Jutta Voigt
Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht
Dicker Max und armer August
Jutta Voigt schaut zurück in die Zeit, als die Sonne für ein paar Jahrzehnte im Westen aufzugehen schien
Kritik
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Jutta Voigt
Westbesuch
Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht
Berlin: Aufbau Verlag 2009
228 Seiten, 10,00 Euro
ISBN 978-3-351-02675-2
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Es waren immer die anderen und meist nicht einmal die intelligenteren Kinder, die untereinander Matchboxautos tauschten und in der großen Pause ihre Milchschnitte in den Dienst illegalen Wissenserwerbs stellten. Lass mich die Russischaufgabe abschreiben und das glänzende, wohlschmeckende Ding aus einer für dich unerreichbaren Welt ist dein. Ja, hatte meine Familie denn gar niemand im Westen? Waren wir in der Tat – Und das bei dem Familiennamen! – dazu verurteilt, ein Leben lang nur DDR- Kaffee zu trinken? Weiß Gott, meine Kindheit im östlichen Deutschland besaß so ihre Härten.
Doch irgendwann lächelt auch dem Ärmsten einmal das Glück. Meines trug den Namen Kurt und behauptete, der ältere Bruder meiner Großmutter väterlicherseits zu sein. Der war das gar nicht recht, zumal ihr neuer Lebensgefährte mit der „Kapitalistenbande von drüben“ nichts zu tun haben wollte. Letzten Endes aber blieb ihr gar nichts anderes übrig, als sich zu Kurt zu bekennen und dessen Drängen auf einen Besuch in der Zone nachzugeben. Wahrscheinlich war er unter moralischen Druck in der Nachbarschaft oder an der Arbeit geraten, wo alle anderen sich rühmten, regelmäßig (also wenigstens einmal im Jahr, gewöhnlich zu Weihnachten) eine vom Verhungern bedrohte Verwandtschaft im von den Russen besetzten Teil Deutschlands mit erstklassigen Industrieprodukten aus der freien Welt zu versorgen. Und so war es letztlich nicht zu verhindern, dass Kurt aus „Duisburch“ am Rhein in Greiz an der Weißen Elster Ende der 60er Jahre als „Westbesuch“ anrückte.
Ja, Westbesuch! Jutta Voigt, groß geworden in der DDR wie ich, hat ihn zum Thema eines ganzen Buchs gemacht. Wobei sie dem einstigen Wunderwort eine etwas weitere Bedeutung verleiht und unter „Westbesuch“ praktisch alles subsummiert, was aus der beneideten Himmelsrichtung sich in Richtung Osten aufmachte, von der Radiowelle bis zu Willy Brandt, aber auch umgekehrt die Welt jenseits der Mauer mit staunenden Augen beehrte. Entstanden ist dabei ein Mix aus Geschichte und Geschichten, Erzähltem und Berichtetem, treulich Dokumentiertem und freundlich Fabuliertem. Die Geschichte einer Liebe zu farbenprächtigen (Fernseh-) Bildern, die anstelle der Realität Millionen Hirne okkupierten. Aber Liebe ist bekanntlich blind und verdrängt, solange sie dauert, jeden Gedanken ans möglicherweise böse Erwachen.
Rasant der Stil der Reporterin und Kolumnistin aus Berlin. Da geht's zur Sache, da wird nichts verschnörkelt, da folgt Hauptsatz auf Hauptsatz. Keine Rhetorik, keine Künstelei, keine falsche Bescheidenheit. Jutta Voigt hat etwas zu sagen und auch nichts zu verbergen, sie ist neugierig auf Menschen und das, was ihnen zustieß in der Zeit, als die Mauer stand, und sie versteht es, hinter den vielen Einzelfällen, von denen sie berichtet, das Allgemeine in den Blick rücken zu lassen.
34 Kapitel, darin eingebettet 24 so genannte „Deutsche Erzählungen“ und eine konzentriert geschriebene Einleitung, die die Leitplanken für das Folgende einzieht – diese Kleinteiligkeit, bei anderen vielleicht ein Manko, weil halt nicht wirklich jeder, der vieles bringt, auch bei Vielen ankommt, gereicht diesem kleinen Kompendium innerdeutschen Miteinanders in Zeiten der Mauer tatsächlich zum Vorteil.
Vollkommen authentisch etwa wirkt es, wenn die Autorin erzählt, wie sie es, obwohl in ihrem von den DDR-Behörden ausgestellten Westvisum nicht vorgesehen, geschafft hat, ihre Traumstadt Paris zu sehen und das auch idealerweise noch in Begleitung eines galanten Cicerone. Denn sie war Reisekader, gehörte zu jener Minorität glücklicher DDR-Bürger, die das Land – ob nun als Sportler oder Künstler, Journalisten, Wissenschaftler oder einfach nur dank der Bekannt- oder Verwandtschaft mit einem maßgebenden Genossen irgendwo oben in der Nomenklatura – zeitweilig verlassen durften und sich damit nicht zuletzt von dem Trauma befreien konnten, auf Dauer eingesperrt zu sein.
Doch was machten die anderen, denen sich die Mauer nicht wie jenen 40.000 Privilegierten schon vor der Rente öffnete? Sie importierten ein bisschen von der Aura, die das andere Deutschland umgab, oder nahmen vorlieb mit dem westlichsten Land des Ostblocks, nämlich Polen, der „fröhlichste(n) Baracke im sozialistischen Lager“. Dort trugen die Frauen maßgeschneiderte Kleider, ließen sich die Hand küssen wie in den guten alten Zeiten und die neue Heilslehre vermochte es in vierzig Jahren keine einzige Sekunde, den tief in den Herzen verankerten Gottesglauben zu verdrängen.
Letzten Endes war es eben doch so, dass weder soziale Sicherheit noch Arbeit für jeden – auch den, der sie gar nicht begehrte –, nicht günstige Ehekredite noch kostenlose gesundheitliche Betreuung gegen den Glanz des Westens ankamen, sein fernes Leuchten und den verführerischen Duft, den seine Abgesandten ausströmten. Die den Mercedes, mit dem sie anrauschten in Bitterfeld, Bautzen oder Birkenwerder, oft nur gemietet hatten, um für ein Wochenende als die zu erscheinen, die sie in Wirklichkeit gar nicht waren. Aber wer fragte schon danach, wenn der Kofferraum der Limousine aufging und die innerfamiliären Botschafter aus dem Land der Mainzelmännchen ihre Mitbringsel an die armen Verwandten verteilten. Eine schicke Strickjacke (gebraucht) für die Oma, hauchfeine Strumpfhosen (bereits eingetragen) für Mutti, Mariacron und Peter Stuyvesant – der „Duft der großen weiten Welt“ direkt aus der nächsten ALDI-Filiale – für Pappi und die bunten Heftchen mit Micky Maus und Onkel Dagobert, Batman und Rex Danny (und ein paar fettigen Daumenabdrücken) samt Kaugummis, mit denen sich, anders als mit den hiesigen, tolle Blasen fabrizieren ließen (zum Glück noch originalverpackt) für die lieben Kleinen.
Herrlich die vielen kleinen Geschichten, mit denen Jutta Voigt zeigt, wie einfallsreich die komplette Ummauerung ein ganzes Volk machte, wenn es darum ging, die heftig begehrten Fleischtöpfe des Gelobten Landes zu erreichen, noch ehe man alt und grau und miesepetrig wurde. So ließ man beispielsweise ein Ehepaar Mitte der achtziger Jahre gleich zweimal auf Besuchsreise nach Westberlin gehen – natürlich getrennt, erst sie, dann ihn –, weil es als Reisegrund jeweils einen Rohrbruch angab, mit dem man erst ihre, dann seine Mutter nicht allein lassen könne, da „gegenseitige Hilfe bei den Menschen im Westen“ alles andere als groß geschrieben würde. Warum dieselbe Begründung ein weiteres Mal nicht verfing, als man das hilfreiche Rohr in die Wohnung einer Tante verlegte, mag verstehen, wer will.
Natürlich sind wir mit dieser Anekdote bereits in den Jahren, als zunehmender Devisenmangel die Behörden der DDR veranlasste, größere Freizügigkeiten hinsichtlich des deutsch-deutschen Reiseverkehrs walten zu lassen: „Menschliche Erleichterungen“ gegen harte D-Mark. Doch über all den Lachen machenden Absurditäten vergisst die Autorin auch nicht die tragische Seite eines Geschichtsabschnitts, der angesichts der Unendlichkeit einen lächerlichen Augenblick bedeutete, angesichts der zeitlichen Begrenzheit des Menschen aber die lastende Dauer eines in Leere und zunehmender Sinnlosigkeit verbrachten ganzen Lebens haben konnte.
Tja, und dann waren sie also eines schönen Junitages da, Kurt und die Seinen aus „Duisburch“ am Rhein. Und nichts, was sie sahen in Greiz an der Weißen Elster, fand ihren Beifall. Nicht die Fußballer eines Klubs namens „Fortschritt“, die jenen des MSV natürlich nicht das Wasser reichen konnten. Nicht das Schnitzel mit Kartoffeln und Mischgemüse für 3,50 DDR-Mark, denn schließlich gingen sie zu Hause ausschließlich „zum Italiener um die Ecke“. Und auch nicht das Fernsehprogramm – leise in sich hineinlächelnd sorgte der Lebensgefährte meiner Großmutter dafür, dass sie während ihres 8-tägigen Aufenthalts die volle Dosis DDR-Fernsehen einschließlich zweier Auftritte von Sudel-Ede (auch genannt Karl-Eduard von Schnitzler) am Montag nach dem UFA-Schinken abbekamen.
Am Anfang taten sie, getrennt von Rhein und Heim, uns Jüngeren noch leid. Aber weil sie gar nicht aufhören wollten, zu stöhnen und zu klagen und lauthals unseren Dank für ihre Anwesenheit einzufordern, ersehnten wir schon bald den Tag herbei, an dem sie wieder in ihrer Welt verschwunden sein würden. Von fern sah die wirklich überwältigend aus. Von Nahem würde es sicher eine Weile dauern, sich an sie zu gewöhnen.
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Dietmar Jacobsen
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