|
|
Michael Köhlmeier
Die Abenteuer des Joel Spazierer
Ein Amoklauf durchs 20. Jahrhundert
In seinem neuen großen Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer erzählt Michael Köhlmeier die letzten 60 Jahre als Schelmenroman
Kritik |
|
|
|
Michael Köhlmeier
Die Abenteuer des Joel Spazierer
Roman
München: Carl Hanser Verlag 2013
655 Seiten, 24,90 Euro
ISBN 978-3-446-24178-7
|
„Ein Mann kommt in eine Bank, hält der Frau am Schalter die Pistole an die Stirn und sagt: Keine Angst, das ist kein Überfall, das ist nur ein Amoklauf.“ Seine Bierkumpane hätten ihm zu diesem Einstieg in seine Lebensgeschichte geraten, behauptet der Ich-Erzähler von Michael Köhlmeiers neuem großen Roman Die Abenteuer des Joel Spazierer gleich zu Beginn des Buches. Sein Freund allerdings, der Schriftsteller Sebastian Lukasser – Köhlmeier-Lesern als Alter ego des Autors aus Romanen wie Abendland (2007) und Madalyn (2010) längst bekannt – gehe ein wenig professioneller an die Sache heran und plädiere deshalb für eine literarische Anspielung zu Beginn.
Mit einer solchen setzt der Roman dann auch ein. „Meine Geschichte beginnt in einer Zeit, von der viele glaubten, es sei die letzte“ variiert leicht erkennbar Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens ersten Satz aus Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch (1668/69). Der berühmte barocke Schelmenroman des Gelnhauseners, sich orientierend an spanischen und französischen Werken der Epoche, gibt denn auch die literarische Richtung vor, in der sich Köhlmeiers Text bewegt. Etwas von einem Amoklauf – wie er im eingangs zitierten Witz der Wiener Trinkbrüder des Erzählers aufschien – hat das Buch trotzdem. Denn es kommt daher als wilder Ritt durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als tour de force von Ost nach West und wieder zurück, hin und her in der Zeit und ständig im Leser die Frage provozierend, wo denn hier nun die historische Wahrheit und wo die raffinierten Erfindungen des passionierten Lügners Joel Spazierer zu finden seien.
András Fülöp heißt Michael Köhlmeiers Held am Anfang des Romans, gegen Schluss ist aus ihm der Honecker-Intimus und Professor für „wissenschaftlichen Atheismus“ an der Berliner Humboldt-Universität Ernst-Thälmann Koch geworden. Dazwischen schlägt er sich unter verschiedenen Identitäten in halb Europa herum, wurstelt sich als Strichjunge und Erpresser durch das Wien der 60er Jahre, wird später zum mehrfachen Mörder und langjährigen Gefängnisinsassen, macht vielfache Erfahrungen auf erotischem Gebiet und spiegelt in seinem Lebenslauf immer wieder eine Zeit, in der es unversöhnlich herging zwischen den kursierenden Ideologien, Gut und Böse nicht so leicht auseinanderzuhalten waren, ein chamäleonhaft geschickt sich anpassender Mensch aber immer wieder den ideologischen Fallstricken entkommen und seine Beine unter den Tischen höchst verschiedener Herren ausstrecken konnte.
Michael Köhlmeiers Roman verlangt seinen Lesern einiges ab. Gerade weil er nicht chronologisch aufgebaut ist und eine Fülle von Nebenfiguren und -handlungen integriert, strengt die Lektüre zuweilen an, da man gern alle Ereignisse und Personen in diesem überreich ausgestatteten literarischen Kosmos im Gedächtnis behalten möchte, das aber einfach nicht möglich ist. Freilich verteidigt das Buch seine Poetologie über die mehrmals auftauchende Figur des Schriftstellers Lukasser, der als Kindheitsfreund und literarischer Ratgeber des Ich-Erzählers fungiert. „Es sei durchaus erlaubt abzuschweifen; ein Buch sei ein mäandernder Fluss und kein Kanal ...“, heißt es da etwa, und von dieser Lizenz aus berufenem Munde macht der Erzähler dann auch reichlich Gebrauch.
Seine ganze narrative „Unordnung“, das ständige Abschweifen, Vor- und Zurückgreifen, Changieren zwischen Lüge und Wahrheit präsentiert das Buch allerdings in einer Form, die sich, wie ein Korsett, um Erzählmengen presst, die ohne diese Stütze in alle Richtungen davonströmen würden. In drei Teile mit je 4 Kapiteln, von denen jedes noch einmal exakt zehn Unterkapitel hat, ist der Roman unterteilt. Eine Ausnahme macht dabei nur das Kapitel 12, welches den Helden in vier Zeilen literarisch anspielungsreich hinter dem Horizont verschwinden lässt.
Aber mit welcher Art von Mensch hat man es nun eigentlich zu tun bei diesem Joel Spazierer, dem ein Mord genauso beiläufig und ungeplant passiert wie er sich später bemüht, ganz nach den Worten eines Wiener Freundes zu leben, welche lauten: „Der Mensch ist dazu da, um für einen anderen Sorge zu tragen. Nur für einen. Nicht für eine ganze Kirche oder die ganze Christenheit oder alle Menschen. Wir sind nicht Jesus ... Wir sind du und ich. Kleine Scheißer.“
Als prägend für sein ganzes Leben empfindet Köhlmeiers Held die fünf Tage, die er als Vierjähriger allein in der Budapester Wohnung seiner Großeltern, zweier Intellektueller, verbringen musste, während diese – man schrieb das Jahr 1953 – vom ungarischen Geheimdienst abgeholt, verhört und gefoltert wurden. In dieser kurzen Zeit bekommt das Kind einen Begriff von sich und der Welt und erkennt sich zum ersten Mal selbst im Spiegel des Badezimmers. In seinen Träumen begegnen ihm Tiere, die ihn fortan begleiten und beschützen. Schnell wird ihm freilich klar, dass man mit Lügen besser durch die Welt kommt als mit der Wahrheit. Seine eigenen Verwandten machen es ihm vor, wenn sie im Herbst 1953 nach Österreich flüchten und die Chance nutzen, neue Identitäten anzunehmen.
In seiner Zeit in Wien baut der sich nun András Šrámek nennende Held seine Fähigkeit aus, sich beliebige Biografiedetails, die ihm bei anderen Menschen begegnen, anzuverwandeln. So ist er hier und in Zukunft eigentlich nie greifbar, sondern stets in der Lage, sich an wandelnde Umstände im Äußeren nahtlos anzupassen. Zugute kommen ihm bei seinen ständigen Persönlichkeitsveränderungen sein Vertrauen einflößendes Äußeres und die Fähigkeit, alles ihm Begegnende, so unterschiedlich es auch sein mag, zu einem Teil von sich selbst zu machen.
Ihren Höhepunkt erreicht diese chamäleonhafte Verwandlungsfähigkeit – oder anders ausgedrückt: sein Geschick, sich an wechselnde Verhältnisse immer wieder so geschickt wie gewinnbringend heranzulügen – in der rasanten DDR-Karriere des „Thälmann-Enkels“ Koch, in dem die sozialistische Nomenklatura ihr eigenes verlogenes Erbeverständnis feiern kann. Wenn er deshalb bei Sonnenuntergängen in der berühmt- berüchtigten Wandlitzer Siedlung der DDR-Nomenklatura an der Seite von Margot und Erich Honecker die Geschichte des Moskauer Fehltritts des im östlichen Deutschland ikonenhaft verehrten Hamburger Arbeiterführers zum Besten gibt, tut er im Grunde nichts anderes, als was seine Gastgeber in weitaus größerem Stil in und mit ihrem kleinen Lande tun: es zum legitimen Nachfolger aller fortschrittlich-revolutionären Tendenzen und ihrer sämtlichen Vertreter in der Weltgeschichte erklären.
Die Abenteuer des Joel Spazierer setzt in einem anderen Erzählton fort, was Michael Köhlmeier mit Abendland begonnen hat. So wie dessen Held, Carl Jacob Candoris, seine reiche Biografie dem Aufnahmegerät seines Patenkindes Sebastian Lukasser anvertraut, lässt sich der um Jahrzehnte jüngere Spazierer von eben diesem Lukasser, seinem Freund aus frühen Tagen, literarisch beraten. Diese Konstellation gibt Köhlmeier die Gelegenheit, sein Alter ego, das in Abendland als Erzähler Dienst tat und neben Candoris praktisch zur zweiten Hauptfigur des Romans geriet, weitgehend aus der Schusslinie zu nehmen und sich damit auch, weil Köhlmeier-Leser Lukassers Biografie ja bereits aus dem Vorgängerroman kennt, vor Wiederholungen zu schützen.
|
|
|
|
|