Man muss schon lange suchen, um einen ähnlich brillanten Romananfang in der neueren deutschen Literatur zu finden, und der Fortgang der Geschichte will einen denn auch erst einmal leicht enttäuschen. Mit Hermann Kurz nämlich betritt jemand die Szene, bei dem es sich um einen Dresdner Ornithologen im Ruhestand handelt, einen exzellenten Kenner und brauchbaren Präparator, doch kein Genie, beileibe nicht. Eher etwas behäbig-vorsichtig im Umgang, nicht unbedingt sprühend vor Energie und sparsam mit Wort und Witz. Zum Glück lässt ihn Beyer nicht lange allein, sondern gibt ihm – als Katalysator sozusagen – eine junge Dolmetscherin an die Seite, die sich rein berufsmäßig Kenntnisse zur heimischen Vogelwelt aneignen muss. Und während Kurz ihr mit den Standpräparaten der ornithologischen Sammlung seines Museums behilflich zu sein hofft, nimmt die Vergangenheit in ihren Gesprächen einen immer größeren Raum ein. Kurz und Kaltenburg – eine Bekanntschaft, die in den frühen 40er Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt, da lehrt Kaltenburg bereits in Königsberg und Kurz lebt mit seinen Eltern in Posen, sich dann in den frühen Jahren der DDR intensiviert zum Lehrer-Schüler-Verhältnis und sich, nachdem Kaltenburg aufgrund von Repressalien die DDR verlassen hat, in einem sporadischen Briefwechsel bis zu Kaltenburgs Tod fortsetzt. Meisterhaft baut Beyer diese Beinahe-Freundschaft auf, zeigt, wie der Zoologe schon das Kind fasziniert und mit seiner Präsenz das Bild des Vaters, eines Botanikers, noch zu dessen Lebzeiten verblassen lässt. Schildert danach das Wiedersehen in Dresden – Hermann Kurz' Eltern sind in der Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 umgekommen, in Kaltenburg findet der bei Zieheltern Lebende nun wirklich einen Vaterersatz, der ihm Vorbild und Lehrmeister zugleich wird. Und folgt behutsam in die Verwerfungen dieser Beziehung, welche ihren ersten Höhepunkt in einer Kindheitserinnerung haben, die einen furchtbaren Streit zwischen dem Vater und Kaltenburg im Gedächtnis bewahrt, dessen Ursachen sich später freilich nicht mehr so deutlich erschließen wollen. Geschichte im Roman: So beiläufig – zwischen und hinter den Zeilen und Sätzen die Geschicke der Agierenden lenkend – begegnet sie einem selten. Scheinbar kann sich der Einzelne, wenn er nur genug Kraft und Leidenschaft für das, was er als seine eigene Aufgabe in der Welt begreift, aufbringt, ihr weitgehend entziehen. Fast autark arbeitet das Dresdner Institut Kaltenburgs, offenbar vermag niemand zu rütteln an der Position des höchstes Ansehen genießenden Wissenschaftlers, den man scheinheilig ehrt und privilegiert, um selbst Ehre einzuheimsen. Doch der Chauffeur, den ihm die herrschende Partei samt Limousine spendiert hat, schreibt nachts Berichte an die Staatssicherheit. Ein Kollege ergattert sich auf seine Kosten einen eigenen Lehrstuhl. Gerüchte von bevorstehenden politischen Säuberungen säen allseits Misstrauen und eines Tages steht der Professor ohnmächtig vor den Kadavern seiner von unbekannter Hand vergifteten Dohlen. Urformen der Angst heißt folgerichtig das Buch, das Kaltenburg nach dem Verlassen des östlichen Deutschlands schreibt. Er eckt nicht nur bei seinen Fachkollegen an, wenn er darin den engen Raum der zoologischen Beobachtung und Erforschung verlässt und auf das Verhältnis von Mensch und Tier in Extremsituationen eingeht. Doch die eigenen Erlebnisse – Verfehlungen eingeschlossen – suchen ein Ventil. Kaltenburg weiß, wie Angst sich anfühlt und wie Angst zu einem machtstabilisierenden Faktor werden kann. Eine der gelungensten Szenen des Romans spielt deshalb auch nach Stalins Tod und feiert die Erlösung von dessen wachsamen Blick. Allein das Aufatmen, als die alles durchdringenden Augen unter den buschigen Brauen sich für immer geschlossen hatten, währt nicht ewig, denn das gesellschaftliche System, für welches Stalin stand, wird ihn noch mehrere Jahrzehnte lang überleben. Kaltenburg ist ein Roman der feinen Zwischentöne. Er ist nicht chronologisch angelegt, sondern folgt den – von unterschiedlichen Dingen und Personen ausgelösten – Erinnerungsschüben seines Erzählers. So setzen sich konkrete Umrisse der Figuren erst allmählich zusammen. Und was zu Beginn noch rätselhaft erschien, erfährt plötzlich – aus anderer, späterer Perspektive – eine Deutung, die inzwischen gewonnene Gewissheiten schnell wieder in Frage stellt. Die bedingungslose Verehrung, die der Erzähler Kurz vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an für Ludwig Kaltenburg empfindet, weicht deshalb auch schließlich einem Bild des großen Wissenschaftlers, das dessen Schwächen und Verfehlungen nicht ausklammert. Alle wesentlichen Figuren des Romans sind übrigens nach historischen Vorbildern geformt. So erkennt man in dem Künstler Martin Spengler schnell Joseph Beuys. Der Tierfilmer Knut Sieverding trägt wesentliche Züge von Heinz Sielmann. Und Ludwig Kaltenburg schließlich ist zu Beginn des Romans ein mehr oder minder stimmiges Abbild des Verhaltensforschers Konrad Lorenz. Der aber hat nie in Dresden gelebt, sondern nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft zunächst sein „Institut für vergleichende Verhaltensforschung“ in Altenberg bei Wien gegründet und anschließend Professuren in Münster und München sowie an verschiedenen Max-Planck-Instituten und dem nach ihm benannten Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften innegehabt. Dass seine Biografie bis 1945 zahlreiche dunkle Stellen aufwies, etwa seine Beteiligung an erbbiologischen Studien in Polen oder das von ihm offen propagierte biologistische Gesellschaftsverständnis, welches durchaus ideologisch kompatibel mit der NS-Rassentheorie war, nutzt Beyer hinwiederum zur Charakterisierung seiner Kunstfigur. Von einem Schlüsselroman kann dennoch nicht die Rede sein, zumindest nicht im klassischen Sinn. Auf eine andere, umfassendere Art und Weise öffnet das Buch aber dennoch unsere Augen für die jüngere und jüngste Geschichte. Was es erzählt, ist nicht vollständig beglaubigt durch das dokumentierte Erleben Einzelner, sondern seine Figuren vereinen auf sich die Züge vieler Zeitgenossen und fungieren damit als künstlerische Archetypen des Jahrhunderts der Ideologien.
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Dietmar Jacobsen
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