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Volker Braun

Werktage. Arbeitsbuch 1977 – 1989

Auf Brechts Spuren

Volker Braun hat auch mit 70 Jahren nichts von seiner kämpferischen
Haltung eingebüßt

Kritik
Volker Braun: Werktage. Arbeitsbuch 1977 – 1989   Volker Braun
Werktage. Arbeitsbuch 1977 – 1989
Suhrkamp Verlag 2009
998 Seiten, 29,80 Euro

Volker Braun ist kein Brecht-Apologet. Dass er aus der Brecht-Schule kommt, kann er freilich nicht verleugnen. Gerade die beiden neuesten Publi­kationen des im vergangenen Jahr 70 Jahre alt Gewordenen – die an den Roman Machwerk (2008) anschließende kleine Textsammlung Flickwerk sowie das voluminöse, rund 1000-seitige Werk-Tagebuch (Werktage-Buch) der Jahre 1977 bis 1989 – erinnern nicht von ungefähr an die Art und Weise, wie sich der listige Augsburger einst in die Geschäfte einer als verbesse­rungsbedürftig empfundenen Welt einmischte. Lassen die Flick-Geschichten dabei an jene um die Figur des Herrn Keuner herumgeschriebenen Prosa­stücke denken, orientiert sich das Tagebuch, dessen sich auf die Zeit nach 1989 beziehender zweiter Teil noch folgen soll, mehr oder weniger deutlich am berühmten Arbeitsjournal 1938 – 1955.

Mit den Jahren 1977 bis 1989 nimmt es sich dabei jene Jahre vor, die nach der Biermann-Ausbürgerung im November 1976 die größten Zerreißproben für DDR-Künstler bereithielten. Begegneten die einen dabei der Reform­unwilligkeit des starren Staatssozialismus mit radikaler Abkehr, entschied sich Volker Braun, nicht ohne ebenfalls gelegentlich darüber nachzudenken, die DDR zu verlassen, schlussendlich dafür, zu bleiben und für seine Vision eines „anderen Sozialismus” einzutreten. Wie aufreibend das für einen seine Kunst nicht zuletzt als (helfende) Kritik am Existierenden begreifenden Autor sein konnte – davon vermitteln die vorliegenden Aufzeichnungen einen deut­lichen Eindruck. Praktisch kein in den 13 Jahren bis zum Ende der DDR erscheinender Text ließ sich ohne Weiteres durchsetzen. Scharmützel mit der SED-Bürokratie und den Zensurbehörden gehörten zum Tagesgeschäft. Um Aufführungen von Stücken wie Großer Frieden (1979) oder Die Über­gangsgesellschaft (1987) musste gekämpft werden. Prosabände wie den Hinze-Kunze-Roman (1985) ohne Zugeständnisse an die Einwände einer wort­gläubigen Nomenklatura in die Öffentlichkeit zu bringen, kostete Kraft, Zeit und Nerven.

Und doch ist das Braunsche Arbeitsbuch auch Zeugnis eines Aufweichungs­prozesses. Denn so unversöhnlich sich ein keinen Zentimeter von seinen dogmatischen Positionen abweichender Staat und seine besten Intellek­tuellen nach der Biermann-Affäre auch gegenüberstehen mochten – die Ge­schichte zurückzudrehen war dennoch nicht möglich. Mit der Solidarisie­rungsaktion von künstlerisch Tätigen aus den unterschiedlichsten Bereichen hatten diese für sich selbst einen Grad an Freiheit erkämpft, hinter den sie sich bis in die letzten Tage der DDR hinein nicht mehr zurückdrängen lie­ßen. Wobei die Ausreise in das andere Deutschland, die plötzlich für die­jenigen möglich wurde, deren Dissens zum System überhaupt nicht mehr überbrückbar schien, auch für den Staat keine wirkliche Lösung darstellte. Denn in nicht wenigen Fällen hatten gerade jene ungeliebten Dissidenten, die sich beharrlich weigerten, dem Staat nach dem Mund zu reden, zum Ansehen der DDR in der Welt nicht unbeträchtlich beigetragen.

Das Arbeitsbuch 1977 – 1989 dokumentiert jene Zeit aus der Sicht eines mit allen seinen Lebensfasern in sie Verwickelten, geht dabei aber weit über das Nur-Persönliche hinaus und wird somit zum Protokoll eines Veränderungs­prozesses, der, um Auswirkungen auf die gelebte Realität im östlichen Deut­schland zu haben, letzten Endes der Einsicht der Herrschenden bedurft hätte. So weit aber kam es nicht. Braun – als bekennender Dialektiker – sucht die Schuld am Scheitern des Projektes Sozialismus im Osten Deut­schlands freilich nicht nur bei den gegenwartsblinden Systemlenkern, die nicht einmal mehr der frische Wind der Gorbatschowschen Reformpolitik aufzustören vermochte. Für den Dichter trifft auch jene eine Mitverant­wortung, die nominell das Sagen hatten im Arbeiter- und Bauernstaat, ihre Mitarbeit am Projekt Zukunft aber auf das Nötigste beschränkten.

Ganz wie Brechts Arbeitsjournal präsentiert sich Brauns Unternehmen als heterogenes Text- und Bildkonglomerat. Gedichte stehen neben nüchternen Tagwerk-Beschreibungen. Prosaminiaturen wechseln mit Privat- oder Zeitungsbildern ab. Gesprächsnotizen folgen auf Probenberichte. Mal kom­men die Einträge kurz und gerafft daher, mal lässt sich der Autor länger Zeit, bekennt seine Aufgewühltheit durch bestimmte Erlebnisse oder Gespräche oder gibt Trauminhalte wieder. Wünschen würde man sich unter dem Strich einen Apparat, der etwas mehr Ordnung in das Ganze brächte. So ganz ohne historisch-biografische Anmerkungen, ohne ein Personenverzeichnis und ohne weiterführende Kommentare zu lediglich nur Angerissenem steht zu befürchten, dass dieses Buch, das wichtig ist für das Verständnis von Entwicklungen in der späten DDR bis hin zu ihrer Selbstauflösung, von Lesern mit östlicher Sozialisation besser und genauer verstanden werden wird als von jenen, für die es eigentlich noch interessanter sein müsste, weil sie an den historischen Prozessen nur als neugierige Zaungäste teilnahmen.

Wie gering im Übrigen die Chance des Staates, „in dem man am besten schreiben und am schwersten publizieren” konnte, war, den auf Globali­sierung hindrängenden informationstechnischen und ökonomischen Ent­wicklungen auszuweichen, lässt sich dem Diarium auch entnehmen. Irren sollten sich freilich diejenigen, die auf die Verwandlung des sozialistischen Saulus in den marktwirtschaftlichen Paulus setzten, der sein Leben fortan in ewiger Dankbarkeit und ohne jeden kritischen Gedanken gegenüber der gewandelten Realität verbringen würde.

Da Volker Braun zu jenen Privilegierten gehörte, für die die Grenzen der kleinen DDR keine unüberwindbaren Hürden darstellten, macht sein Tage­buch an nicht wenigen Stellen den Leser auch zum Mitreisenden ins so ge­nannte „nichtsozialistische Ausland”. Und hier wird man dann zum Zeugen eines Blickes auf jene anders geartete Wirklichkeit, die schon zu faszinieren versteht, aber auch genug Abstoßendes besitzt, um ihr nicht Hals über Kopf zu verfallen. „westliche freiheitliche unordnung oder östliche unfreie ord­nung”, wie der Eintrag vom 28. August 1987 festhält, stellen im Grunde keine Alternativen für den Dichter dar. Von hier aus ist es dann auch zu verstehen, dass sich Braun und andere in der Zeit zwischen dem Mauerfall im November 1989 und dem Beitritt ein knappes Jahr später für einen „dritten Weg” stark machten, ein Vorhaben, dass allerdings utopisch war angesichts der Ungeduld auf den Straßen.

Die Werktage 1977 – 1989 enden mit dem Eintrag vom 31. Dezember des Wendejahres. Da heißt es: „nun haben wir eine biographie. aus dem wider­stand und der geducktheit tretend, haben wir jeder eine geschichte durch­laufen, unter die ein harter strich gezogen wird. unter die alten wahrheiten, unter die alte zukunft. aber wir werden nicht loskommen davon, weil wir sie nicht gelebt haben, weil nichts war ... während wir nun alle hinüber gehn, in die schöne fremde.” Das klingt nicht so, als gebe sich ein kritischer Geist den neuen Verhältnissen bedingungslos hin. Spätestens der zweite Band des Arbeitsbuches sollte zeigen, wie kämpferisch Braun auch nach dem Systemwechsel geblieben ist. Bis der erscheint, darf man aber schon einmal ein paar die Gegenwart wie Blitzlichter erhellende Kalendergeschich­ten lesen.

Unter dem mehrdeutigen Titel Flickwerk – die Kunstfigur des Flick von Lauchhammer aus dem 2008 erschienenem Schelmenroman Machwerk schimmert hier genauso durch wie die eingangs des schmalen Büchleins erinnerte Äußerung des „Arbeitsmarktexperten Burda”, bei Lohnzuschüssen, 5000 zusätzlichen 1-Euro-Jobs sowie diversen Maßnahmen zur Lockerung des Kündigungsschutzes handele es sich lediglich um generelle Probleme nicht lösendes „Flickwerk” – versammelt das schmale Bändchen 64 exem­plarische Prosaminiaturen. Ihr Thema ist das Fehlen von Arbeit sowie die vielen unnützen Versuche, unvernünftigen Zeiten mit scheinbar vernunftge­prägten Maßnahmen zu begegnen. Dabei beschränkt sich Braun keines­wegs auf die Grotesken, die er vor seiner Haustür findet. Flickwerk sammelt global Beispiele dafür, dass heute zu leben in immer unsicherer werdenden Verhältnissen zu leben bedeutet. Dem mit einem Reförmchen nach dem anderen zu begegnen ist nicht mehr als – aufs Ganze gesehen – aktionis­tische Narretei.

In kurzen, auf die schnelle Pointe hin geschriebenen, exemplarischen Geschichten erzählt Volker Braun von Zeiten, in denen verheiratet zu sein schon soziale Nachteile mit sich bringen kann. Er berichtet von Jobver­mittlern, die stolz auf die hundert Stellen sind, die sie anzubieten haben, ohne zu begreifen, dass den Zigtausenden ohne Stelle damit nicht wirklich geholfen ist. Es geht um „Sozialspione”, die Bedürftige ausschnüffeln, und um den stückweisen Verkauf von Körperteilen auf dem Organmarkt, da der ganze Körper samt seiner Kraft nicht mehr im Ansehen steht. Von der Scham, Bedürftigkeit zuzugeben, ist die Rede genauso wie von den Ver­lockungen, das komplizierte Unterstützungssystem zum eigenen Vorteil auszutricksen.

Man merkt den knappen Texten deutlich an, mit welchem Spaß ihr Autor in ihnen nicht nur auf den Spuren Brechts, sondern auch auf jenen Johann Peter Hebels, Franz Kafkas und der Volksbuch-Tradition wandelt. Wobei man den Begriff „Spaß” nicht missverstehen sollte. Denn es ist ein bitteres Lachen, hinter dem sich die zunehmende Unbehaglichkeit des Lebens in einer immer mehr aus den Fugen geratenden Welt versteckt, welches von derart sarkastischem Humor ausgelöst wird. Ein Lachen aus Hilflosigkeit sozusagen, wenn nicht aus Verzweiflung. So wie die Bordkapelle der „Titanic” noch eine ganze Weile weiterspielte, nachdem die ersten Pas­sagiere schon im eiskalten Wasser ertrunken waren und die Situation nicht mehr schönzureden war.

„Als auch die Westwelt vor einer Wende stand, hatte sie nicht so ver­lockende Worte: sondern mehr krisenhafte Begriffe wie Abwrackprämie”, heißt es zu Beginn der vorletzten Geschichte des schmalen Bändchens. Volker Braun hat die deutsche Literatur der Gegenwart in den vergangenen beiden Jahrzehnten mit einer Reihe von Figuren angereichert, deren Ge­schäft genau darin bestand: im Abwracken dessen, was sie im halben Jahrhundert davor auf die Beine gestellt hatten, ohne es je wirklich als ihr Eigentum zu begreifen. Prämien hatten sie fürs Wegräumen der Trümmer dieser Vergangenheit nicht zu erwarten. Stattdessen wurde ihnen – in Brauns Diktion – die Freiheit „ausgehändigt”. Weder das Werktagebuch noch die kleine Geschichtensammlung Flickwerk lassen allerdings einen Zweifel daran aufkommen, dass ihr Autor es besser fände, sie würden sie sich täglich selbst und immer wieder neu erobern.

Weiteres zu Volker Braun:
Machwerk rezensiert von D. Jacobsen
im Zettelkasten von Lutz Hesse
Zeitschriftenlese von Michael Braun

Dietmar Jacobsen   30.07.2010   
Dietmar Jacobsen