Nun, in Natascha Wodins neuem Roman, ihrem ersten seit 12 Jahren, erhält man die Gelegenheit, die gleiche Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu lesen. Aus Edda ist die in Wodins Nachtgeschwister namenlos bleibende Ich-Erzählerin geworden, aus C. der Dichter Jakob Stumm. Keine Frage: Die Autorin hat ihre eigenen Erlebnisse als Romangrundlage benutzt, beginnend beim ersten Zusammentreffen mit Hilbig nach dessen Ausreise in den Westen Mitte der 80er Jahre und nicht endend mit dem Scheitern ihrer kurzen Ehe knapp zwei Jahrzehnte später. Es ist der ungeschminkte Bericht über eine unheilvolle Verstrickung, der dem Leser hier als Roman vorgelegt wird, die Geschichte eines beide Seiten marternden Verhältnisses, aus dem der vollständige Ausbruch nie gelingen will. Dass dieses Buch erst nach Hilbigs Tod geschrieben und veröffentlicht werden konnte, begreift man ziemlich schnell. Man ahnt aber auch, je tiefer uns Natascha Wodin Einblick nehmen lässt in die Innenwelten ihrer beiden Protagonisten, dass sich hier jemand freizuschreiben sucht, sich den Weg zu einer Sprache zurückbahnt, um die er sich durch den anderen gebracht sah. Euphorie aber ist zunächst das beherrschende Gefühl. Einer Frau, die sich als Außenseiterin sieht, Kind ukrainischer Zwangsarbeiter, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik geblieben sind, und unter dieser „negativen Besonderheit“ stets leidend, fällt durch Zufall der Gedichtband eines ihr völlig unbekannten Autors aus dem anderen Teil Deutschlands in die Hände. Von der ersten Seite an ist sie fasziniert, findet nicht mehr heraus aus der Gedankenwelt jenes Jakob Stumm. Sein Porträt auf der Rückseite des schmalen Bändchens zeugt für sie sowohl von der Unnahbarkeit und In-sich- Doch als sie sich das erste Mal gegenüberstehen – vom Nürnberger Bahnhof nimmt die Erzählerin den Fremden mit zu sich nach Hause und es beginnt eine obsessive Liebesgeschichte –, ist bereits klar, dass der Mann all jene auf ihn projizierten Erlösungsfantasien nicht wird erfüllen können. Selbst in der Seele verletzt, tief in sich zurückgezogen und vollständig unfähig, sich anderen Menschen und deren Alltag anzupassen, gibt er Natascha Wodins Erzählerin alles andere als den erhofften Halt. Alkoholexzesse, Eifersuchtsanfälle und Gewaltausbrüche dominieren bald die Beziehung. Mal leben die beiden, die nicht voneinander lassen können, auch wenn die Liebe immer häufiger in blinden Hass umschlägt, zusammen, dann wieder getrennt. Nachtgeschwister wirft einen tiefen Blick hinein in jene Hölle, die sich zwei Menschen gegenseitig bereiten können, die übersehen, wie ähnlich sie sich sind, und wechselseitig voneinander Errettung erwarten. Der Roman verschweigt nichts und weckt in seinem Leser mehr als einmal den Wunsch, sich abzuwenden von einer Intimität, in die Einblick zu nehmen ihm fast frevelhaft erscheint. Und dennoch ist dieses Buch faszinierend und lässt nicht los. Nicht am Anfang, wenn seine Heldin in den Bannkreis Jakob Stumms gerät und alles unternimmt, in das Leben dieses in einer anderen, ihr völlig fremden Welt existierenden Mannes hineinzukommen, eine Rolle für ihn zu spielen, damit er eine Rolle für sie spielen kann. Nicht dann, wenn die Protagonistin sämtliche Sicherheiten, über die sie verfügt, aufgibt einem Wahn zuliebe. Und nicht am Ende, wenn es ihr endlich gelungen ist, Distanz herzustellen zu einem, der, weil er die Welt, wie sie ist, nicht zu zerstören vermag, sich selbst zerstört und jene, die ihn lieben. Wie Das Provisorium ist auch Nachtgeschwister ein Roman, der seine Geschichte vor dem Hintergrund von Wende und Wiedervereinigung erzählt. Wenn Wodins Heldin und ihr Dichter am Ende nach Berlin gehen, dort eine Zweckehe schließen – die ein paar Jahre später wieder getrennt wird – und ihre Tage und Nächte in zwei unweit voneinander entfernt liegenden Wohnungen verbringen, wird ganz nebenbei eine Menge von jener Atmosphäre eingefangen, die die frühen 90er Jahre für viele so erscheinen ließen, als wäre es möglich, in der vergessenen Welt des Ostens noch einmal ganz von vorn anzufangen. Alles scheint neu für eine gewisse Zeit und über die Leichtigkeit des Lebensgefühls in ihrer neuen Umgebung wächst der Protagonistin des Romans auch die Kraft zu, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Vom Tod Jakob Stumms erfährt sie schließlich aus den Medien. Ihr Kommentar lautet: „Vielleicht, so dachte ich, hatte er den Untergang der DDR nicht überlebt.“
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Dietmar Jacobsen
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