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Volker Braun
Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer

Inmitten des „Großen Umsonst“

Volker Brauns Flick von Lauchhammer ist ein armer Schelm des anbrechenden dritten Jahrtausends

Volker Braun
Machwerk
oder
Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer
Suhrkamp 2008
Mit seinem Gedicht Das Eigentum hat Volker Braun im Sommer 1990 als einer der ersten deutschen Autoren einen poeti­schen Kom­mentar zur Lage im öst­lichen Teil seines Vaterlands am Vorabend der Wieder­ver­einigung abgegeben. Es wird seither viel zitiert, doch leider auch nicht selten miss­verstanden. Denn nicht von jammer­satter Ostalgie, eher von Paradoxie sollte wohl die Rede sein, wenn es heißt: „Was ich niemals besaß, wird mir entrissen. / Was ich nicht lebte, werd ich ewig missen.“ Braun geht es, wenn er schon einer Sache nach­trauert, im Eigentum eben nicht um das in der ver­flos­senen DDR manifest Gewordene, sondern darum, was dieses Land darzustellen vorgab, ohne es tatsächlich je zu sein. Das Unab­gegol­tene ist sein Thema, die Utopie, die in Ansätzen stecken blieb, um schließlich und endlich als büro­kratisches Zerr­bild alles einst Erhofften zu enden. Ein Zerr­bild, in dem sich Figuren wie Die vier Werkzeugmacher (1996) des­selben Autors bequem eingerichtet hatten, ohne auch nur zu ahnen, dass sie sich damit selbst das Wasser ab­gruben.

Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer nun stellt seinem Leser einen Arbeiter vor, der gut zu jenen vier „Wichten“ passen würde, die, als die neue Zeit ihr Werk erreicht, mit eigenen Händen einreißen müssen, was sie nie als ihr Eigen begriffen und entsprechend verwahrlosen ließen. Ganz in Volksbuchtradition – aufgeteilt in vier Bücher mit 48 Episoden und umrahmt von Einleitung und Nachrede – lässt Braun seinen aktuellen Protagonisten in der zerstörten Landschaft der Lausitz sich nach sinnvollem Tun umschauen. Allein das Angebot an Arbeit ist knapp geworden und die Nachfrage regelt das „Amt“, untergebracht in einem Bau „von dämonischen Dimensionen, es mochte wohl Platz sein, die Einwohnerschaft zu bergen.“

Von hier nun wird Flick ausgesandt. Mit Arbeitshosen, Schutzhelm und Karabinerhaken am Gürtel spielt er die schnelle Einsatztruppe unter- und übertage. Heilfroh ist die Beamtin Windisch, wenn sie dem knorzigen Alten, der die Zeichen der neuen Zeit nicht begreifen will, Minijob auf Minijob vermitteln kann und den unbequemen Gesellen damit jedesmal wieder für ein paar Wochen los wird. Mal mit, mal ohne seinen Enkel Ludwig, genannt Luten, schickt sie den Mann in „sein“ Land hinaus zu Abfallentsorgung, „Wiedervernässung von Mooren, ... Auszählen von Vogelnistplätzen“ und anderen Tätigkeiten, die allesamt kaschieren sollen, dass da, wo früher Muskelkraft das Unterste zuoberst kehrte, nichts mehr zu tun geblieben ist, als die Spuren einstigen Berserkerns zu verwischen. Doch Flick will nicht verstehen, in welcher Mission er da unterwegs ist, und so sorgt er stets aufs Neue für Ärger, mischt sich ein, wo man ihn nicht braucht, tritt als „Streikverbrecher“ in Erscheinung und steht alle naselang wieder vor dem Nichts.

Brieske-Ost und Bitterfeld, Horno und Hoyerswerda, Welzow und Luckau – Volker Braun, der diese Gegend kennt wie seine Westen­tasche, führt seinen Helden dorthin, wo einst verbissen um Zukunft gerungen wurde. Nun sind die Gegenden leer, die Tagebaue verwaist, die Hochöfen kalt. Die Hinter­lassen­schaften einer die Natur gnadenlos ausbeutenden Gesellschaft stinken zum Himmel und die Flicks, für die Arbeit und Leben immer zusammengehörten, wissen nicht mehr wohin, vergeuden ihre Kräfte in sinnlosen Aktionen und assistieren beim Sterben desjenigen, aus dem allein zu leben sie einst lernten.

Doch Braun lässt seinen Helden noch größere Kreise ziehen. Schließlich ist das Zeitalter weltweiter Vernetzung angebrochen. Wenn infolgedessen Calauer (!) in Passau Arbeit finden, während in den Restaurants vor Ort Serbinnen servieren, dann sollte es doch möglich sein, irgendwo auf der Welt ein Tun für zwei Hände, die nicht ruhen können, zu finden. Entsprechend erlebt der Leser Flick auch jenseits der Land­schaften, in die er hinein­geboren wurde, unter Wander­arbeitern in Spanien, Verbündeten in Polen und anderswo. Er sitzt mit ihm im Kino und lässt sich von Michael Glawoggers Dokumentar­film Workingman's Death (2005) erzählen, unter welch extremen Bedingungen Menschen überall auf der Welt heute noch arbeiten. Und für eine Stunde erlebt er ihn zusammen mit 700 anderen Menschen im Zuschauersaal der Berliner Volksbühne, wo Jürgen Kuttner im Rahmen seines „Ein-Euro-Abends“ fürs Zusammensitzen ebenso viel zahlt wie fürs Spargelstechen.

Machwerk ist – und das unterscheidet es dann doch von seinen litera­tur­historischen Urbildern – nicht so ganz leicht zu lesen. In typisch Braunscher Manier wird wortberserkert, zitiert, gekalauert und verballhornt, was die Feder hergibt. Will man jede Anspielung verstehen, reicht umfas­sende Belesenheit noch lange nicht aus. Und auch die zehn Verweise, die der Autor am Ende gibt, identifizieren nur einen Tropfen aus dem Meer all des Gedachten und Geschriebenen, auf das Bezug genommen wird. Immer wieder Immanuel Kant und Ernst Bloch, Marx und Mickel und das Buch Le Grand, Paul Gerhard, Guillaume Paoli samt den „Glücklichen Arbeitslosen“ und Goethes altes Paar – Philemon und Baucis – in seiner „stabilen Hütte“. Man erkennt ab und an den von dem Brechtschüler Braun so geliebten Sound des Meisters und ist dankbar, von einem Altvorderen der so genannten Sächsischen Dichterschule auf den großartigen Choral Die Landschaft kippt, wird grauer ... seines jüngeren Nachfolgers Christian Lehnert hingewiesen zu werden. Sprachwitz und Sprachwut werden in Stellung gebracht, wenn es gilt, gegen die Absurditäten des „Großen Umsonst“ namens Gegenwart anzu­rennen wie weiland Don Qichote – der ebenfalls Pate für die Flick-Figur gestanden hat – gegen die Windmühlen.

„Bekümmernis“, lässt Volker Braun an einer Stelle wissen, sei einer der Schreib­anlässe für dieses Buch gewesen. Beküm­mer­nis um seine Protagonisten und deren Welt. Bekümmernis um unsere Gegenwart. Bekümmernis um die Zukunft all derjenigen, die, wie Flicks Enkel Luten, Arbeit für sich neu definieren werden müssen, nachdem das bisherige Verständnis davon gemeinsam mit den Alt­vorderen in die Grube fuhr. Flick jedenfalls wird am Ende auf einem Acker begraben, unter dem noch Kohlevorräte schlummern. Eines Tages darf er also damit rechnen, wieder herausgeholt zu werden: „Es gab noch Arbeit nach dem Tod.“. Das ist nicht der ganz große Optimismus, aber immerhin ein Lichtstreif am Horizont.
Volker Braun: Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer. Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag 2008, 223 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-518-42027-0
Dietmar Jacobsen     07.05.2009   
Dietmar Jacobsen