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David Vann
Aquarium

Ende einer Kindheit

In seinem neuen Roman Aquarium erzählt David Vann zum ersten Mal eine Geschichte, die gut ausgeht – auch wenn er sich dazu mächtig verrenken muss

  Kritik
  David Vann
Aquarium
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
Berlin: Suhrkamp Verlag 2016
283 Seiten, 22,95 €
ISBN 978-3-518-42536-7

Weitere Rezensionen von
Dietmar Jacobsen zu David Vann:
Goat Mountain
Im Schatten des Vaters



Die zwölfjährige Caitlin Thompson geht jeden Tag nach Schulschluss in Seattles Aquarium. Nach Hause – Caitlin wohnt mit ihrer alleinstehenden Mutter Sheri in einem Vorort der Stadt im Nordwesten der USA – ist es weit, und so nutzt das Mädchen die Zeit, bis die im Containerhafen arbeitende Mutter sie endlich abholen kommt, um in die fantastische Welt von Wesen einzudringen, die mit ihrer bunten Vielgestaltigkeit eine Art Gegenpol zu der von Caitlin Tag für Tag erlebten Tristesse darstellen. Zu Hause bestimmt Armut ihr Leben. In der Schule ist sie Lehrern ausgeliefert, die sich wenig um die Förderung ihrer Talente kümmern. Freunde besitzt das auf andere seltsam und verschlossen wirkende, träumerisch veranlagte Mädchen bis auf die jüngst mit ihrer Familie aus Indien in die USA gekommene Shalini nicht.
  Das scheint sich zu ändern, als sich eines Tages ein alter Mann zu ihr setzt. Da er die Fische genauso zu lieben scheint wie Caitlin selbst, die einmal Meeresbiologin werden möchte, kommt schnell Vertrautheit zwischen den beiden auf. Von da an trifft man sich täglich, sitzt in der schummrigen Atmosphäre des Aquariums beeieinander und plaudert über Gott, die Welt und die Vielgestaltigkeit und Exotik der Wasserwesen, die hinter den dicken Glasscheiben an ihren aufmerksamen Beobachtern vorübergleiten. Bis der Fremde eines Tages das Mädchen darum bittet, ihm ihre Mutter vorzustellen.
  David Vann hat in seinen bisherigen Büchern immer die dunklen Seiten menschlichen Miteinanders thematisiert. Zur Literatur gekommen durch die Erlebnisse von Gewalt und mehreren Selbstmorden in seiner Familie, hat er sich mit Büchern wie Im Schatten des Vaters (2008, deutsch 2011), Die Unermesslichkeit (2011, deutsch 2012), Dreck (2013) und zuletzt Goat Mountain (2014) freizuschreiben versucht von den Bedrückungen und Ungeheuerlichkeiten der eigenen Biografie. Deren Helden sind verzweifelte, einsame Menschen, denen die Familie nicht Wärme und Geborgenheit, sondern Hass und Kälte vermittelt. Gewalt – gegen sich selbst und gegen andere – prägt deshalb ihre Reaktionen auf die Zumutungen des Lebens.
  In diesem letzten Punkt unterscheidet sich Aquarium zunächst von seinen Vorgängern. Das familiäre Setting, in dem der Roman seine Hauptfigur präsentiert, ist zwar ebenfalls von existentiellen Nöten geprägt. Die alleinerziehende Sheri Thompson freilich tut alles, um ihre Tochter die Härten, die den Alltag der kleinen Familie prägen, nicht spüren zu lassen. Caitlin soll es einmal besser haben - dafür ist die Mutter bereit, den Hauptteil der Entbehrungen, die sie der kleinen Gemeinschaft im tagtäglichen Überlebenskampf auferlegen muss, zu tragen. Erst als die Mutter in das Spannungsfeld zwischen ihrer Tochter und dem alten Mann gerät, ändert sich diese Haltung. Zunächst alarmiert durch die Tatsache, dass ein Fremder die Atmosphäre des Aquariums zu nutzen scheint, um sich an ein pubertierendes Kind heranzumachen, steht sie am Ende des von ihr herbeigeführten Polizeieinsatzes plötzlich vor dem eigenen Vater und hat sich von nun an einer Vergangenheit zu stellen, mit der sie eigentlich längst abgeschlossen hatte.
  Was dann beginnt, ist ein unerbittlicher Kampf zwischen einem Vater und Großvater, der nichts sehnlicher wünscht, als zu der Familie zurückzukehren, die er einst aus egoistischen Gründen verließ, und einer Tochter, die Rache will für eine Kindheit, die ihr von ihm genommen wurde. Caitlin, die just in dieser Zeit ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit der Freundin Shalini macht, wird dabei zum Opfer, das, hin- und hergerissen zwischen den beiden Parteien, fast an dem Konflikt zerbricht. Dem Autor gibt der lange Mittelteil des Buches freilich die Gelegenheit, eine jener sadistisch geprägten Hassorgien in Szene zu setzen, wie sie all seine bisherigen Bücher prägten. Weil Sheri sich vierzehnjährig um ihre krebskranke Mutter zu kümmern hatte, nachdem der Vater die Familie über Nacht verließ, spielt sie Caitlin nun selbst die Sieche, Ans-Bett-Gefesselte vor, um sie spüren zu lassen, was der Mann, der als liebevoller Großvater um die Enkelin wirbt, seiner Tochter einst antat.
  Aquarium ist ein Roman, der von der amerikanischen Kritik als eine Art Wendepunkt in Vanns Werk wahrgenommen wurde und den auch der hiesige Verlag des Autors als „zutiefst versöhnlich“ anpreist, weil in ihm erstmalig so etwas wie Vergebung möglich werde. Das ist einerseits richtig, denn am Ende des Buches kommt es tatsächlich zu einer Art Versöhnung zwischen den Parteien. Um die erzählerisch zu bewerkstelligen, ist David Vann allerdings gezwungen, Sheris alten Vater als einen bis zur Selbstaufgabe geläuterten Menschen vorzuführen, was nicht so ganz zum sonstigen Bild des Mannes passen will.
  Wenn die Familie – Großvater, Mutter, Freund der Mutter und Tochter – gar am Ende des Buches unter dem Dach des alten Mannes eine neue, gemeinsame Heimat findet, zusammen zum Weihnachtsbaumfällen aufbricht und beginnt, sich neu aufbrechenden Konflikten gemeinsam zu stellen, erscheint für den Leser das Bild eines kleinbürgerlichen Idylls am Horizont, das Vann gewiss so nicht beabsichtigt hat. Man darf deshalb durchaus gespannt sein auf das nächste Werk eines Autors, der entschlossen thematisches Neuland zu betreten sucht, den ganz festen Stand jedoch noch nicht gefunden hat.
Dietmar Jacobsen   21.08.2016    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen