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Andreas Maier
Die Universität

Versuch über die Leere

Mit Die Universität zieht Andreas Maier einen weiteren Kreis um das Ich seiner auf elf Bände angelegten Romanreihe

  Kritik
  Andreas Maier
Die Universität
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 201
147 Seiten, 20,– Euro
ISBN 978-3-518-42785-9


Ortsumgehung heißt das Projekt, das Andreas Maier seit 2009 verfolgt. Nach vier Romanen, die den Ruf des im hessischen Bad Nauheim Geborenen begründeten, tragen die bisher sechs Bände dieses auf insgesamt elf Teile angelegten Großunternehmens zwar ebenfalls die Genrebezeichnung „Roman“ im Titel, konfrontieren den Leser aber mit so viel nachprüfbarer Lebenswirklichkeit, dass man eigentlich von einer entfiktionalisierten Fiktion sprechen müsste, wenn das nicht einen Widerspruch in sich darstellen würde. Aber davon, dass er das „Fiktionalisieren aufgegeben“ habe, als er begann, das eigene Leben und die Orte, an denen es Gestalt gewann, zu umkreisen, spricht der Autor in Bezug auf seine neueren Bücher ja selbst gelegentlich in Interviews.
  Mit dem Band Die Universität ist Maier nun jedenfalls im Zentrum seines Unternehmens angekommen. Fünf Bände gingen voraus – fünf weitere werden noch folgen. Wir haben es deshalb bei dem vorliegenden Band mit einer Art von Achsen-Roman zu tun. Und natürlich ist das Studium an der Frankfurter Universität auch eine ganz entscheidende, (Lebens-) Weichen stellende Zeit, selbst wenn es zunächst nur aus einer Ansammlung verwirrender Episoden zu bestehen scheint, denen Andreas Maiers Erzählkunst mit dem Humor des Sich-Zurückerinnernden die damals empfundene Peinlichkeit nimmt.
  Philosophie, Musikwissenschaften und Germanistik studiert das Ich des schmalen Büchleins, das dabei ist, sich vom kindlichen „Andi“ der ersten Bände der Ortsumgehung zum an der Schwelle zur Welt der Erwachsenen stehenden Andreas zu mausern. In Die Universität sitzt der nun im „Karl-Otto-Apel-Seminar“, besucht eine „Brigitte-Scheer-Vorlesung“ und wird im Rahmen eines Studentenjobs von der greisen und einen Pfleger nach dem anderen verschleißenden Gretel Adorno im Kettenhofweg 23 als Dominopartner und Adressat der fantasievollen Schimpftirade „Sie sind ein Hornochse!Sie sind hunderttausend Hornochsen! Sie sind eine Million hunderttausend Hornochen!“ benutzt.
  Beginnen tut Andreas Maiers neuer Roman freilich in keinem Seminarraum, keinem Vorlesungssaal und auch nicht auf dem Campus der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, sondern an einem Ort, den aufmerksame Leser dieses Autors bereits kennen: in einer Filiale der Bindernagelschen Buchhandlung nämlich. Es ist die kleine Niederlassung in Butzbach, in die den Studenten seine „innere Stimme“ lenkt. Auch die kennt man schon, denn ihretwegen hat Maiers Held bereits mit 17 Jahren einen Arzt konsultieren müssen, ohne dass dessen Ratschläge viel gegen die ständigen Kommentare seines zweiten Ichs auszurichten vermochten. Nun jedenfalls hält ihn die Stimme auf dem Frankfurter Hauptbahnhof davon ab, den am Abend zuvor geplanten Semesterferientrip nach Italien anzutreten, und bringt ihn stattdessen dazu, die Strecke ins heimatliche Friedberg zurück und anschließend weitere 15 Kilometer bis nach Butzbach zu fahren, wo es sich für Maier trefflich alliterieren lässt.
  Denn nach wie vor ist es die Buchhändlertochter Anke, der er in der Bindernagelschen Buchhandlung zu Butzbach zu begegnen hofft. Und während er sich auf einer Bank im Butzbacher Park „unter Butzbacher Bäumen inmitten von Butzbacher Blüten“ mit Bier, Butterbrot und einem S.-Fischer-Band – der Taschenbuchausgabe von Thomas Manns Doktor Faustus - auf die erhoffte Begegnung einstimmt und innerlich bereits an einer Erzählung mit dem Titel Butzbachfahrt arbeitet, weiß er eigentlich längst, dass auch dieser neue Anlauf auf die inzwischen verheiratete Mutter von zwei Kindern wieder ein vergeblicher, in Peinlichkeit endender sein wird. Eine schöne Pointe hat die Geschichte trotzdem, indem Maiers Ich-Erzähler nämlich letztendlich am heimischen Schreibtisch landet, die vierköpfige Familie der Buchhändlertochter aber genau das tut, wozu er sich am Frankfurter Bahnhof nicht in der Lage sah: in die Ferien aufbrechen.
  Maiers Roman besteht aus insgesamt zehn solcher kleinen, nur lose miteinander verbundenen Geschichten. Das Thema „Universität“ hält die zwischen vier und 28 Seiten langen Abschnitte dabei nur notdürftig zusammen. Denn eigentlich geht es in ihnen allen immer nur um die Identität desjenigen, dem der Leser hier in komische und weniger komische Lebenssituationen folgt. Schon das Motto des Romans – „Ich, das ist der Mittelteil des Wortes Nichts.“ –, entnommen Maiers Frankfurter Poetik-Vorlesungszyklus Ich (2006), hebt auf das den Studenten bewegende existentielle Problem ab, jene „leere, isolierte, konturlose Person“, als die er sich selbst empfindet. Die Schreibversuche – „redundante[...] Versuche[...] über die Leerheit“ –, die er regelmäßig unternimmt, zielen deshalb immer wieder darauf ab, dem eigenen Leben in Abgrenzung zum Leben der anderen, zu deren gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Koordinaten Maiers Ichs keinen Zugang findet, einen autonomen Sinn zu geben – und wenn der auch nur darin bestünde, die erlebte Leere als eine bewusst gewählte Existenzform zu verteidigen.
  Von für jeden, der schon einmal eine Universität von innen erlebt hat, nachvollziehbarer Komik – man erinnert sich beim Lesen an den Untertitel von Friedrich Dürrenmatts Erzählung Der Auftrag (1986), der „Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ lautet – sind jene Passagen, in denen man durch die Augen von Maiers Protagonisten auf die gemischte Gesellschaft von Akademikern schaut, die im „Übungsraum 4, Dantestraße, [...], Freitag, 16.15 Uhr“, wo das „Karl-Otto-Apel-Seminar“ stattfindet, mal verstehend, mal verwirrt, mal mitschreibend, mal sich innerlich auf einen eigenen Redebeitrag vorbereitend, den Ausführungen des Professors zur Wahrheitstheorie folgt. „Wie ein Kuckuck im fremden Nest“ sitzt der Ich-Erzähler da „auf seiner Meta-Ebene“ und beobachtet die Kommilitonen.
  Da sind „die profunden Redner“. Daneben die Spontanen, die es gar nicht erwarten können, dass das Auge Apels auf sie fällt und sie herausplatzen können mit ihren Bemerkungen. Dann gibt es die, die etwas sagen wollen, obwohl es sie Überwindung kostet. Und schließlich noch jene Gruppe von Studenten, die bereits kapituliert hat vor der Aufgabe, sich in der „seminarinternen Hierarchie“ hochzuarbeiten. Kein Wunder bei einem sich auf ständig höhere Beobachtungspositionen begebenden Erzähler – und der schlechten Luft im Saal –, dass die Absurdität einer Situation, in der die in den schwarzen Philosophen-Habitus der Zeit gekleideten Menschen im „Frankfurter Philosophen-Jargon“ mehr aneinander vorbei als miteinander reden, alsbald einsetzende Magenkräpfe und einen hartnäckigen Hautausschlag bei Maiers verwirrtem Beobachter hervorruft.
  Von „Düsterkeit und völlige[r] Ratlosigkeit“, hat Andreas Maier in einem Interview mit Joachim Scholl bekannt, schlimmer noch „als das in dem Buch beschrieben wird“, sei seine Studentenzeit geprägt gewesen. Dass der Roman dennoch aus der akademischen Tristesse hinausfindet und mit der wunderbaren Episode um die greise Gretel Adorno, die der als Pfleger der jahrelang in ihrer Wohnung eingeschlossen lebenden, schwer kranken Philosophenwitwe zugeordnete Erzähler schließlich – im wahrsten Sinne des Wortes – wieder ins Leben hinausschiebt, einen Gegenpol zu den unbelüfteten Seminarräumen und der als „Matratzengruft“ verstandenen Studentenbude schafft, macht eine seiner herausragenden Qualitäten aus.
Dietmar Jacobsen   11.08.2018   

Weitere Beiträge zu Andreas Maier:
Die Straße (Dietmar Jacobsen)
Sanssouci (Tillmann Severin)
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Dietmar Jacobsen