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Julian Barnes
Der Lärm der Zeit

Die Zwänge des Lebens

In seinem Roman Der Lärm der Zeit erkundet Julian Barnes am Beispiel des Komponisten Dmitri Schostakowitsch das Verhältnis von Geist und Macht in Diktaturen

  Kritik
  Julian Barnes
Der Lärm der Zeit
Roman
Aus dem Englischen
von Gertraude Krueger
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017
245 Seiten, 20,– €
ISBN 978-3-462-04888-9


Zehn Nächte lang wartet der Komponist Dmitri Schostakowitsch (1906 – 1975) im Mai 1937 darauf, von den Schergen des sowjetischen Geheimdienstes verhaftet zu werden. Es ist die Zeit der großen Säuberungen und Stalin hat eine Aufführung von Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk anderthalb Jahre vorher bereits in der Pause verlassen: Anlass genug für willfährige Kritiker, in den darauffolgenden Monaten über das in aller Welt gefeierte Werk herzufallen und dessen Schöpfer Formalismus und Volksfremdheit vorzuwerfen. Weil er von zahlreichen ähnlichen Fällen Kenntnis besitzt, rechnet Schostakowitsch fortan damit, dass man mitten in der Nacht an seine Tür klopft und ihn zum Verhör oder zu noch Schlimmerem abholt. Um seiner Familie den Anblick eines um sein Leben zitternden Mannes zu ersparen, nimmt er deshalb Tag für Tag nach Einbruch der Dunkelheit ein bereitstehendes Köfferchen zur Hand und wartet vor dem Fahrstuhl im Treppenhaus darauf, dass sich sein Schicksal erfüllt. Aber Schostakowitsch bleibt verschont.
  Und dennoch verändern jene Nächte voll mit Ängsten und Zweifeln, Selbstvorwürfen und einer ohnmächtigen Schicksalsergebenheit den Mann, den die Welt als einen der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts kennt, von Grund auf. Dem Wüten des Terrors vorerst entkommen, wird Schostakowitsch nie wieder derjenige sein, der er bis zu jenen Tagen, da er bei der Macht zum ersten Mal in Ungnade fiel, gewesen war. Nur in seinen Erinnerungen wird jenes früh vollendete Genie, das sich vor niemanden fürchten und sich keine Sorgen um sein Ansehen in der Welt machen musste, noch existieren, die Kindheit als die unbeschwerteste Periode seines Lebens alle anderen Lebensabschnitte überstrahlen. Das Bewusstsein ständiger Bedrohung bis zu Stalins Tod 1953 und darüber hinaus aber macht aus dem in aller Welt, nur nicht bei den Mächtigen des Sowjetreiches geschätzten Künstler Schostakowitsch letzten Endes einen Kompromissler, der, um sich und seine Familie zu schützen, am Ende sogar noch der verhassten Partei beitritt.
  Julian Barnes hat mit Der Lärm der Zeit einen Roman geschrieben, in dem er das Verhältnis zwischen Geist und Macht, Künstlertum und Unterdrückung, Diktatur und Kreativität untersucht. Die drei Teile des Buches symbolisieren schon mit den Orten, an denen die Erinnerungs- und Selbstvergewisserungsarbeit des Helden jeweils stattfindet, dessen tragischen Lebensweg. Wartet er zunächst am Fahrstuhl darauf, dass er abgeholt wird und den Leidensweg zu gehen hat, den viele in seiner Zeit gehen mussten, zeigt ihn Teil 2 – „Im Flugzeug“ – auf dem Weg nach oben, auf den zu gelangen ihn allerdings ein Höchstmaß an Anpassungsbereitschaft kostet. Der den Roman beschließende dritte Teil schließlich, "Im Auto" überschrieben - der Komposnist sitzt inzwischen im Fond eines Dienstwagens mit eigenem Fahrer –, spielt auf die Monotonie der späten Jahre an, in denen ein Kompromiss auf den anderen folgt und Dmitri Schostakowitsch sein Dasein zunehmend als bedrückende Last empfindet.
  Kann man in seinen Schöpfungen ehrlich sein, wenn man es als Mensch nicht ist? Gehört nicht zu jeder Kreativität ein Maß an Freiheit, das sozusagen die Atemluft darstellt, die das schöpferische Genie braucht, um sich entfalten zu können? Der Lärm der Zeit zeigt am Beispiel seines Helden, wie viel Kraft und Besessenheit aufgebracht werden mussten, um in einer talentfeindlichen Umgebung voller Vorschriften, offener und versteckter Drohungen, falschen Lobes und tagtäglicher Zwänge als Künstler dennoch weiter zu existieren. Dass dies unter den äußeren Bedingungen der Sowjetdiktatur auch stets bedeutete, einen gefährlichen Spagat zu machen zwischen den inneren Überzeugungen eines Menschen und den Äußerungen, mit denen er in der Öffentlichkeit auftrat, machte Dmitri Schostakowitschs Tragik aus.
  Trauriger Höhepunkt all der ihm abverlangten Zugeständnisse an die Macht ist eine Rede, die er auf einer Amerika-Reise 1949 als Vertreter Sowjetrusslands auf dem Kultur- und Wissenschaftskongress für den Weltfrieden in New York halten muss. Denn der von einem linientreuen Redenschreiber verfasste Text, den man ihn zwingt, vom Blatt abzulesen, läuft auf eine Verdammung gerade jenes exilierten Komponisten hinaus, den er für den größten Tonsetzer seiner Zeit hält und von jeher tief verehrt: Igor Strawinsky. Nun hört sich Schostakowitsch vor großem Publikum sagen, dass Strawinsky „sein Vaterland verraten und sich von seinem Volk abgesondert habe, indem er sich der Clique reaktionärer moderner Musiker angeschlossen habe.“ Und wird gar in der auf die Rede folgenden Diskussion dazu provoziert, gegen die in ihm anwachsende Scham und Selbstverachtung das einmal Gesagte noch ein weiteres Mal zu unterstreichen.
  Mit Der Lärm der Zeit ist Julian Barnes (* 1946) mehr als ein großartiger biografischer Versuch über einen der herausragenden Komponisten des 20. Jahrhunderts gelungen. Knapp und auf drei wesentliche Ereignisse im Leben seines Helden konzentriert, nicht linear erzählend, sondern die Jahre 1936, 1948 und 1960 – alles Schaltjahre, wie Barnes Schostakowitsch an einer Stelle bemerken lässt – als erzählerische Ausgangspunkte wählend, von denen mal nach vorn, mal zurückgeblickt wird, geht hier ein Mensch mit sich selbst ins Gericht. Erkundet den Spielraum, den er als Künstler hat in der Diktatur. Der ist nicht allzu groß und zwischen Aufbegehren, Sich-feige-Wegducken und – wenn auch voller Skrupel und inneren Vorbehalten – Mitmischen im Spiel der Mächtigen angesiedelt.
  Allein wem es um sein Werk, seine künstlerische Arbeit und die Lebenswahrheit, die sich dahinter verbirgt, zu tun ist, der gerät in ein Dilemma, aus dem kaum ein Ausweg führt. Und so kann das Urteil, welches Dmitri Schostakowitsch am Ende über sich und sein Leben fällt, nur vernichtend sein. Viel zu oft hat er sich den äußeren Zwängen gebeugt. Viel zu weit ist er in seinem Opportunismus gegangen – etwa wenn er ohne großen Zwang, einfach um von den Mächtigen in Ruhe gelassen zu werden, Briefe unterschrieb, in denen die Systemgegner Solshenyzin und Sacharow übel verleumdet und zu Staatsfeinden erklärt wurden. Und viel zu ängstlich war er nach jenen Ereignissen im Jahr 1937, als ihm zum erstenmal klar geworden war, dass ihm die Größe seiner Kunst nicht helfen würde gegen den Größenwahn der Herrschenden: „Und das war, vielleicht, ihr größter Triumph über ihn. Statt ihn umzubringen, hatten sie ihn leben lassen, und indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht. Das war die letzte, unwiderlegbare Ironie seines Lebens: Indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht.“
Dietmar Jacobsen   16.06.2017    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen