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Ingo Schulze
Adam und Evelyn

Jenseits von Eden

Ingo Schulzes neuer Roman erzählt ganz unspektakulär und doch auf neue Weise vom Ende der DDR

Ingo Schulze | Adam und Evelyn
Ingo Schulze
Adam und Evelyn
Roman
Berlin Verlag 2008
Adam ist „Damenmaßschneider“, Evelyn Kellnerin. Irgendwo im Süden der DDR – Altenburg, das immer wieder die Kulissen abgibt für Ingo Schulzes Geschichten von Wende und Wiedervereinigung, wird diesmal nicht namentlich genannt, aber vieles weist auf die nordostthüringische Stadt hin – leben die zwei. Man schreibt Mitte August 1989 und das kleine Glück, in das sie sich eingesponnen haben, macht sie scheinbar blind für alles Drumherum. Erst als Evelyn, die mehr als zehn Jahre jünger als der zweiunddreißigjährige Adam ist, ihren Freund mit einer Kundin ertappt und daraufhin erzürnt aus der Beziehung ausbricht, öffnen sich beider Augen für das, was um sie herum vorgeht.

Fortan sind sie in ebenso rasanter Bewegung wie die Ereignisse, die aus einem nahezu erstarrten Land innerhalb kürzester historischer Frist einen Ort werden lassen, an dem plötzlich alles möglich scheint, wenn man es denn nur will und sich genug Menschen finden, die ihren Willen auf eine lebbare Zukunft hin konzentrieren. Der Weg von Evelyn, die sich einer Kollegin und deren Westcousin angeschlossen hat und auf dem Weg nach Ungarn ist, und Adam, der ihr in seinem alten Wartburg namens Heinrich folgt, führt allerdings weg aus ihrem Heimatland. Und als in Deutschland am 9. November 1989 die Mauer fällt, sind sie bereits, wie viele andere Flüchtlinge, die den Weg über Ungarn und Österreich genommen haben, auf deren anderer Seite eingetroffen und gerade dabei, sich ihr Leben ganz neu aufzubauen.

Adam und Evelyn ist ein Roadmovie aus den Tagen der friedlichen Revolution, die für manche wie ein Wunder über den Osten Europas kam und die politische Weltkarte entscheidend veränderte. Der Roman zeigt sie uns von ganz unten her. Er lässt nichts aus, konzentriert sein erzählerisches Interesse aber vollständig auf die Wege seiner Hauptgestalten. Nur über deren Tun, Denken und Diskutieren – an Letzterem mutet Schulze seinen Lesern manchmal etwas zu viel zu, etwa wenn er in einem Dialog über zwei Seiten hinweg das Befüllen einer Geschirrspülmaschine zum Thema werden lässt – kommen die Ereignisse jener Tage ins Spiel. Das ist nicht nur erzählerisch geschickt, sondern zeigt auch, wie viele Zufälle, instinktive Entscheidungen, ja selbst Dummheiten einen Prozess prägten und am Laufen hielten, der sich in den Geschichtsbüchern heute als geradliniger und folgerichtiger ausnimmt, als er es tatsächlich war.

Denn eigentlich wollen weder Adam noch Evelyn von vornherein ihrem Land entkommen. Sie haben nur ein Problem mit sich selbst. Indem sie freilich ausbrechen aus ihrer kleinen Welt, um es zu lösen, geraten sie nach und nach mitten hinein in die politischen Konstellationen ihrer Zeit. Und so wird Adam zum unfreiwilligen Fluchthelfer für eine unterwegs aufgelesene junge Frau, und Evelyn, die aus Frust mit ihrer fluchtwilligen Freundin mitfuhr, sieht sich plötzlich in einem bayerischen Flüchtlingslager Fragen zu ihrer und Adams Herkunft beantworten, während jene, die sie begleitete, längst per Zug in die DDR zurückkehrt ist.

Ingo Schulzes große Kunst besteht darin, ganz schnörkellos und schlicht seinen Figuren auf der Spur zu bleiben. Da passiert im Grunde gar nicht so viel – und doch nimmt dieses Wenige gefangen. Denn hinter den auf den ersten Blick sehr privaten Geschichten und Geschichtchen seiner Helden wird – fast ohne dass es gewollt ist, könnte man meinen – die geschichtliche Signatur deutlich. Es hat sie stets gegeben, jene Adams und Evelyns und all die Menschen, denen sie auf ihrer Fahrt begegnen, es gibt sie immer noch. Menschen, die beständig auf der Suche sind, immer ein Glück vor Augen, das sie im Moment entbehren. Doch sie lassen sich den Anspruch darauf nicht nehmen, sind nicht bereit, zurückzustecken, den Kopf einzuziehen, sich mit dem Gegebenen zu begnügen. Und in jenen raren geschichtlichen Momenten, da ihre individuelle Sehnsucht nach dem Vollkommenen für kurze Zeit ineins fällt mit Tendenzen, die die ganze ihnen bekannte Welt aus den Angeln reißen, vermögen sie tatsächlich, etwas Größerem, Umfassenderem mit ihrem kleinen Leben Ausdruck zu verleihen.

Lutz Frenzel, von allen Adam genannt, ist ein genügsamer Mensch. Er lebt als begabter Schneider in der DDR und hat nur Hohn und Spott übrig für die Lächerlichkeiten und den angemaßten Größenwahn, die ihm hier tagtäglich begegnen, wenn er den Blick von seiner Arbeit hebt. Für kurze Zeit sogar in der Partei, geht er Ende der achtziger Jahre nicht einmal mehr zu den berüchtigten 99,9 %-Wahlen. Seine Welt ist intakt und gut abgeschirmt. Erst eine private Erschütterung holt ihn heraus aus einem Stillstand, in dem er sich aufs Bequemste eingerichtet hatte. Und plötzlich sieht er sich – jenseits des ererbten Hauses samt des Gartens, über dessen Mauer zu schauen er nur selten für nötig hielt – mit Ereignissen konfrontiert, die ihm sämtliche Sicherheiten rauben und ihn beinahe täglich vor existenzielle Entschei­sdungs­situationen stellen.

Es ist das Dilemma des unpolitischen Menschen, das Ingo Schulze seine Hauptfiguren erfahren lässt. Sie möchten nichts, als am Platz verharren, und dennoch reißen die Ereignisse sie mit. Nichts bleibt, wie es war, und schließlich erfasst der Wandel auch jene, die lange glaubten, sich ihm entziehen zu können.

Am Ende finden sich Adam und Evelyn im Westen wieder. Sie erwartet ein Kind und wird studieren. Er bekommt Arbeit als Änderungsschneider und versucht, das störende Gefühl der Fremdheit in seiner neuen Umgebung zu überwinden. Man ist immer noch jenseits von Eden, lange nicht angekommen. Und doch öffnet sich die Tür zu ihrem ersten neuen Zuhause mit einem vertrauten Geräusch – als wäre es die Pforte zurück ins Paradies.

Der Erfinder des Pärchens, das so deutlich an das Personal des biblischen Mythos angelehnt ist, dass wir kaum gesondert darauf hinweisen müssen, hat vor drei Jahren mit dem Briefroman Neue Leben das Buch zur deutschen Wende beendet, welches alle anderen Annäherungen an dieses Thema endlich in sich aufhob. Nun, fast zwei Jahrzehnte nach Mauerfall, „Wir sind das Volk“-Sprechchören und Wiedervereinigung wendet sich Ingo Schulze denen zu, die nicht an runden Tischen saßen, die Stasi-Zentralen stürmten und neue Parteien aus der Taufe hoben. Adam und Evelyn ist der Roman all jener, die sich völlig naiv in den Stürmen ihrer Zeit wiederfanden, mühsam nach Orientierungen suchten und schließlich alles, was sie hatten, auf eine Waagschale warfen in der Hoffnung, sie bekäme genug Gewicht, um nach unten zu sinken und neuen Boden zu erreichen.
Ingo Schulze, 1962 in Dresden geboren, studierte klassische Philologie und war anschließend Dramaturg am Landestheater Altenburg. Für sein Debüt „33 Augenblicke des Glücks“ wurde er mit dem Alfred-Döblin-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis des Bachmann-Wettbewerbs ausgezeichnet. Seither erhielt er renommierte Preise für seine Erzählbände und Romane, so zuletzt den Preis der Leipziger Buchmesse. 2008 ist er Finalist beim Deutschen Buchpreis (News 332).
Dietmar Jacobsen     18.09.2008   
Dietmar Jacobsen