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Joachim Zelter
Der Ministerpräsident
Politik hat kein Zuhause
Joachim Zelters scharfsinnige Satire Der Ministerpräsident fragt nach Moral und Anstand hinter den Kulissen der Macht.
Kritik |
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Joachim Zelter
Der Ministerpräsident
Roman
Klöpfer & Meyer 2010
188 Seiten | 18,90 Euro
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Nein, natürlich geht es nicht um die bekannte Geschichte, in der ein Thüringer Ex-Ministerpräsident im Winter 2009 die Hauptrolle spielte. Auch wenn gewisse Parallelen nicht von der Hand zu weisen sind und Joachim Zelter gelegentlich durchblicken ließ, dass die Ereignisse rund um den Skiunfall von Dieter Althaus durchaus ihren Teil zu seiner schriftstellerischen Inspiration beigetragen hätten. Aber gleich ein ganzer Althaus-Roman, vielleicht gar noch „auf Tatsachen beruhend“? Das wäre denn doch ein bisschen wenig für einen ambitionierten Autor wie Zelter.
Der Ministerpräsident erinnert deshalb nur an den aktuellen Fall eines in die Bredouille geratenen Spitzenpolitikers. Ansonsten darf man dieses Buch wohl über weite Strecken als satirische Auseinandersetzung mit den medialen Inszenierungen verstehen, hinter denen die „Echtheit“ des politischen Mühens in der heutigen Zeit verschwindet. Und in dieser Funktion ist es tatsächlich ein kleines Juwel – wenn schon nicht ganz aus-, so doch zumindest wundervoll weitergedacht.
Was ist passiert? Der Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes – geografisch Modell stand Baden-Württemberg – hat einen Autounfall gehabt. Nach zehntägigem Koma erwacht er wieder in der Klinik Heiligenberg im Hochschwarzwald. Erinnern kann er sich nur teilweise. Sein Name – Dr. Claus Urspring – kommt ihm vor wie aus einem Traum. Seine Frau ist ihm fremd, sein Leben in der Rückschau nicht mehr als ein Labyrinth. Hauptsächlich scheint der Mann aus Lücken zu bestehen: „Namenslücken, Freundeslücken, Familienlücken, Berufslücken, Landschaftslücken, Erinnerungslücken, Wortlücken ...“
Allein die Zeit eilt. Bald schon stehen Landtagswahlen auf der Tagesordnung und Ursprings Parteifreunde wollen verhindern, dass sich ihr Spitzenkandidat bei seinen Veranstaltungen als vergesslicher Trottel outet. Zu stark ist die Opposition um den eloquenten Oskar Saar (!) und auch in den eigenen Reihen melden Konkurrenten ihre Ambitionen an. Deshalb versucht man hinter den Mauern des „traumatologischen Schwerpunktkrankenhauses der Maximalversorgung“ alles, um Urspring wieder auf Kurs zu bekommen. Fliegt man Sprach- und sonstige Trainer ein, fälscht Interviews und bosselt an Homestorys, die auf den „menschlichen Aspekt“ eines mit seiner Vergangenheit ringenden Mannes abheben. Denn schließlich geht es nicht nur um das weitere Schicksal ihres gehandicapten Ministerpräsidenten, sondern auch um die Zukunft all jener, die Tag und Nacht an der Figur gearbeitet haben, die er in der Öffentlichkeit bisher darstellte.
Nur haben der Unfall und die mit ihm verbundene Teilamnesie den Helden dieses Buches eben verändert. Nichts nimmt Claus Urspring plötzlich mehr als gegeben hin. Alles hinterfragt er in beinahe schon kindlicher Manier. Weit weg sind die Phrasen, die er immer gedroschen hat wie ein Automat. Lenken lässt er sich kaum. Über Nacht scheint eine andere Persönlichkeit von ihm Besitz ergriffen zu haben, eine, die stets zuerst das „Warum“ interessiert, ehe sie handelt oder spricht. Die nicht mehr Rollen spielt, sondern auf Authentizität bedacht ist und sich nach und nach von den Fäden befreit, an denen sie wie eine Marionette zappelte. Mit anderen Worten: Der Leser erlebt – sich dabei wunderbar amüsierend – die Menschwerdung eines blutleeren „Vollblutpolitikers“, etwas ganz und gar Absurdes eigentlich, aber auch ein kleines Wunder, das sich freilich für all die, die bisher leichtes Spiel mit dem Mann hatten, eher als Horrorgeschichte herausstellt.
Julius März heißt jener rund um die Uhr gegenwärtige Berater, den die neuen Seiten seines Chefs zunehmend um den Schlaf bringen. Er ist so etwas wie die heimliche Hauptfigur in diesem Roman, ein Königsmacher, dessen Ein und Alles Umfragewerte darstellen. Einer, der seit Jahr und Tag genau die Reden für Urspring schreiben lässt, mit denen der nirgendwo anecken kann: „Nichtssagende Reden. Fehlervermeidungsreden. Aussageverweigerungsreden. Beknieungsreden. Reden ohne irgendeinen erkennbaren Gedanken.“ Und der nun, um seinen Posten zitternd, erleben muss, wie dem Nachplapperer von einst eine ganz neue Sprache zugewachsen ist. Sogar sein Dialekt, so überaus nützlich, wenn es darum ging, Urspring als einen aus dem Volke zu präsentieren, ist über Nacht vollkommen verschwunden. Der Präsident spricht nicht mehr länger Schwäbisch, er spricht Tacheles.
Politik als bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein geregelter Zirkus, als Zauberkunststück, mit dessen Hilfe man aus einem Nichts ein Etwas macht, als Aufschminken alles Äußerlichen, um über die fehlende Substanz hinwegzutäuschen – Zelter hat einen klugen kleinen Roman vorgelegt, der in die Abgründe der Macht hineinleuchtet. Dort sehen die glänzenden Mediengestalten dann regelmäßig ziemlich blass aus. Umso schöner, wenn einer von ihnen mal den Aufstand probt. Wie dieser Claus Urspring, den seine Hintermänner letzten Endes, nur weil er nach seinem Crash so unvorteilhaft humpelt, auf einem Rennrad durch die Säle schicken, in denen er das Wahlvolk hinter sich und seine Partei bringen soll. Eines Tages fährt er einfach weiter, zusammen mit einer Frau, die ihn retten könnte vor der eigenen Vergangenheit. Und fährt und fährt und fährt. Doch Zelter lässt ihn keineswegs entkommen hinter die sieben Berge und in ein neues Glück. Schließlich hat er mit Der Ministerpräsident eine Satire vorgehabt und nicht das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern aufpolieren wollen.
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