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Daniel Kehlmann
F

„Leben, ohne ein Leben zu haben ...“

Geschickt vermischt Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman F die Lebens­geschichten dreier Brüder zu einem Panorama unserer Zeit

  Kritik
  Daniel Kehlmann
F
Roman
Reinbek: Rowohlt Verlag 2013
380 Seiten, 22,95 EUR
ISBN 978-3-498-03544-0


Es weht ein Hauch von Mario und der Zauberer durch das erste Kapitel von Daniel Kehlmanns neuem Roman F. Der „große Lindemann“ ist in der Stadt. Man schreibt das Jahr 1984 und Arthur Friedland, ein Schriftsteller ohne Ehrgeiz und Verlag, nimmt seine drei Söhne – Martin, den Ältesten aus erster Ehe, und die Zwillinge Iwan und Eric – mit in die Nachmittagsvorstellung des Hypnotiseurs, der auf Pla­katen ver­spricht, seinen Zuschauern ihre Träume fürchten zu lehren. Arthur glaubt sich gefeit vor den Tricks des Illu­sionis­ten. Doch nachdem der seinen Sohn Iwan dazu gebracht hat, den eigenen Namen zu ver­gessen, muss er selbst auf die Bühne und vor dem ganzen Saal bekunden, dass er sich aus dem Leben, welches er führt, gern weg­stehlen würde. Als die Vorstellung schließlich vorbei ist, setzt der nach­denklich Gewor­dene alle drei Söhne vor Martins Zuhause ab und ver­schwindet auf Nimmer­wieder­sehen: „In den fol­genden Jahren aber er­schienen die Bücher, deret­wegen die Welt Arthur Friedlands Namen kennt.“

Eine Geschichte und eine Pointe, wie sie im Moment in der deutschsprachigen Literatur vielleicht nur Daniel Kehlmann hinbekommt. Doch während sein letztes Buch Ruhm – das ebenfalls die Bezeichnung „Roman“ trug – weitaus lockerer mit den Genregesetzen umging und neun Geschichten nebeneinanderstellte, die nur äußerst locker miteinander verknüpft waren, konzen­triert sich F in den auf das Eingangs­kapitel fol­genden fünf Teilen auf das weitere Schick­sal der drei Söhne Arthur Friedlands. Wir erleben Martin als einen Pfar­rer, der nie zum Glauben findet, Eric als einen betrüge­rischen Finanz­berater und Iwan als einen Maler, der seine Bilder als die eines anderen ausgibt, um mit ihnen als Galerist und Ver­walter dieses Mannes riesige Gewinne zu machen.

Kehlmanns Roman spielt, nachdem er den Sprung in die Gegenwart ge­schafft hat, an einem einzigen Tag, dem 8. August 2008. Es ist das Jahr vor der Wirt­schafts­krise. Doch die wirft ihre Schat­ten bereits voraus. Wie in Trance läuft der klaustro­phobische Eric durch ein Leben, in dem ihm nichts mehr glücken will, und wo er jeden Betrug, der ihm droht auf die Füße zu fallen, durch einen neuen Be­trug kaschieren muss. Zuflucht findet er weder bei Frau noch Geliebter und auch die Brüder vermögen nicht, seinen psychi­schen und physischen Zusammen­bruch aufzuhalten.

Finanzkrise, Glaubensverlust, zunehmende Gewalt unter Jugend­lichen – Iwan wird von einem Minderjährigem auf offener Straße erstochen, weil er sich einmischt, um einem anderen zu helfen –, die Über­trei­bungen im Kunst­geschäft samt dem Zirkulieren zahl­reicher Fälschungen – Kehlmann hat sich die Themen heraus­gesucht, die unsere Gesell­schaft in den letzten Jahren beschäftigten. Dass er sie samt und son­ders vier mit­einander verwandten Figuren aufgebürdet hat, mag manchem arg kon­stru­iert vor­kommen. Doch Literatur, das sollte man nicht vergessen, ist ja letzten Endes nichts als geschickte Kon­struktion, etwas aus Rea­litäts­splittern – aber nicht nur diesen – Gemachtes. Die Welt in einer Nuss­schale oder – wie hier – in einer Familie eben.

Lässt man sich, das bedenkend, ohne Vorbehalt auf Daniel Kehlmanns Welt und seine Art, diese zusammen­zubauen, ein, ist Lese­vergnügen garantiert. Der Autor ist nämlich im Vergleich zu seinem inzwi­schen auch ver­filmten Bestseller Die Vermessung der Welt und allem, was dem vorausging oder folgte, noch besser geworden. Er beherrscht die Tricks und zeigt sie gerne vor. Etwa die Per­spektiv­verschie­bungen, bei denen ein und das­selbe Ereig­nis aus mehreren Innen­sichten heraus geschil­dert wird. Oder die sprach­lich geschickt ins Werk gesetzte Dis­kre­panz zwischen Denken und Tun – wenn zum Beispiel ein im Beicht­stuhl Schoko­riegel mamp­fender katho­lischer Priester, der gern an Gott glauben möchte, das aber noch nie in seinem Leben hinbe­kommen hat, gerade jenem Beicht­kind gedanken­los Absolution erteilt, das kurz zuvor seinen Halb­bruder getötet hat.

Und wofür steht der Buchstabe im Titel des Romans? Der Familienname der Friedlands beginnt mit ihm. Das Buch selbst auf seinen letzten Seiten macht das Angebot, hinter ihm das Schicksal, Fatum, zu erblicken. Ein Schicksal, wie es Arthur Friedland in einer an die Söhne geschickten Erzäh­lung, die als „Buch im Buch“ in den Roman­text Kehl­manns Ein­lass gefunden hat, als blind und haupt­säch­lich von Zu­fällen bestimmt darstellt. In einem zweiten Text des Vaters, der nur reka­pitu­lie­rend erwähnt wird und Mein Name sei Niemand heißt – wer hier an Max Frischs be­rühmten Ganten­bein-Roman denkt, liegt so falsch nicht – figuriert dann gar die Hauptfigur als F. Doch wäre auch sicher die Ver­mutung ge­recht­fertigt, es ginge bei diesem vielfach ausdeut­baren Buchstaben um das Falsche im Leben oder den Zwang zur Fälschung des­selben im Zeitalter all­gegen­wärtiger Medien, will man nicht unbeachtet bei­seite­stehen, wo jeder sich sein eigenes Schicksal erfindet.
Dietmar Jacobsen   09.12.2013   

 

 
Dietmar Jacobsen