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Miranda July

Zehn Wahrheiten

Trockenschwimmer
Miranda July erzählt auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit

Miranda July | Der Tag des Opritschniks
Miranda July
Zehn Wahrheiten
Stories
Aus dem Amerikanischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann
Zürich: Diogenes 2008
Miranda July kann und tut eine ganze Menge. Sie dreht Filme, denkt sich Kunstprojekte aus, spielt in Videoclips mit und schreibt Geschichten. Letztere – jetzt auf Deutsch unter dem nicht ganz so glücklichen Titel Zehn Wahrheiten (im Original: No One Belongs Here More Than You) erschienen – handeln von Frauen, die alten Menschen Schwimmunterricht erteilen, ohne dazu mehr Wasser zu benötigen, als in eine gewöhnliche Schüsssel passt. Oder solchen, denen im Traum der englische Thronfolger, Prinz William, so nahe kommt, dass sie darüber fast DAS SUPERBEBEN vergessen, welches im Kern all ihrer Ängste lauert.

Aber auch die männliche Psyche ist der Autorin nicht fremd – in Die Schwester dient ein älterer Herr dem Erzähler seine gar nicht existente Schwester so lange an, bis dessen wachsende Leidenschaft für das Fantom auch ein bisschen Wärme für den Schwesterlosen selbst abwirft. Und schließlich gibt es da eine junge Frau, Heldin der ganze drei (wunderbare) Seiten umfassenden Storie Die Fingerübungen, die von ihrem Vater als einziges Vermächtnis zwölf Fingertricks erlernt, um ihresgleichen zum Orgasmus zu bringen, wahrlich eine wertvolle Hinterlassenschaft.

Das Seltsame an den sechzehn Stories der 34-jährigen Autorin ist, dass sie kaum so passiert sein können, wie sie erzählt werden. Immer ist da irgendeine Überschreitung im Spiel. Etwas stimmt nicht, entzieht sich der Nachprüfbarkeit, scheint aus Bereichen, in die die Erfahrungen der Leser nicht hineinreichen, in die Erzählwelt, der sie hier staunend begegnen, herübergedrungen zu sein. Meist sind das nur kleine Dinge, aber sie sorgen dafür, dass der Blick auf das Ganze ein entschieden anderer wird. Surrealistische Farbtupfer wie der gelbe Bademantel einer Frau, auf der ein kleiner, brauner Hund, der ihr entlaufen war, tot nach Hause zurückgebracht wird. Geräuschpartikel und andere Sinneseindrücke, die eine Ordnung stören, der jede prästabilisierte Harmonie von vornherein abgeht.

Im Grunde befindet sich die Erzählwelt der Miranda July auf einer immer weiter werdenden Umlaufbahn um Dinge, die einmal wesentlich und gut waren, den Kern menschlicher Existenz zu bilden vermochten. Nun ist man von diesem Zentrum abgeirrt und sucht trotzig, aber auch vergeblich nach einer neuen Mitte, einem Tun, einem Gefühl, einer Begegnung, die frischen Sinn stiften könnten. Entsprechend viel wird geklagt, aber mit Witz und Verve und gelegentlich ganz umwerfenden Bildern in einer Sprache, die nie wirklich verzweifelt.

Dabei fehlen nicht die elementaren Dinge, nein. Miranda Julys Figuren sind nicht mittellos, selten krank und kaum je mangelt es ihnen an Bildung. Sollte man ihnen einen sozialen Ort zuweisen, würde der sich nicht an den Rändern der Gesellschaft finden, nicht oben und nicht unten, sondern in der breiten Mitte. Dennoch gebricht es an Wärme, Freundlichkeit und wahrer Freundschaft, weiß eigentlich niemand genau, warum er mit einem anderen Menschen zusammenlebt und was den derzeitigen Freund so einzigartig macht, dass er durch keinen anderen ersetzbar ist. Man verlässt und wird verlassen, sucht sich Ersatz für Liebe und entdeckt in den kleinsten, banalsten Gesten plötzlich etwas Heilendes für den Augenblick. »Beim Sex denken wir beide an andere, aber er sagt mir gern, wer diese anderen Menschen sind, und ich sage es nicht.«

Ja, manchmal fühlen sich die glücksfernen Figuren dieser sechzehn Erzählungen unvermutet einem kalten Luftstrom ausgesetzt. Öffnen sich geheime Türen, durch die sie die eigene Existenz verlassen könnten, Mut vorausgesetzt. Sehen sie sich plötzlich einem Menschen gegenüber, dessen einfaches Tun – wie das des Scheibenputzers in der Storie Der Mann auf der Treppe, den die Erzählerin an einer Tankstelle beobachtet – so viel mehr Realität und Wahrhaftigkeit zu enthalten scheint als die vielen komplizierten Dinge und Beziehungen, in die sie selbst heillos verwickelt sind. Mit diesem einen weggehen, noch einmal anfangen, das wäre es – doch stoisch fährt man weiter den gewohnten Weg.

So wie die Trockenschwimmer in einer der kürzeren Erzählungen des Bandes – Das Schwimmteam – bewegen sich alle Protagonisten der auf Bildern seltsam unzeitgemäß, zart und stets ein wenig verschreckt wirkenden Autorin durch eine Materie, die halb wirklich, halb erträumt ist. Natürlich möchten sie die Kunst des Sich-auf-dem-Wasser-Haltens beherrschen, immer oben sein und bei gutem Atem. Doch das gelingt ihnen nicht, denn von dem tragenden Element ist zu wenig da. Allein der Kopf der Schwimmer ist in die Wasserschüsseln eingetaucht. Den schweren Leib aber müssen sie hinter sich herziehen ihr Leben lang.
Miranda July, 1974 in Barre (Vermont) geboren, ist Filmemacherin, Performance-Künstlerin und Schriftstellerin.2005 kam ihr Spielfilm Ich und du und alle, die wir kennen in die Kinos.

Ihr literarisches Debüt Zehn Wahrheiten wurde mit dem Frank O'Connor-Preis ausgezeichnet. Miranda July lebt in Los Angeles.

Miranda July | Website

Dietmar Jacobsen     11.03.2008

Dietmar Jacobsen