Deshalb werden in dem titelgebenden Krematorium auch weit mehr als nur die Überreste des unbelehrbaren Idealisten Matías verbrannt. Es sind die Werte einer ganzen Generation – der ersten nach der dunklen Franco-Zeit –, die hier in einem melancholischen Abgesang zu Grabe getragen werden. In den einzelnen Personen, deren Stimmen-Chor das Buch strukturiert, hat Chirbes ein Panorama von Charakteren geschaffen, das dieser Generation samt ihren Nachfolgern ein Gesicht geben soll. Rubén Bertomeu, der ältere Bruder des verstorbenen Matías, steht dabei aus gutem Grund im Zentrum. Er ist der Macher der Familie, derjenige, welcher den Reichtum des Clans einst schuf und nun mehrt ohne Rücksicht auf Verluste. Von seiner Energie sind alle anderen mehr oder minder abhängig. Dass ihn Tochter und Ehefrau wegen dieser über alle Widerstände sich hinwegsetzenden Robustheit hassen, ist ihm egal – schließlich leben sie nicht schlecht von seinen Geschäften. Seit Jahren baut er Hotels und Bungalows ans Mittelmeer, verwüstet ganze Küstenstriche um des Profites Willen. Nichts gilt ihm die Umwelt, Gesetze umgeht er, wo Widerstand gegen seine Vorhaben erwogen wird, hat er die geeigneten Männer fürs Grobe zur Hand. Und würde Rubén den Selbstzweifeln, von denen er nicht verschont wird, auch nur für einen Moment nachgeben, so wäre das der Augenblick, in dem seine Konkurrenten hohnlachend an ihm vorbeizögen. Nein, dieser Mann kann nicht anders. Zu sehr hat er sich in den zurückliegenden Dekaden verstrickt in das alles umfangende Netz aus Korruption und schmutzigen Geschäftspraktiken. Zu sehr ist er angewiesen auf Geld und die Macht, die aus Reichtum erwächst. Zu sehr ist er verpflichtet all jenen ihn umgebenden Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, die gleichzeitig mit ihm nach oben gekommen sind. Geblieben ist ihnen allen zusammen nur noch der Eigennutz. Geblieben sind Oberflächlichkeit im Zwischenmenschlichen, Drogen und liebloser, schneller Sex als Stimulanzen, Hemmungs- und Skrupellosigkeit bei der Aneignung all jener Dinge, die man einmal unter allen aufteilen und für seine Kinder und Enkel bewahren wollte. Und niemand in Rafael Chirbes Romanwelt ist besser als der, welcher den Reigen der Stimmen eröffnet. Obwohl viele vorgeben, Rubéns Weltsicht zu verachten, einen neuen Geist zu leben, wird auch ihr Handeln von nichts als Eigennutz bestimmt, intrigiert man gegeneinander und kämpft verbisssen um die wenigen Plätze an der Spitze der Gesellschaftspyramide. Auch Rubéns Frau Mónica, die unter allen Umständen – und keine Gemeinheit und Hinterlist scheuend – Karriere machen will. Auch seine Tochter Silvia, die sich als dünnhäutige, linke Kunstgeschichtlerin gibt und in der Ehe mit dem egoistischen Literaturwissenschaftler Juan nichts als Trostlosigkeit empfindet. Und letzten Endes auch jene Gestalt, die von der Anlage her Rafael Chirbes selbst noch am nächsten kommt – Federico Brouard, landesweit bekannter Schriftsteller und Freund der Bertomeus von Anfang an, den Wehmut und Alkohol über sein Scheitern im Alter hinwegtrösten sollen. Chirbes Leser blicken mitten hinein in eine Hölle. Der Autor überantwortet sie einem Pandämonium von Gestalten, die heillos verstrickt erscheinen in sämtliche Katastrophen der Welt von heute. Erderwärmung und Terrorismus, verstopfte Straßen und entwaldete Gebirge, Genexperimente und Kriege auf allen Kontinenten – alles hängt zusammen und nichts wird ausgelassen, um zu verdeutlichen, wie düster es um die Gegenwart bestellt ist. Und doch ist keiner der Protagonisten des Autors in der Lage, einzuhalten, ja umzukehren. Lernen aus den eigenen Fehlern – dafür gibt es keine Zeit. Sich Verbündete suchen – aussichtslos, wo doch jeder sich auf seinem eigenen einsamen Weg befindet. Nur ja voran, nur ja nicht Innehalten, während im Rücken das Paradies versinkt.
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Dietmar Jacobsen
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