Ja, vielleicht sollte man sogar von einem Reiseroman – oder besser: einem Reisepatchwork – sprechen. Denn die meisten von Sibylle Bergs Heldinnen und Helden sind permanent auf Achse. Tauchen mal in Europa auf, mal in Asien. Fühlen sich in Thailand ebenso fehl am Platz wie in den New Yorker Hamptons. Bekommen keine Luft in Bombay, keinen Mann in Bishkek und keinen Fuß auf den Boden des amerikanischen Traums in Venice Beach, Florida. Kurz und gut: Es sind Figuren, wie ihre Autorin sie immer wieder in ihren Büchern seit Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997) beschrieben hat. Sucher, die nichts finden. Trostlose „Erwachsenenmaschinen“, oder, wie es an anderer Stelle heißt: Protagonisten „... unklaren Alters mit einer großen Lebensmüdigkeit.“ Touristen, die unterwegs sind zu sich selbst, ohne je anzukommen. Mit dem ersten und dem letzten Kapitel schafft die Autorin so etwas wie eine Rahmenhandlung. Die Fahrt beginnt in Reykjavik und dort geht sie auch zu Ende. Geprägt sind beide Abschnitte durch Todesfälle, die je ein Paar auseinanderreißen. Trauert zu Beginn der Isländer Gunner Gustafson um seine Frau Gabriella, so hat er sein Haus 350 Seiten später an Frank und Ruth vermietet, die sich nach vielen individuellen Irrwegen getroffen und dann beschlossen haben, fortan ihr kleines Glück abseits der großen Städte, der vielen Menschen und all jener Ideen zu finden, die sie nur einsamer, nicht zufriedener gemacht haben. Doch Frank ist krank und stirbt in Ruths Armen, bevor sich bewahrheiten kann, was beiden wie die späte Summe aus all ihren Erfahrungen erschien – dass es zum Glück nichts Großes braucht, nichts von außen an den Menschen Herangetragenes, sondern nur die harmonische Zweisamkeit, das Sich-miteinander-Wohlfühlen zweier Menschen, für die alles andere dann in weite Ferne rückt. Nur die wenigsten von Bergs Figuren erhalten die Chance, zu solchen Erkenntnissen durchzudringen. Die Welt der vielen anderen dreht sich im Kreis und sie drehen sich mit. Hetzen von Ort zu Ort, um überall dasselbe zu finden. Fragen sich in der Fremde, warum sie die Heimat verlassen haben, und in der Heimat, welche Fremde voller utopischer Versprechen sie als nächstes probieren sollten. Nirgendwo gefällt es ihnen. Überall konstatieren sie Umweltzerstörung, Chaos und Schmutz. Schmutz, der wie eine alles gleich machende Kruste die Erde bedeckt. Ja, Sibylle Berg ist eine zornige Prophetin. Vor ihrem zornigen Auge hat kaum etwas Bestand. Alle Wege, die sich ihren Figuren öffnen, führen letztendlich in zugemüllte Sackgassen. Was immer auch probiert wird, es misslingt. Von allen Seiten dräut das Unheil heran. Und einem Tsunami halbwegs heil zu entkommen, ist weiß Berg kein Grund zu ausgelassener Freude – das nächstgrößere Unglück lauert schon um die Ecke. Aber sind all die halbverrückten Sinnsucher nicht selbst schuld? All die Rucksacktouristen und Kibbuz-Jünger in bereits fortgeschrittenem Alter? Die Likatier zu Füssen ebenso wie die Anhänger des uralten amerikanischen Traums oder jenes neueren Versprechens, aufgrund dessen man sich in die Maschen des weltweiten Netzes wirft? Gehörten denen nicht zuerst die Leviten gelesen? Sicherlich betreibt die Autorin auch stille Zivilisationskritik. Wo die Gewinner der Globalisierung und ihre Verlierer zu suchen sind, ist ihr schon klar – da, wo sie das aussichtslose Leben Letzterer beschreibt, wirkt ihr Buch übrigens am authentischsten und intensivsten. Aber sie hütet sich, mit Lösungen hausieren zu gehen. Allzu viel wurde auf diesem Markt schon feilgeboten und nichts davon hat sich wirklich bewährt. Es gibt eine Art Glück, sehr fragil, immer gefährdet. Aber schon, wenn man den Weg zu ihm hinausposaunt in die Welt, hört es auf zu existieren. Und selbst, wenn es von außen noch so aussehen mag – im Innern ist es längst abgestorben. Nach dem – fast happy endenden – Märchen Habe ich dir eigentlich schon erzählt ... (2006) ist Sibylle Berg mit ihrem bis dato umfangreichsten Roman Die Fahrt nicht nur zu ihren ästhetischen Wurzeln zurückgekehrt, sondern auch zu alten Überzeugungen: Kein Glück. Nirgends. Noch weiter hat sie ihre geografischen Horizonte hinausgeschoben, nun umfasst ihr Blick praktisch die gesamte Welt. Doch auch da sieht es finster aus – mit Ausnahme eines winzigkleinen Punktes, wo „nur vier Stunden ein schwaches Licht“ leuchtet. Nur sehen es die wenigsten.
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Dietmar Jacobsen
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