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Stephan Thome
Fliehkräfte
»Unsere Art zu leben«
Stephan Thomes neuer Roman Fliehkräfte ist Roadmovie und Gesellschaftsanalyse zugleich
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Stephan Thome
Fliehkräfte
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2012
474 Seiten, 22.95 Euro
ISBN 978-3-518-42325-7
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Hartmut Hainbach heißt der Protagonist in Stephan Thomes neuem, nach Grenzgang (Suhrkamp 2009) zweitem Roman Fliehkräfte. Der Mann ist Philosophieprofessor, Spezialist in Sachen Sprechakttheorie, kennt sich im Werk von John Searle freilich deutlich besser aus als im eigenen Leben. Die Reise, auf die ihn der Leser über weite Strecken des Buches begleitet, führt ihn deshalb nicht nur von Bonn über Frankreich und Spanien bis an die portugiesische Atlantikküste, sondern auch über etliche in den Text eingelagerte Erzählrückblicke zu entscheidenden Stationen seiner Biografie. Die Weichenstellungen, die dabei jeweils vorgenommen wurden, haben sich jetzt im Lichte einer Gegenwart zu bewähren, in der Thomes Held, der die Mitte des Lebens schon um einiges überschritten hat, darüber nachdenkt, sich aus den Determinanten seiner bisherigen Existenz zu befreien und noch einmal ganz neu zu beginnen.
Auf den Prüfstand kommen dabei sowohl die ihn zunehmend frustrierenden Umstände seiner Tätigkeit als Hochschullehrer als auch die Tatsache, dass er den menschlichen Kontakt zu seiner Frau wie auch zu seiner erwachsenen Tochter zu verlieren im Begriff ist. Die Wochenendehe, die er seit geraumer Zeit mit der an einem Berliner Theater tätigen Portugiesin Maria führt, hat auf seiner Seite keineswegs zu einer Wiederauffrischung der etwas eingeschlafenen Beziehung geführt. Und als Letzter der Familie erfährt er auch, dass die in Santiago de Compostela studierende Tochter Philippa schon länger in einer festen lesbischen Beziehung lebt. Zeit also, sich verlorenes familiär- persönliches Terrain zurückzuerobern und darüber nachzudenken, welche in der Vergangenheit wichtigen Positionen man dafür räumen könnte.
Thome erzählt die Odyssee seines gelehrten Helden mit viel Humor, einem ausgesprochenen Händchen für Dialoge und einer Sprachkraft, die unter den Autoren seiner Generation ihresgleichen suchen dürfte. Man lese nur den allerersten Abschnitt des Romans, der in die Doktorandenzeit Hainbachs zurückführt, nach Minneapolis, wo die Weichen für die spätere Berufskarriere gestellt werden. Wie hier hinter einem Naturbild die ganze Zukunft dieses jungen, unsicheren Mannes aufblitzt, ist wunderbar gemacht und endet mit dem fast prophetisch wirkenden Satz: „Er hat sowieso keine Ahnung, was das sein soll: Der Mythos des Gegebenen.“ Nach dieser Eröffnung sich dem Fortgang des Buches noch zu entziehen, dürfte schwer fallen.
Hainbachs Leben wird vor allem von Frauen bestimmt.Weder als Student noch als mühsam sich seinen Weg in der Universitätshierarchie nach oben kämpfender Akademiker hat er Mühe, sie kennenzulernen. Kennenlernen und Verstehen sind allerdings zwei Dinge, die kaum je im Leben dieses Mannes zur Deckungsgleichheit gelangen.
Und so braucht es nicht nur das Erinnern an sechs zurückliegende Lebensstationen, sondern auch die Begegnung mit einer holländischen Tramperin, die gerade ihren Freund verlassen hat, weil der sich ihrer ein bisschen zu sicher war, ehe Hartmut Hainbach anfängt zu begreifen. Zu begreifen, dass er seiner eigenen Frau, indem er sie in das klassische bürgerliche Rollenschema pressen wollte, die Luft zum Atmen nahm. Zu begreifen, wie borniert und ignorant er sich der Tochter gegenüber verhalten haben musste, damit die ihn über wichtige Lebensentscheidungen so lange im Unklaren ließ. Und zu begreifen, dass der ganz andere Lebensweg, den seine Schwester gegangen ist, viel mit dem kleinbürgerlichen Elternhaus in der hessischen Provinz zu tun hatte und eine ganz eigene Form von Glück als Resultat hervorbrachte.
Stephan Thomes Buch ist Radmovie und Gesellschaftsroman in einem. Man erfährt bei der Lektüre tatsächlich eine ganze Menge über „unsere Art zu leben“, wie es an einer Stelle heißt. Über verloren gegangene Gewissheiten und jene dem Roman seinen Titel gebenden Fliehkräfte, die das menschliche Leben immer wieder in unruhiges Fahrwasser bringen. Doch bei aller Problembeladenheit liest der Roman sich leicht und erinnert nicht von ungefähr an die Bücher von Max Frisch und die Filme von Ingmar Bergmann, auf die im Text mehrmals angespielt wird. Ganz zum Schluss will es sogar scheinen, als könnte noch einmal alles gut werden mit einer Familie, in deren unglücklicher Genese sich auch der Zwiespalt zwischen alter und neuer Bundesrepublik – fokussiert in der Ex-Hauptstadt Bonn, in der Hartmut Hainbach seinen Frust schiebt, und der neuen Metropole Berlin, in der Hainbachs Frau Maria ihr Glück sucht, ohne es wirklich zu finden - widerspiegelt.
Für Happyends freilich hatte Hainbachs Lieblingsschriftsteller Frisch nichts übrig. Und so weiß man am Ende auch nicht ganz genau, ob man der Szene des ins Meer hinausschwimmenden Helden nicht die Bedeutung unterlegen soll, die das fast gleiche Szenario in der kleinen Skizze eines Unglücks (II) aus dem Tagebuch 1966 1971 besaß. „Einmal möchte er es wissen. Er schwimmt hinaus, solange die Kräfte reichen, und sie reichen so weit, bis man kein Land mehr sieht“, heißt es da bei dem Schweizer. Thome schreibt: „Das Wasser trägt ihn ... Die Küste wird breiter, Hartmut kann bereits die Lichter des nächsten Dorfes erkennen, und sein Staunen hält an. Nach einigen Zügen dreht er sich auf den Rücken, stellt alle Bewegungen ein und folgt der sanften Strömung des Meeres ... Endlich, denkt er. Streckt Arme und Beine aus und betrachtet den Mond.
Die Fliehkräfte ruhen.
Er schwimmt.“
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