Das Romandebüt der Leipzigerin Kathrin Aehnlich erzählt mit erstaunlicher Sprachfertigkeit, viel Poesie und mutigem Realismus die Geschichte einer lebenslangen Beziehung. Skarlet – nicht Scarlett – und Paul – nicht Rhett – lernen sich im Kindergarten kennen, den sie gemeinsam in der DDR besuchen. Schon damals stehen sie sich bei gegen die verbissen pädagogisierende „Tante Edeltraut“, eine Megäre der sozialistischen Vorschulerziehung, für die jeder Tag ein Kampftag Auge in Auge mit dem Klassenfeind ist. In der Schule dann sitzen sie acht Jahre lang in der vierten Bank nebeneinander, schreiben voneinander ab und entwickeln ihre Eigenarten, denen sie von da an treu bleiben. Skarlet kennzeichnen Offenheit, Weltzugewandtheit und die Manie, nichts fraglos hinzunehmen. Paul, der nach dem Existenzialistenhäuptling Sartre eigentlich Jean-Paul heißt, fällt durch seinen Hang zum Grüblerischen, zum Sich-Abschotten vor den Zumutungen des Lebens auf. Obwohl Abenteuern prinzipiell nicht abgeneigt, reagiert er doch nie kopflos und wird so zum idealen Berater für die manchmal ihre Spontanität allzu ungestüm auslebende Skarlet. Freunde bleiben sie im Übrigen ein Leben lang – während Partner wechseln, Ehen enden und neue Liebschaften beginnen –, und vielleicht kann auch nur auf diese Weise jenes blinde Vertrauen wachsen, das ihrer Beziehung zugrunde liegt. Äußerer Anlass eines in Dutzende von heiteren und traurigen, skurrilen und hintersinnigen Geschichten sich kleidendes Erzählen ist Pauls Krebstod. Unsentimental und ehrlich, die Details des allmählichen körperlichen Verfalls nicht verschweigend und auch nicht die Tatsache, wie einsam ein in aller Öffentlichkeit sich vollziehendes Sterben den Betroffenen samt seinen Nächsten macht – plötzlich ruft niemand mehr an, erkundigt sich kaum einer noch nach dem Ergehen, zieht man das Nichtwissen der bitteren Wahrheit vor –, protokolliert der Roman die einzelnen Stadien der durch nichts aufzuhaltende Krankheit. Das in einem letzten Brief des Freundes erbetene Gedenken – „ein bißchen Geschichtenerzählen ohne Pathos“ hat sich Paul von Skarlet gewünscht – findet zunächst auf den Seiten des Romans selbst statt, ehe es an seinem Ende, wie gewünscht, in den vor Freunden und Verwandten ganz in Pauls Sinne gehaltenen Nekrolog am Sarg mündet. Das ist erzähltechnisch so raffiniert wie anrührend gemacht und wechselt ab mit einer Vielzahl von Szenen, die auf dunkelhumorige Weise die gefühllose Industrialisierung des Sterbens in unserer Gesellschaft karikieren. Anerzählt wird damit auch gegen falsche Pietät, Pomp und Kitsch anstelle von schlichter Besinnung und dem nur zu bekannten Hang öffentlicher Nachrufe, aus dem Wenigen, das bleibt von einem Menschen, ein Heldenleben zu konstruieren, wie es nur allzu oft in groteskem Widerspruch zu der Person selbst steht. Natürlich kann, wer will, sich aus den Erzählsplittern, die Kathrin Aehnlichs Roman in schierer Überfülle ausbreitet – nicht wenige der zum Teil mit glänzenden Pointen versehenen Episoden taugen ohne Wenn und Aber zu selbstständigen Erzählungen –, eine herkömmliche Biographie zusammensetzen. Es gibt Episoden aus allen Lebensabschnitten der Hauptfiguren, die chronologisch zu ordnen kein Problem wäre. Doch darauf kommt es der Autorin und ihrem Alter Ego Skarlet Bucklitzsch nicht an. Leben ist für sie mehr als eine Abfolge äußerer Ereignisse, in die ein Mensch verwickelt wird und zu denen er sich so oder so verhält. Es portionsweise auf einem Zeitstrahl zu verteilen, hieße, sich auch mit seinem Ende allzu friedlich zu arrangieren, einem Ende, das – wie in Pauls Fall – als nichts denn ungerecht empfunden werden kann Seit etwa 80 Millionen Jahren gibt es Löffelstöre. Das Erzählen ist nicht ganz so alt. Dass es, entgegen allen anders lautenden Botschaften, die von Zeit zu Zeit die Runde machen, auch heute noch zu funktionieren vermag, beweist dieses Buch. Neben der Geschichte von Paul und Skarlet erzählt es unaufdringlich auch die Geschichte von deren untergegangenem Land, einer Weltgegend, in der die Zeit stehengeblieben war, so dass es sich hier lebte wie an einem endlos langen Sonntagnachmittag. Das haben andere schon weitaus schärfer formuliert. Aber noch niemand so schön.
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Dietmar Jacobsen
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