der Lektüre schon mal die Sanduhr zurecht. Nicht von ungefähr setzt sich die Autorin mit dem Körper als Exponat und der Anatomie als Kunstform auseinander. Die 1976 geborene Frankfurterin hat Angewandte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte studiert und arbeitet zur Zeit an der Justus- Liebig-Universität Gießen an ihrer Dissertation.
Ort des Geschehens ist also ein Anatomiemuseum, in das schon lange keine Besucher mehr kommt. Ein namenloser Mann lebt dort, ihm gehört das Museum – und er wohnt dort unter Toten. Er trocknet seine Wäsche zwischen Knochenkrebsarten, läuft täglich durch diese Materialiensammlung eines Kuriositätenkabinetts: Vitrinen und Schubladen voller „Tierskelette, Präparate und Querschnitte einzelner Knochen“, „Hudeleien der Natur“ und „Embryonen, mit Wasserköpfen, ohne Gesichter oder den Mündern bis zum Ohr, der Nase auf der Stirn“. Wir folgen dem Mann auf seinen täglichen Rundgängen – durch das Schädelzimmer, an die Vitrine mit den Säuglings- und Kinderunterkiefern, durch das Knochenzimmer mit einem Skelettschrank hin zu den „Muskelmänner“ ohne Haut, die rein gar „nichts zu verbergen“ haben. Was wir als Text in den Händen halten, ist sein Vermächtnis. Denn der Mann ist todkrank. Er protokolliert sein Leben und macht täglich Gipsabdrücke von seinem Körper. Was aber sein sehnlichster Wunsch ist: eine Totenmaske abgenommen zu bekommen. Das ist es, worauf es ihm in der noch verbleibenden Zeit ankommt.
Was hat es auf sich mit diesem Mann, der von sich selbst sagt: „es beruhigt mich noch immer, diese ganzen toten Gesichter zu sehen“? Nun: Er erzählt uns von seiner Arbeit im Museum, vom Aufschneiden einer Schwangeren, vom Aufsägen der Schädeln für seine Innenohrsammlung – und geht damit einem Fetisch nach, wie es Jean-Baptiste Grenouille aus Patrick Süßkinds „Das Parfüm“ nicht obsessiver hätte tun können. Stets wartet man als Leser darauf, dass jemand mutwillig ermordet wird – so unheimlich und grausig geht es zu in dem 116 Seiten schmalen Band. Und doch wird den zahlreichen Leichenexponaten im Museum keines gewaltsam hinzugefügt.
Aber wo kommt dieser Mann her und wie ist er in dieses Museum geraten? Nur langsam gibt es uns etwas von seiner Geschichte preis. Es sind die Worte seiner Mutter, die ihm fest im Ohr sitzen: „Nein, du bleibst hier, bei mir, du gehst nicht nach draußen, es ist noch nicht lange genug kalt, das Eis ist noch nicht fest. Es ist gefährlich.“ Diese Worte verleihen all seinem Handeln einen Grund: seiner Innenohrensammlung, dem Nichtnachdraußengehen und seinem Umgang mit den Frauen. Denn die Novelle ist auch eine Geschichte vom vergeblichen Lieben. Immer wieder hört der Mann durch die dünnen Wände seine Nachbarin. „Untendrunterwohnerin“ nennt er sie und wünscht sich, dass sie seine Sammlung bestaunt, dass sie nebeneinander vor den Vitrinen stehen, dass sie seine Notizen findet, wenn es zu Ende gegangen ist – und dass sie ihm die Totenmaske abnimmt.
Als Vorbild gilt ihm ein Exponat aus seiner Sammlung: die Totenmaske von Robespierre, dessen Haupt unter die Guillotine geraten ist. Diese Totenmaske dient dem Mann als täglichem und magischem Anziehungspunkt. Er schreibt: „Hier, unter mir, hat etwas Form erhalten, das schon längst verloren ist, denke ich, verloren und verrottet. Hier, unter mir, liegt etwas, das nur deswegen da liegt, weil es für einen anderen verloren ging. Und auch ich werde es nicht halten können. Das ist seine wesentliche Bestimmung: für uns verloren zu sein.“
Diese Sätze sind gleichzeitig Beispiele für die feingearbeitete Prosa von Langes. Ihre parataktische Reihung, ihre Atemlosigkeit gibt der Todesangst des Mannes und seiner Obsession eine Stimme, die passt und die einen selbst atemlos zurücklässt. Gerade im März 2013 hat sie in München für ihr Debüt den Wortspiele-Literaturpreis gewonnen, die Jury rühmte die „makellose Form“ ihrer Novelle. Und das ist sie: in ihrer Makellosigkeit soghaft und aus einem Guss.
Die Novelle ist auch eine Geschichte von der Vergeblichkeit überhaupt, die Vergeblichkeit einer Sammlung zum Beispiel. Die Obsession des Mannes sind die Innenohren: Er sammelt sie, er legt sie frei, sägt dafür Köpfe auf, Tierköpfe, aber auch solche aus der Pathologie – immer auf der Suche nach einer physischen Spur eines Tons oder eines Satzes. Diese im Museum allgegenwärtige Anatomie ist eine Kunst des Grauens. Und während wir uns grausen, betrachtet der namenlose Mann die Gegenstände im Museum mit Liebe. Sie sind in ihrer Traurigkeit seine Reliquien und ihrer erotischen Aufgeladenheit sein Fetisch. Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme hat in seinem Buch „Fetischismus“ über die Zusammenhänge von Sammlungen, dem Körper und den Tod nachgedacht: „Im Tod wird der Mensch differenzlos zu den Dingen, während die scheinbar toten Dinge ein Stück Leben wahren.“ Und der Historiker Philip Blom notiert in schönen Band der Anderen Bibliothek „Sammelwunder, Sammelwahn“: „Was immer Sammlungen einzugrenzen und zu beherrschen versuchen, nichts kann mehr unter die Haut gehen als die Haut und die Knochen selbst. Wenn irgendeine Sammlung wirkliches ewiges Leben versprechen kann, dann am ehesten vielleicht diese Versammlung der Toten und Unglücklichen, die selbst dem Chaos schon entronnen sind.“ In dieser Hoffnung lebt auch unser Ich-Erzähler – vergebens.
Das Museum ist diesem Mann Rückzugsort, sein Exil – und gleichzeitig ein selbstgewähltes Gefängnis. Und gleich ist man bei Platon, für den der Körper das Gefängnis der Seele ist. „Ich blieb immer hier drinnen.“, so beginnt diese Novelle – und der Satz wundert nach dem Titel „Alles, was draußen ist“. Aber dies ist seiner Differenzierung das Thema, das die Autorin grundlegend interessiert: das unauflösbare Paradox zwischen dem Innen und dem Außen – zwischen Seele und Körper, zwischen Leben und Tod, zwischen Ansehen und Angesehenwerden.
Dieses Paradox dient ihr auch gleichzeitig als Metapher in Bezug auf die Zeit. So heißt es an der zentralen Stelle des Romans – und es sei hier in seiner ganzen Länge und Schönheit zitiert: „Die Zeit, die gibt es doch gar nicht, die geht doch bloß vorbei. Die Zeit, die ist doch nichts als ein Aufschub zu dem Moment hin, der dann gar nicht mehr gewesen sein wird, denn man wird ihn nicht einmal mehr benennen können, und es wird auch keinen Ort mehr geben, von dem aus man sprechen könnte, und kein Ohr, das sich einem öffnete, und man wird keinen Mund mehr haben für das Wort, das einem nicht einfiele, und man wird nicht traurig sein deshalb, weil auch das dann schon gleichgültig sein wird, weil dann alles egal ist, weil die Zeit ja nichts ist als der Aufschub zu dem Moment hin, an dem sie verschwunden sein wird.
Die Zeit ist das Bangen inmitten der Worte: Sie hockt da, verborgen, und man kann sie nicht sehen und nicht einmal spüren, man weiß bloß, dass sie vorübergehen wird und dass man in ihr steckt. Man kann nur in ihr sein, man kann nur irgendwie mitten in ihr sitzen, so wie man auch zwischen den Worten sitzt, und aus ihr und aus ihnen heraus sagen: In einer Stunde werden sechzig Minuten verflossen sein. Es gibt kein Oder. Ist man draußen, ist man tot.“
Dieses Buch wird Sie nicht gehen lassen, es wird sie nicht mehr nach draußen lassen und es lässt Sie mit Sätzen zurück, da hält man im eigenen Verschwinden kurz inne: „Dieser Raum, den mein Körper einnimmt, und der auch nicht kleiner wird, der sagt ja deutlich, das ich hier bin, dass ich noch hier bin und nicht im Verschwinden begriffen. Und diesen Raum wenigstens, den will ich behalten, das soll sichtbar bleiben: dass es einen Raum gibt in dieser Welt, der von meinem Körper eingenommen wird, den dieser überhaupt erst herstellt.“ Am besten also, sie begeben sich gleich und bedingungslos hinein in dieses Wunderding von einem Debüt.
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