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Natalja Kljutscharjowa

Endstation Rußland

Von radikalen Studenten, Wanderphilosophen und grauhaarigen Komsomolzen

Natalja Kljutscharjowas Held Nikita reist im Romanerstling der jungen russischen Autorin durch ein Land der Extreme

Kritik
Natalja Kljutscharjowa: Endstation Rußland   Natalja Kljutscharjowa
Endstation Rußland
Roman
Suhrkamp Verlag 2010
187 Seiten, 9,90 Euro


Nikita heißt der knapp 20-jährige Student aus Sankt Petersburg, der in Natalja Kljutscharjowas Romandebüt die Hauptrolle spielt. Ähnlich wie sein berühmter Vorfahr Wenjamin aus der Reise nach Petuschki ist er im Zug unterwegs. Und was er erlebt auf seinen Fahrten kreuz und quer durch das heutige Russland ähnelt wohl nicht von ungefähr den Alkoholfantasien jenes auf dem Weg zu seiner Geliebten immer betrunkener werdenden Helden aus Jerofejews 1973 erschienenem Kultroman. Richtete sich der letzten Endes gegen die soziale und seelische Verwahr­losung des Menschen unter dem Sowjetsystem, macht Endstation Rußland nun deutlich, dass System- und Werte­wandel nach 1989 nicht die Verän­derungen erbrachten, nach denen sich die einfachen Menschen sehnten. Ja, um zu erkennen, dass in dem riesigen Reich nach wie vor einiges schiefläuft, muss Natalja Kljutschar­jowas Zentral­figur, um die alle anderen Personen des Romans samt ihren Geschichten kreisen, nicht einmal dauerhaft benebelt sein. Eine kleine „physiologische Eigentüm­lichkeit“ aber besitzt Nikita doch: Angesichts dessen, womit er beständig konfrontiert wird auf seiner Odyssee, diesem Übermaß an eigentlich Unzu­mutbaren, fällt er hin und wieder kurzerhand in Ohnmacht.

Vom (mit-)leidenden Ertragen, für das diese Anfälle stehen, geht sein Weg allerdings in Rich­tung aktiven Eintretens für all jene, die nicht zu den wenigen Prozenten der so genannten „neuen Russsen“ stehen, sondern jeden Tag aufs Neue um ihr Überleben Sorge tragen müssen. So nimmt es auch nicht Wunder, dass Jasja, seine heimliche Liebe, die mit ihrem Ver­schwinden seine Unrast erst in Gang setzte, allmählich aus seinen Gedan­ken verschwindet, die sich statt ihrer immer mehr den grundlegenden Unge­rechtigkeiten in seiner Heimat zuwenden und auf Mittel zu ihrer Beseitigung sinnen.

„Bei uns geht ja leider nichts ohne Extreme“, heißt es an einer Stelle im Buch. Und extrem sind sowohl die Situationen, in die die junge Moskauer Autorin ihren Helden stellt, als auch viele der Figuren, mit denen sie ihn umgibt. Dabei nutzt sie souverän das satirische Mittel der Übertreibung, um in der Wirklichkeit vorhandene Widersprüche sichtbar zu machen. Es geht im Kern um das Verhältnis von Tradition und Moderne, um die Rolle von Kirche und Staat beim aktuellen Umbau der russischen Gesellschaft und um Trägheit und Korruption, die einmal Erreichtes immer wieder in Frage stellen.

Ganz erstaunlich bei einer Schrift­stel­lerin, die bei der Erst­publikation des Romans in der Zeit­schrift Novyj Mir 2006 gerade einmal 25 Jahre alt war, ist die spiele­rische Leichtig­keit, mit der sie sich zur Verdeut­lichung ihres An­aliegens der unter­schied­lichsten lite­rarischen, philo­sophischen und poli­tischen Gewährs­leute bedient. Die Über­setzerin, Ganna-Maria Braungardt, hat für den Leser in einem mehr als vier­seitigem Anmerkungs­teil die meisten – wenn auch nicht alle – Verweis­quellen von Natalja Kljutschar­jowa aufzu­decken gesucht. Das hilft, den Kontext zu ver­stehen, in dem sich die aktuellen Aus­einander­setzungen in einem Land, das immer eine gewisse Sonder­stel­lung bean­spruchte und sich entsprechend schwertat, sich inner­halb von Bünd­nissen ein- und unter­zuordnen, abspielen. Von Puschkin und Gorki über Iwan Bunin und Fjodor Dostojewski bis zu Sorokin, Sokolow und Lukjanenko – Endstation Rußland nutzt die in der nationalen Literatur schon immer vorhandene Tendenz, das Wohl und Wehe der Gesell­schaft über die indivi­duellen Belange des Einzelnen zu stellen und statt privater Bedräng­nisse (oder auch über sie) die großen Fragen mensch­lichen Zusammen­lebens anzugehen, um intensiv über den aktuellen Weg Russlands nachzu­denken. Locker bringt es Philosophen wie Guy Debord, Jean Baudrillard oder Slavoj Žižek in Anschlag, zitiert Astrid Lindgren, Henry Miller und Arthur Rimbaud und macht auf die aktuelle Gefähr­lich­keit rechts­konser­vativen Den­kens im Umkreis der National­bolschewis­tischen Partei und ihrer „Märtyrer“ Wladimir Abel und Eduard Limonow aufmerksam.

Am vergnüg­lichsten freilich liest sich Kljutscharjowa, wenn sie ihrer über­bordenden Fantasie die Zügel schießen lässt. Wobei dem Lachen, das den Leser auf vielen Seiten des Buches überkommt, durchaus eine bittere Note eignet. Denn die oftmals herrlich absurden Einfälle werden solange ausge­kostet, bis sie schließlich hinter aller Überdrehtheit und Situations­komik mensch­liche wie gesell­schaft­liche Defizite offenbaren, die das Leben in der postsowjetischen Demokratie gerade für die, die sich am meisten nach Freiheit und dem Ende aller Indoktri­nation sehnten, schwer machen und nicht zuletzt für die irra­tionale Sehnsucht nach der scheinbaren Ord­nung des Gestern mit­verant­wortlich sein dürften.

Deshalb muss man den Protest­marsch alter Menschen von Sankt Peters­burg nach Moskau, dem sich am Ende des Romans auch der Student Nikita anschließt, durchaus ernstnehmen. Denn mit seiner Hilfe kämpfen keine Ewiggestrigen um die Rückkehr von Einparteien­diktatur, Plan­wirtschaft und Schlangestehen vor leeren Läden, sondern vom Leben im neuen Russland Ent­täuschte machen darauf aufmerksam, dass volle Regale, Freiheit in allen Lebensbereichen und die Erreich­barkeit sämtlicher irdischen Paradiese nur nutzen, wenn man sie sich auch leisten kann.

Endstation Rußland ist im Gewand der Satire versteckte harsche Kritik. Kaum etwas bleibt davon ausgenommen. Präsident Putin genauso wenig wie rückwärtsgewandte Altkommunisten, die orthoxe Kirche sowie grassie­rende Heilslehren und Erlösungs­fantasien jeglicher Provenienz. Für Nikita, Natalja Kljutscharjowas dem Leser während der Lektüre immer sympa­thischer werdende Hauptfigur, stellt Russland kein über den Menschen schwebendes abstrakt-ide­elles Gebilde dar, sondern entsteht aus der Sum­me der Leben aller in seinen Grenzen lebenden Menschen. Deshalb kann man dieses Land auch nur dann per­fek­tionieren, wenn man die Situation noch des letzten seiner Bewohner verbessert. Dafür – so zeigt nicht zuletzt das Beispiel des Stu­denten Nikita – lohnt es wirklich, sich zu engagieren.
Dietmar Jacobsen   30.06.2010   
Dietmar Jacobsen