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Hanna Lemke
Geschwisterkinder
Milla und Ritschie
In Hanna Lemkes neuer Erzählung Geschwisterkinder geht es um Nähe und Distanz, Einsamkeit und das Gefühl, im falschen Leben gelandet zu sein
Kritik |
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Hanna Lemke
Geschwisterkinder
Erzählung
München: Verlag Antje Kunstmann 2012
127 Seiten, 14,95 Euro
ISBN 978-3-88897-749-7
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Milena, genannt Milla, und Richard, genannt Ritschie, sind Geschwister. Sie jobbt in einem kleinen Spielzeugladen. Er arbeitet in der Bildredaktion einer Zeitung. Beide hatten einst hochfliegende Pläne, aber das Leben hat sie schnell dahingehend belehrt, dass Träume zwar nicht verboten sind, doch gefährlich werden können, wenn man sie mit der Realität verwechselt. Also hat man sich eingerichtet, jeder in seinem Provisorium. Man funktioniert, liebt ohne Herz, sehnt sich, ohne genau zu wissen wonach.
Hanna Lemkes neue Erzählung Geschwisterkinder erzählt die Geschichte zweier junger Menschen unserer Tage, die vorsichtig versuchen, das wiederzufinden, was sie einst verbunden hat. Wie aus dem Paradies der Kindheit Vertriebene, fühlen sie sich fremd und wurzellos. Jeder von ihnen bewegt sich durch sein Dasein, als sei er gar nicht richtig da, als wäre es das Leben eines x-beliebigen anderen, welches ihm zu leben aufgegeben ist. Klaglos wird dieses Los angenommen, zu groß ist die Erschöpfung, um zu protestieren, zu müde fühlt man sich, um noch nach etwas anderem Ausschau zu halten.
Einen Sommer lang begleitet der Leser Milla und Ritschie durch deren Alltag. Während die Thermometer in Berlin 37 Grad anzeigen, geht es bei Lemkes Protagonisten eher unterkühlt zu. Routiniert, fast automatenhaft erledigen sie ihre täglichen Geschäfte. Emotional aufs Äußerste reserviert halten sie ihre fragilen Partnerschaften am Laufen. Nie sind sie dabei sicher, ob der Zufall ihnen wirklich den richtigen Menschen über den Weg geschickt hat. Gestört wird das Einerlei der sich freudlos aneinanderreihenden Tage lediglich durch das Erscheinen eines guten Bekannten ihrer Eltern und die Einladung zu einer Hochzeit auf dem Lande – beides freilich Ereignisse, die die Helden der Erzählung zwingen, über Dinge wie Glück und Geborgenheit neu nachzudenken, weil andere scheinbar bewahren konnten, was ihnen irgendwann abhanden kam.
Ängste, die keine Ursachen zu haben scheinen, das quälende Gefühl, machtlos dabei zusehen zu müssen, wie die Dinge um einen herum sich auflösen und verschwinden. Und doch wird Hanna Lemkes Erzählung an keiner Stelle zum Psychogramm, versucht die Autorin nie, ihre Protagonisten zu sezieren oder gar zu therapieren. Statt ihnen unter die Haut zu gehen, verweilt sie an den Oberflächen, dem Außen. Das freilich beschreibt sie ganz genau, so genau, dass man unwillkürlich zu frösteln beginnt, wenn man mit den Augen von Milla oder Ritschie auf unsere Gegenwart sieht.
Erinnert hat mich das Lebensgefühl, welches die Erzählung Geschwisterkinder vermittelt, übrigens ein wenig an all die Verlorenen im Werk von Wolfgang Hilbig. Gestalten in einer Nebelwelt ohne feste Konturen, von denen es 1969 in dem Gedicht abwesenheit hieß: „wie lang noch wird unsere abwesenheit geduldet/ keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind/ wie wir in uns selbst verkrochen sind/ in unsere schwärze“. Der Systemwechsel, der zwischen diesen Zeilen des vor fünf Jahren verstorbenen sächsischen Dichters und der Prosa der 1981 in Wuppertal geborenen Hanna Lemke – die von 2002 bis 2006 ein Studium am Leipziger Literaturinstitut absolvierte – stattfand, hat offenbar wenig ändern können daran, dass sich Menschen nach wie vor als nicht zugehörig empfinden, ohne genau zu wissen, wie dieser existenziellen Falle zu entkommen wäre.
Schon ihr Debüt, den Erzählband Gesichertes (Kunstmann 2010), prägte der Ton, den Hanna Lemke in Geschwisterkinder jetzt wieder aufnimmt. Mit großer sprachlicher Schlichtheit und beständig die Perspektive wechselnd wird aus den beiden Hauptfiguren heraus erzählt. Deren abgeklärter Blick auf die Welt lässt Aufgeregtheit nicht zu. Für Milla und Ritschie sind die Dinge wie sie sind. Man geht einer geregelten Arbeit nach – aber als Herausforderung wird die nicht empfunden. Man hat einen Partner – aber Nähe will sich nicht herstellen. Nur das Verhältnis der Geschwister zueinander verändert sich im Laufe der Erzählung. Nicht dramatisch, aber immerhin so, dass für den Leser spürbar wird, dass es in diesen beiden Menschen noch arbeitet, dass da noch ein Sehnen ist, das einen Ort sucht, aus dem es einst vertrieben wurde.
Weitere Kritik: Hanna Lemke: Gesichertes (Dietmar Jacobsen)
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