Ärgerlich, aber nicht so schlimm, denn Keith, den die meisten Mick nennen – Wie auch sonst? – ist weder auf den Mund gefallen noch geistig zurückgeblieben. Nur ein bisschen träge halt, wenn es ums Reisen geht. Aber vielleicht wäre er sogar nach China gefahren – zusammen mit dem Großvater, wie geplant. Schließlich war es dessen Geburtstagswunsch, den ihm der Lieblingsenkel erfüllen sollte. Doch bis der das verlorene Geld wiederbeschafft, verliert der Achtzigjährige die Geduld und macht sich allein auf die Socken. Statt im Reich der Mitte strandet er allerdings im Westerwald. Von da aus schreibt er noch ein paar seltsame Karten nach Hause – und wenig später ist er tot. Tilman Rammstedt hat im Juni 2008 aus seinem zweiten, damals noch unvollendeten Roman in Klagenfurt vorgelesen und – was alles andere als die Regel ist – Jury und Publikum gleichermaßen überzeugt. Denn er nutzt die eben skizzierte Ausgangssituation, um auf knapp 200 Seiten ein wahres Feuerwerk an Witz, herrlich verschrobenen Ideen und wunderbaren Lügengeschichten abzubrennen. Aus seinem Versteck unterm Schreibtisch heraus schreibt Keith nämlich Briefe an die nichts ahnende Verwandtschaft, Briefe eines Asienreisenden – elf Stück insgesamt. Und das China zwischen Peking (Brief vom 15. Mai) und der Gegend von Fenghuang (Brief vom 25. Mai), von wo er sich zuletzt mit der Nachricht verabschiedet, noch ein wenig bleiben zu wollen, gerät ihm darin zu einem Fantasie- und Traumland, angesichts dessen man auf die fernöstliche Realität nur allzu gern Verzicht leistet. Von illegalen Heuschreckenkämpfen in Hotelhinterzimmern erfährt man da, Städten mit merkwürdigen Apostrophen im Namen, auffallend vielen Sendungen über Mundhygiene im chinesischen Fernsehen und schließlich und endlich auch von der alten Geschichte des Großvaters mit Lian, der stärksten Frau der Welt und seiner einzigen großen Liebe. In letzterer versteckt der Enkel den Kern der Chinasehnsucht des Alten. Nicht wiederfinden freilich will der die vor langer Zeit Verlorene, sondern nur überprüfen, ob das ferne und fremde Land ihn an sie zu erinnern vermag. Und das tut es natürlich, wenn man es durch die Augen des Erzählers betrachtet! Freilich ist da auch Ernst jenseits all des Heiter-Fantastischen, das den Roman vordergründig beherrscht und dafür sorgt, dass man ihn nur ungern aus der Hand legt, bevor man seine allerletzte Seite erreicht hat. Denn nicht verbergen kann der Enkel hinter den erflunkerten Abenteuern, dass sie auch erfunden werden, um eine Distanz zu überbrücken. Allzuwenig weiß die Verwandtschaft nämlich vom wahren Leben des Ahns. Und wenn Keith aus heiterem Himmel mit dessen Tod konfrontiert wird, fällt ihm zunächst nichts Besseres ein, als dem nun endgültig Verschwundenen eine Postkarte nachzusenden mit dem kargen Text „Lieber Großvater, du bist tot. Viele Grüße, Keith“. Dann aber zwingen ihn die Ereignisse zur Simulation der Reise und je mehr er seiner Fantasie dabei die Zügel schießen lässt, umso plastischer wird das Bild eines Menschen, der alle Liebe und Aufmerksamkeit der Erde verdient hat, von den eigenen Angehörigen aber so wenig davon bekommt, dass er sein Leben lang immer wieder bei jungen Frauen Zuflucht sucht. So wird die bezaubernde und berührende Geschichte der Zuneigung des Alten zur schwergewichtigen chinesischen Zirkusartistin Lian, deren Traum, trotz ihres Gewichtes eines Tages federleicht zu werden und über ein aufgespanntes Seil gehen zu können, fast Wirklichkeit wird, zur nachträglichen Liebeserklärung des Enkels. Sie spinnt den Großvater in eine unvergessliche Erzählung ein, aus der er am Ende so lebendig entkommt, als hätte der Tod alle Macht über ihn verloren.
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Dietmar Jacobsen
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